§ 5. Das Parlament als Staatsorgan und das Problem der Verwaltungsöffentlichkeit. Die Aufgabe der Führerauslese.

[851] Die modernen Parlamente sind in erster Linie Vertretungen der durch die Mittel der Bürokratie Beherrschten. Ein gewisses Minimum von innerer Zustimmung – mindestens der sozial gewichtigen Schichten – der Beherrschten ist Vorbedingung der Dauer einer jeden, auch der bestorganisierten, Herrschaft. Die Parlamente sind heute das Mittel, dieses Minimum von Zustimmung äußerlich zu manifestieren. Für gewisse Akte der öffentlichen Gewalten ist die Form der Vereinbarung durch Gesetz nach vorheriger Beratung mit dem Parlament obligatorisch, und zu diesen gehört vor allem: der Haushaltsplan. Heute wie seit der Zeit der Entstehung der Ständerechte ist die Verfügung über die Art der Geldbeschaffung des Staates: das Budgetrecht, das entscheidende parlamentarische Machtmittel. Solange freilich ein Parlament nur durch Verweigerung von Geldmitteln und Ablehnung der Zustimmung zu Gesetzesvorschlägen oder durch unmaßgebliche Anträge den Beschwerden der Bevölkerung gegenüber der Verwaltung Nachdruck verleihen kann, ist es von positiver Anteilnahme an der politischen Leitung ausgeschlossen. Es kann und wird dann nur »negative Politik« treiben, d.h. den Verwaltungsleitern wie eine feindliche Macht gegenüberstehen, von ihnen als solche mit dem unentbehrlichen Minimum von Auskunft abgespeist und nur als Hemmschuh gewertet werden. Die Bürokratie andererseits gilt dann dem Parlament und seinen Wählern leicht als eine Kaste von Strebern und Bütteln, denen das Volk als Objekt ihrer lästigen und zum guten Teil überflüssigen Künste gegenübersteht. Anders, wo das Parlament durchgesetzt hat, daß die Verwaltungsleiter entweder geradezu aus seiner Mitte entnommen werden müssen (»parlamentarisches System« im eigentlichen Sinn) oder doch, um im Amt zu bleiben, des ausdrücklich ausgesprochenen Vertrauens seiner Mehrheit bedürfen oder wenigstens der Bekundung des Mißtrauens weichen müssen (parlamentarische Auslese der Führer) und aus diesem Grunde, erschöpfend und unter Nachprüfung des Parlaments oder seiner Ausschüsse, Rede und Antwort stehen (parlamentarische Verantwortlichkeit der Führer) und die Verwaltung nach den vom Parlament gebilligten Richtlinien führen müssen (parlamentarische Verwaltungskontrolle). In diesem Fall sind die Führer der jeweils ausschlaggebenden Parteien des Parlaments notwendig positive Mitträger der Staatsgewalt. Das Parlament ist dann ein Faktor positiver Politik neben dem Monarchen, der dann nicht oder wenigstens nicht vorwiegend, jedenfalls nicht ausschließlich, kraft seiner formalen Kronrechte, sondern kraft seines unter allen Umständen sehr großen Einflusses die Politik mitbestimmt, verschieden stark also je nach seiner politischen Klugheit und Zielbewußtheit. In diesem Fall spricht man, einerlei ob mit Recht oder Unrecht, vom »Volksstaat«, während ein Parlament der Beherrschten mit negativer Politik gegenüber einer herrschenden Bürokratie eine Spielart des »Obrigkeitsstaats« darstellt. Uns interessiert hier die praktische Bedeutung der Stellung des Parlaments.[851]

Man mag den parlamentarischen Betrieb hassen oder lieben, – beseitigen wird man ihn nicht. Man kann ihn nur politisch machtlos machen, wie Bismarck es mit dem Reichstag getan hat. Die Machtlosigkeit des Parlaments aber äußert sich außer in den allgemeinen Konsequenzen der »negativen Politik« in folgenden Erscheinungen. Jeder parlamentarische Kampf ist selbstverständlich ein Kampf nicht nur um sachliche Gegensätze, sondern ebenso: um persönliche Macht, Wo die Machtstellung des Parlaments es mit sich bringt, daß der Monarch in aller Regel den Vertrauensmann der entschiedenen Mehrheit mit der Leitung der Politik betraut, richtet sich dieser Machtkampf der Parteien auf die Erlangung dieser höchsten politischen Stellung. Es sind dann die Leute mit großem politischen Machtinstinkt und mit den ausgeprägten politischen Führerqualitäten, welche ihn durchfechten und welche also die Chance haben, in die leitenden Stellungen zu kommen. Denn die Existenz der Partei im Lande und alle die zahllosen ideellen und zum Teil sehr materiellen Interessen, welche damit verknüpft sind, erheischen dann gebieterisch, daß eine mit Führereigenschaften ausgestattete Persönlichkeit an die Spitze kommt. Es besteht dann, und nur dann, der Anreiz für die politischen Temperamente und politischen Begabungen, sich der Auslese dieses Konkurrenzkampfes zu unterziehen.

