1. Der Vogel Rokh und die Wachtel

[29] Im baumlosen Norden ist ein abgrundtiefes Meer: der Himmelssee. Dort lebt ein Fisch, der ist wohl tausend Meilen breit, und niemand weiß, wie lang er ist. Er heißt Leviathan.[29] Dort ist auch ein Vogel. Er heißt der Rokh. Sein Rücken gleicht dem Großen Berge; seine Flügel gleichen vom Himmel herabhängenden Wolken. Im Wirbelsturm steigt er kreisend empor, viel tausend Meilen weit bis dahin, wo Wolken und Luft zu Ende sind und er nur noch den schwarzblauen Himmel über sich hat. Dann macht er sich auf nach Süden und fliegt nach dem südlichen Ozean.

Eine flatternde Wachtel verlachte ihn und sprach: »Wo will der hinaus? Ich schwirre empor und durchstreiche kaum ein paar Klafter, dann laß ich mich wieder hinab. Wenn man so im Dickicht umherflattert, so ist das schon die höchste Leistung im Fliegen. Aber wo will der hinaus?«

Das ist der Streit zwischen groß und klein. Da ist wohl einer, dessen Wissen ausreicht, um Ein bestimmtes Amt zu versehen, der durch seinen Wandel Eine bestimmte Gegend zusammenhalten kann, dessen Geistesgaben für Einen bestimmten Herrn passen, um in Einem bestimmten Land Erfolg zu erzielen. Der wird sich selber ebenso vorkommen wie diese Wachtel.

Aber Meister Ehrenpracht hinwiederum hat sich über diese Leute lustig gemacht. Wenn die ganze Welt ihn lobte, so ließ er sich nicht davon beeinflussen; wenn die ganze Welt ihm Unrecht gab, so ließ er sich nicht dadurch beirren. Er war ganz sicher über den Unterschied des Inneren und Äußeren und vermochte klar zu unterscheiden die Grenzen (zwischen dem, was wirklich als) Ehre und (dem, was wirklich als) Schande (zu betrachten ist). Aber dabei blieb er stehen. Wohl war er der Welt gegenüber unabhängig, aber es fehlte ihm doch noch die Kraft der Beständigkeit.

Da war ferner Liä Dsï, der sich vom Winde treiben lassen konnte mit großartiger Überlegenheit. Nach fünfzehn Tagen erst kehrte er zurück. Er war dem Streben nach dem Glück gegenüber vollständig unabhängig; aber obwohl er nicht auf seine Beine angewiesen war, war er doch noch von Dingen außer ihm abhängig. Wer es aber versteht, das innerste Wesen der Natur sich zu eigen zu machen und sich treiben zu lassen von dem Wandel der Urkräfte, um dort zu wandern, wo es keine Grenzen gibt, der ist von keinem Außending mehr abhängig.[30]

So heißt es: der höchste Mensch ist frei vom Ich; der geistige Mensch ist frei von Werken; der berufene Heilige ist frei vom Namen.

Quelle:
Dschuang Dsï: Das wahre Buch vom südlichen Blütenland. Düsseldorf/Köln 1972, S. 29-31.
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