Ganz anders, wenn unter der Bezeichnung »monarchische Regierung« die Besetzung der höchsten Stellen im Staate Gegenstand des Beamtenavancements oder höfischer Zufallsbekanntschaften ist, und wenn ein machtloses Parlament diese Art der Zusammensetzung der Regierung über sich ergehen lassen muß. Auch dann wirkt sich natürlich innerhalb des parlamentarischen Kampfes neben den sachlichen Gegensätzen der persönliche Machtehrgeiz aus. Aber in ganz anderen, subalternen, Formen und Richtungen. In der Richtung, welche er seit 1890 in Deutschland eingeschlagen hat. Neben der Vertretung von lokalen wirtschaftlichen Privatinteressen einflußreicher Wähler ist dann die kleine, subalterne Patronage ausschließlich der Punkt, um den sich letztlich alles dreht.. Die von den Staatsämtern dauernd ausgeschlossenen Parteien suchen für sich Entschädigung in Gemeinde- oder Krankenkassen-Verwaltungen und treiben, wie früher die Sozialdemokratie, im Parlament eine staatsfeindliche oder staatsfremde Politik. Denn jede Partei erstrebt als solche: Macht, das heißt Anteil an der Verwaltung und also: am Einfluß auf die Ämterbesetzung.. Dies ist die selbstverständliche Folge davon, wenn die Partei (oder Parteikoalition), in deren Hand jeweils tatsächlich die Mehrheitsbildung für oder gegen die Regierung im Parlament liegt, nicht als solche offiziell zur Besetzung des verantwortlichen höchsten politischen Postens berufen wird. Andererseits ermöglicht dieses System Leuten, welche die Qualitäten eines brauchbaren Beamten, aber keinen Hauch staatsmännischer Begabung besitzen, sich so lange in leitenden politischen Stellungen zu behaupten, bis irgendeine Intrige sie zugunsten einer anderen gleichartigen Persönlichkeit von der Bildfläche verschwinden läßt113..

Das Wesen aller Politik ist, wie noch oft zu betonen sein wird: Kampf, Werbung von Bundesgenossen und von freiwilliger Gefolgschaft, – und dazu, sich in dieser schweren Kunst zu üben, bietet die Amtslaufbahn des Obrigkeitsstaates nun einmal keinerlei Gelegenheit. Für Bismarck bot bekanntlich der Frankfurter Bundestag die Schule. Im Heer ist die Schulung eine solche für den Kampf und kann militärische Führer gebären. Für den modernen Politiker aber ist der Kampf im Parlament und für die Partei im Lande die gegebene Palästra, die durch nichts anderes – am wenigsten durch die Konkurrenz um Avancement – gleichwertig zu ersetzen ist. Natürlich nur in einem Parlament und für eine Partei, deren Führer die Macht im Staate erwirbt114..

Wie vollzieht sich nun115 der Gang der Geschäfte im Parlament? Reden, die ein Abgeordneter hält, sind heute keine persönlichen Bekenntnisse mehr, noch viel weniger[852] Versuche, die Gegner umzustimmen. Sondern sie sind amtliche Erklärungen der Partei, welche dem Lande »zum Fenster hinaus« abgegeben werden. Haben Vertreter aller Parteien ein- oder zweimal reihum gesprochen, so wird die Debatte im Reichstag geschlossen. Die Reden werden vorher in der Fraktionssitzung vorgelegt oder doch in allen wesentlichen Punkten dort vereinbart. Ebenso wird dort vorher bestimmt, wer für die Partei zu sprechen hat. Die Parteien haben ihre Spezialexperten für jede Frage, wie die Bürokratie ihre zuständigen Beamten [hat]. Sie haben allerdings auch ihre Drohnen, Paraderedner, die nur zu repräsentativen Zwecken mit Vorsicht verwertbar sind, neben ihren Arbeitsbienen. Wenn auch nicht ausnahmslos, so gilt doch im ganzen der Satz: wer die Arbeit tut, hat den Einfluß. Diese Arbeit aber vollzieht sich hinter den Kulissen, in den Kommissions- und Fraktionssitzungen, bei den wirklich scharf arbeitenden Mitgliedern aber vor allem: in ihren Privatbüros116.

Bis in die kleinsten Einzelheiten der Geschäftsordnung und der Konventionen des Reichstags und der Parteien sprach sich117 die Einstellung auf bloß negative Politik aus. Es sind nicht wenige Fälle bekannt, in welchen innerhalb der Parteien junge Talente mit Führereigenschaften von den alten verdienten Lokal- und Parteigrößen einfach niedergehalten wurden, wie es in jeder Zunft geschieht. Das ist in einem machtlosen Parlament, welches auf negative Politik beschränkt ist, selbstverständlich. Denn dort herrschen die Zunftinstinkte allein. Das könnte sich dagegen eine Partei niemals gestatten, deren Existenz auf die Teilnahme an der Macht und Verantwortung im Staate zugeschnitten wäre, bei der infolgedessen jeder Parteigenosse im Lande draußen wissen würde, daß Sein und Nichtsein der Partei und aller der Interessen, die ihn an sie knüpfen, daran hängt, daß sie sich den Leuten mit Führereigenschaften, über die sie verfügt, unterordnet. Denn nicht die vielköpfige Versammlung des Parlaments als solche kann »regieren« und die Politik »machen«. Davon ist nirgends in der Welt die Rede, auch nicht in England. Die ganze breite Masse der Deputierten fungiert nur als Gefolgschaft für den oder die wenigen »leader«, welche das Kabinett bilden, und gehorcht ihnen blind, solange sie Erfolg haben. Stets beherrscht das »Prinzip der kleinen Zahl«, d.h. die überlegene politische Manövrierfähigkeit kleiner führender Gruppen, das politische Handeln. Dieser »cäsaristische« Einschlag ist (in Massenstaaten) unausrottbar.

Er allein gewährleistet es aber auch, daß auf bestimmten Persönlichkeiten der Öffentlichkeit gegenüber die Verantwortlichkeit ruht, die sich innerhalb einer vielköpfig regierenden Versammlung ganz verflüchtigen würde. Gerade in der eigentlichen Demokratie zeigt sich das. Durch Volkswahl ins Amt berufene Beamte bewähren sich nach den bisherigen Erfahrungen in zwei Fällen. Einerseits im lokalen Kantonalverband, wo man sich bei stabiler Bevölkerung gegenseitig persönlich kennt, also die Bewährung innerhalb der Nachbarschaftsgemeinschaft die Wahlen bestimmen kann. Andererseits, mit erheblichen Vorbehalten, bei der Wahl des höchsten politischen Vertrauensmanns einer Nation in einem Massenstaat. Selten der hervorragendste, aber im Durchschnitt doch: geeignete politische Führer gelangen so zu höchsten Macht. Für die ganze Masse der mittleren Beamten, vor allem derjenigen, welche Fachschulung benötigen, versagt dagegen in Massenstaaten das Volkswahlsystem in aller Regel völlig und aus begreiflichen Grün den. In Amerika waren die vom Präsidenten ernannten Richter den vom Volk gewählten turmhoch an Tüchtigkeit und Integrität überlegen. Deshalb, weil in dem jene ernennenden Führer eine immerhin für die Qualität der Beamten verantwortliche Stelle vorhanden war und die herrschende Partei es daher später am eigenen Leibe spürte, wenn gröbliche Mißgriffe begangen wurden. Die Herrschaft des gleichen Wahlrechts in den großen Kommunen hat daher dort immer wieder dahin geführt, daß ein Vertrauensmann der Bürgerschaft durch Volksabstimmung zum Bürgermeister gewählt wurde mit weitgehender Freiheit, sich selbst seinen Verwaltungsapparat zu beschaffen. Nicht minder[853] neigt die englische Parlamentsherrschaft zur Entwicklung solcher cäsaristischen Züge. Der leitende Staatsmann gewinnt dem Parlament gegenüber, aus dem er hervorgeht, eine immer überragendere Stellung.

Die Schwächen, welche der Auslese der führenden Politiker durch Parteiwerbung natürlich ebenso anhaften wie jeder menschlichen Organisation überhaupt, sind von deutschen Literaten der letzten Jahrzehnte bis zum Überdruß breitgetreten worden. Daß auch die parlamentarische Parteiherrschaft dem Einzelnen zumutet und zumuten muß, sich Führern zu fügen, die er oft nur als das »kleinere Übel« akzeptieren kann, ist selbstverständlich. Aber der Obrigkeitsstaat läßt ihm 1. gar keine Wahl und gibt ihm 2. statt der Führer vorgesetzte Beamte. Das ist gewiß ein Unterschied..

Die Motive des persönlichen Verhaltens sind innerhalb einer Partei ebensowenig nur idealistisch, wie die üblichen Avancements- und Pfründeninteressen der Konkurrenten in einer Beamtenhierarchie es sind. Um persönliche Interessen des Einzelnen handelt es sich hier wie dort in der Masse der Fälle. Es kommt nur alles darauf an, daß diese überall menschlichen, oft allzu menschlichen, Interessen so wirken, daß dadurch eine Auslese der mit Führerqualitäten begabten Männer wenigstens nicht geradezu verhindert wird. Das aber ist in einer Partei ausschließlich dann möglich, wenn ihren Führern im Falle des Erfolges die Macht und: die Verantwortung im Staate winkt. Es ist nur dann möglich. Aber es ist damit allein allerdings noch nicht gesichert.

Denn nicht ein redendes, sondern nur ein arbeitendes Parlament kann der Boden sein, auf dem nicht bloß demagogische, sondern echt politische Führerqualitäten wachsen und im Wege der Auslese aufsteigen. Ein arbeitendes Parlament aber ist ein solches, welches die Verwaltung fortlaufend mitarbeitend kontrolliert..

Glänzend bewährt hat sich das Beamtentum überall da, wo es an amtlichen, festumschriebenen Aufgaben fachlicher Art sein Pflichtgefühl, seine Sachlichkeit und seine Kraft der Beherrschung organisatorischer Probleme zu beweisen hatte. Aber hier handelt es sich um politische, nicht »dienstliche«, Leistungen, und die Tatsachen selbst rufen die von keinem Wahrheitsliebenden zu verhehlende Erkenntnis in die Welt: gänzlich versagt hat die Beamtenherrschaft da, wo sie mit politischen Fragen befaßt wurde. Das ist kein Zufall. Es wäre umgekehrt erstaunlich, wenn innerlich ganz fremdartige Fähigkeiten innerhalb desselben politischen Gebildes zusammentreffen würden. Es ist, wie gesagt, nicht Sache des Beamten, nach seinen eigenen Überzeugungen mitkämpfend in den politischen Streit einzutreten und, in diesem Sinn, »Politik zu treiben«, die immer: Kampf ist. Sein Stolz ist es im Gegenteil, die Unparteilichkeit zu hüten und also seine eigenen Neigungen und Meinungen überwinden zu können, um gewissenhaft und sinnvoll durchzuführen, was allgemeine Vorschrift oder besondere Anweisung von ihm verlangen, auch und gerade dann, wenn sie seinen eigenen politischen Auffassungen nicht entsprechen. Die Leitung der Beamtenschaft, welche ihr die Aufgaben zuweist, hat dagegen selbstverständlich fortwährend politische: – machtpolitische und kulturpolitische – Probleme zu lösen. Sie darin zu kontrollieren, ist die erste grundlegende Aufgabe des Parlaments. Und nicht nur die den höchstgestellten Zentralinstanzen zugewiesenen Aufgaben, sondern die Art der Instruktion jeder einzelnen, noch so rein technischen Frage in den Unterinstanzen kann politisch wichtig und die Art ihrer Lösung durch politische Gesichtspunkte bestimmt werden. Politiker müssen der Beamtenherrschaft das Gegengewicht geben. Dagegen aber wehrt sich das Machtinteresse der leitenden Instanzen einer reinen Beamtenherrschaft, welche stets der Neigung zu möglichst unkontrollierter Freiheit und vor allem zur Monopolisierung der Ministerstellen für das Beamtenavancement nachgehen werden.

Die Möglichkeit, das Beamtentum wirksam zu kontrollieren, ist an Vorbedingungen geknüpft.

Die Machtstellung aller Beamten ruht, außer auf der arbeitsteiligen Technik der[854] Verwaltung als solcher, auf Wissen, einem Wissen von zweierlei Art. Zuerst: dem durch Fachschulung erworbenen, im weitesten Sinn des Wortes »technischen« Fachwissen. Ob es auch im Parlament vertreten ist oder sich Abgeordnete im Einzelfall privatim bei Spezialisten Auskunft einholen können, ist Zufall und Privatsache. Niemals ersetzt dies für die Verwaltungskontrolle das systematische (eidliche) Kreuzverhör von Sachverständigen vor einer Parlamentskommission unter Zuziehung der betreffenden Ressortbeamten, welches allein Kontrolle und Allseitigkeit der Befragung garantiert. Dem Reichstag118 fehlte das Recht dazu.

Aber das Fachwissen allein begründet nicht die Beamtenmacht. Dazu tritt die durch die Mittel des amtlichen Apparates nur dem Beamten zugängliche Kenntnis der für sein Verhalten maßgebenden konkreten Tatsachen: das Dienstwissen. Nur wer sich diese Tatsachenkenntnis unabhängig vom guten Willen des Beamten beschaffen kann, vermag im Einzelfall die Verwaltung wirksam zu kontrollieren. Je nach den Umständen kommen Akteneinsicht, Augenscheinseinnahme, äußerstenfalls aber wiederum: das eidliche Kreuzverhör der Beteiligten als Zeugen vor einer Parlamentskommission in Betracht. Auch dieses Recht fehlte dem Reichstag.

Aus schlechthin keinen sachlichen Gründen. Sondern ausschließlich deshalb, weil das wichtigste Machtmittel des Beamtentums die Verwandlung des Dienstwissens in ein Geheimwissen durch den Begriff des »Dienstgeheimnisses« bildet: letztlich lediglich ein Mittel, die Verwaltung gegen Kontrolle zu sichern. Während die unteren Staffeln der Amtshierarchie durch die übergeordneten kontrolliert und kritisiert werden, versagte in Deutschland gerade gegenüber den obersten, also den mit der »Politik« befaßten, Stellen alle Kontrolle, technische wie politische, überhaupt. Die Art, wie im Reichstag der parlamentarischen Vertretung gegenüber von seiten der Verwaltungschefs Anfragen und Kritiken beantwortet zu werden pflegten, ist nur möglich, wenn dem Parlament die Mittel versagt sind, sich durch Handhabung des sogenannten »Enquêterechtes« jederzeit jene Kenntnis der Tatsachen und der technischen Fachgesichtspunkte zu verschaffen, welche allein ihm fortlaufende Mitarbeit und Einfluß auf die Richtung der Verwaltung ermöglichen würde. Nicht etwa soll der Reichstag in seinen Kommissionen sich in umfangreiche Studien vertiefen und darüber dicke Bände veröffentlichen: – dafür, daß dies nicht geschieht, sorgt übrigens seine Arbeitslast. Sondern das Enquêterecht ist als gelegentliches Hilfsmittel unentbehrlich und bietet im übrigen eine Rute, deren Vorhandensein die Verwaltungschefs zwingt, in einer Art Rede zu stehen, die seine Anwendung unnötig macht. In dieser Art der Verwertung dieses Rechts liegen die allerbesten Leistungen des englischen Parlaments. Die Integrität des englischen Beamtentums und der hohe Stand der politischen Erziehung des englischen Volkes beruhen wesentlich mit hierauf, und man hat oft betont, daß in der Art, wie die Komiteeverhandlungen von der englischen Presse und deren Leserkreis verfolgt werden, der beste Maßstab für den politischen Reifegrad gegeben ist. Denn dieser äußert sich nicht in Mißtrauensvoten, Ministeranklagen und solchen Spektakelstücken des französisch-italienischen unorganisierten Parlamentarismus, sondern darin, daß eine Nation über die Art der Führung ihrer Geschäfte durch das Beamtentum orientiert ist, sie fortlaufend kontrolliert und beeinflußt. Nur Ausschüsse eines mächtigen Parlaments sind die Stätten und können sie sein, von wo jener erzieherische Einfluß ausgeübt werden kann. Das Beamtentum als solches aber kann dadurch im Endeffekt nur gewinnen. Selten und jedenfalls nicht bei parlamentarisch geschulten Völkern ist das Verhältnis des Publikums zum Beamtentum so verständnislos wie in Deutschland. Die Probleme, mit welchen die Beamten bei ihrer Arbeit zu ringen haben, treten hier nirgends sichtbar hervor. Ihre Leistung kann niemals verstanden und bewertet, das an Stelle positiver Kritik stehende sterile Schelten über den »heiligen Bürokratius« niemals überwunden werden, wenn der Zustand unkontrollierter Beamtenherrschaft anhält. Und auch die Machtstellung[855] des Beamtentums würde da, wo sie hingehört, nicht geschwächt. Der spezialistisch eingeschulte Vortragende Rat ist seinem Minister (auch, und oft, gerade dem aus dem Fachbeamtentum hervorgegangenen Minister) im Fachbetrieb überall überlegen, in England ebenso (aber im ganzen nicht mehr) wie in Deutschland. Denn Fachschulung ist unter den modernen Verhältnissen unentbehrliche Voraussetzung für die Kenntnis der technischen Mittel zur Erreichung politischer Ziele. Aber politische Ziele zu setzen, ist keine Fachangelegenheit, und die Politik hat der Fachbeamte nicht rein als solcher zu bestimmen.

Eine vermittels des Enquêterechts gesicherte fortlaufende Kontrolle und Mitarbeit der Parlamentsausschüsse mit und gegenüber der Verwaltung ist die grundlegende Vorbedingung einer Steigerung der positiven Leistungen des Parlaments als Staatsorgan. Sie ist insbesondere auch die unentbehrliche Voraussetzung dafür, daß das Parlament zur Auslese stätte für politische Führer wird. Das unsachliche Gerede in Deutschland diskreditiert die Parlamente gern als Orte, wo nur »geredet« wird. Ähnlich, freilich weit geistvoller, hat Carlyle vor drei Generationen in England gegen das dortige Parlament gewettert, und doch wurde es immer mehr der ausschlaggebende Träger der englischen Weltmacht. Heute ist nun einmal nicht das eigene Dreinschlagen mit dem Schwert, sondern sind ganz prosaische Schallwellen und Tintentropfen: geschriebene und gesprochene Worte, die physischen Träger des leitenden (politischen und militärischen) Handelns. Es kommt nur darauf an, daß Geist und Kenntnisse, starker Wille und besonnene Erfahrung diese Worte: Befehle oder werbende Rede, diplomatische Noten oder amtliche Erklärungen im eigenen Parlament, formen. In einem Parlament, welches nur Kritik üben kann, ohne sich die Kenntnis der Tatsachen verschaffen zu können, und dessen Parteiführer niemals in die Lage gesetzt werden, zeigen zu müssen, was sie selbst politisch leisten können, führen nur entweder kenntnislose Demagogie oder routinierte Impotenz (oder beide zusammen) das Wort.. Die politische Schulung wird natürlich nicht in den ostensiblen und dekorativen Reden im Plenum eines Parlaments erworben. Sondern innerhalb der Parlamentslaufbahn nur in stetiger scharfer Arbeit. Keiner der bedeutenden englischen Parlamentsführer ist in die Höhe gekommen, ohne sich in der Arbeit der Komitees geschult zu haben und von dort aus oft durch eine ganze Reihe von Ressorts der Verwaltung hindurchgegangen und in ihre Tätigkeit eingeführt worden zu sein. Nur jene Schule intensiver Arbeit an den Realitäten der Verwaltung, welche der Politiker in den Komissionen eines mächtigen Arbeitsparlamentes durchzumachen hat und in der er sich bewähren muß, machen eine solche Versammlung zu einer Auslesestätte nicht für bloße Demagogen, sondern für sachlich arbeitende Politiker, als welche das englische Parlament (was ehrlicherweise niemand verkennen darf) bis heute unerreicht dasteht. Nur diese Art des Zusammenwirkens von Fachbeamtentum und Berufspolitikern garantiert die fortwährende Kontrolle der Verwaltung und durch sie die politische Erziehung und Schulung von Führern und Geführten. Durch effektive Parlamentskontrolle erzwungene Publizität der Verwaltung ist das, was als Vorbedingung jeder fruchtbaren Parlamentsarbeit und politischen Erziehung zu fordern ist..

Aktuelle Erörterungen der Außenpolitik (und des Krieges) gehören zur Beratung zunächst vor einen kleinen Kreis von Vertrauensmännern der Parteien. Und da Politik überhaupt stets von wenigen gemacht wird, dürften eben auch die Parteien für hochpolitische Zwecke nicht nach Art von »Zünften«, sondern nur nach Art von »Gefolgschaften« organisiert sein. Ihre politischen Vertrauensmänner müssen also »Führer« sein, das heißt unbeschränkte Vollmacht für wichtige Entschließungen haben (oder innerhalb weniger Stunden von jederzeit zusammenzurufenden Ausschüssen einholen können).. Jedenfalls kann nur ein kleines Gremium mit Diskretionspflicht wirklich politische Entscheidungen in hochgespannter Lage beratend vorbereiten119..[856] Als einziges sachlich beachtliches Bedenken gegen des Enquêterecht pflegt von Staatsrechtslehrern geltend gemacht zu werden, daß der Reichstag in der Gestaltung der Geschäftsordnung gänzlich autonom sei, die jeweilige Mehrheit also eine Erhebung einseitig unterlassen oder so gestalten könne, daß das nicht festgestellt werde, was ihr unwillkommen sei. Zweifellos paßt die (indirekt) aus der englischen Theorie kritiklos übernommene Geschäftsordnungsautonomie (Art. 27 R. V. v. 1871) für dieses Recht nicht. Vielmehr ist durch gesetzliche Normen die Garantie für die Verläßlichkeit zu schaffen. Insbesondere muß das Recht unbedingt als Minoritätsrecht (sagen wir etwa: auf Verlangen von 100 Abgeordneten) und natürlich mit dem Recht der Minderheit auf Vertretung, Fragestellung, Nebenbericht geschaffen werden. Schon um gegen jede künftig einmal mögliche parlamentarische »Mehrheitswirtschaft« und ihre bekannten Gefahren jenes Gegengewicht der Publizität zu bieten, welches in anderen Staaten fehlt und in England bisher nur durch die gegenseitige Parteicourtoisie gegeben war120..

Die ganze Struktur des deutschen Parlaments [bis 1918] war zugeschnitten auf eine lediglich negative Politik: Kritik, Beschwerde, Beratung, Abänderung und Erledigung von Vorlagen der Regierung, und alle parlamentarischen Gepflogenheiten entsprachen dem. Indessen: darauf, ob große Probleme in einem Parlament nicht nur beredet, sondern maßgeblich entschieden werden, – ob also etwas und wieviel darauf ankommt, was im Parlament geschieht –, oder ob es nur der widerwillig geduldete Bewilligungsapparat einer herrschenden Bürokratie ist, stellt sich die Höhe oder Tiefe seines Niveaus ein121. Dazu, das Parlament fähig zur Macht zu machen, gehört – neben den erwähnten wichtigen Ergänzungen seiner Machtbefugnisse – vor allem eines: die Entwicklung eines geeigneten Berufsparlamentariertums122.

Das Ressentiment der Partei-Beamtennaturen gegen echtes politisches Führertum spielt bei der Haltung mancher Parteien gegenüber der Frage der Parlamentarisierung, und das heißt der parlamentarischen Führerauslese, stark mit. Es verträgt sich natürlich vortrefflich mit den gleichgesinnten Interessen der Bürokratie. Denn der Berufsparlamentarier an sich ist den Instinkten der bürokratischen Verwaltungschefs ein Dorn im Auge. Schon als unbequemer Kontrolleur und als Prätendent einer, immerhin, gewissen Anteilnahme an der Macht. Vollends aber, wenn er in einer Gestalt auftritt, um als möglicher Konkurrent um die leitenden Stellungen in Betracht zu kommen (was bei den Interessenvertretern eben nicht der Fall ist). Daher auch der Kampf für Erhaltung der Unwissenheit des Parlaments. Denn nur qualifizierte Berufsparlamentarier, welche durch die Schule intensiver Ausschußarbeit eines Arbeitsparlaments gegangen sind, können verantwortliche Führer, nicht bloße Demagogen und Dilettanten aus sich hervorgehen lassen. Auf solche Führer und ihre Wirksamkeit muß die ganze innere Struktur des Parlaments zugeschnitten werden, wie es in ihrer Art diejenige des englischen Parlaments und seiner Parteien seit langem ist.


Quelle:
Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie. Besorgt von Johannes Winckelmann. Studienausgabe, Tübingen 51980, S. 851-857.
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