§ 3. Gottesbegriff. Religiöse Ethik. Tabu.

[261] Ethische Gottheiten. Die Gottheiten der Rechtsfindung S. 262. – Uebergöttliche unpersönliche Mächte; Ordnung als göttliche Schöpfung S. 263. – Soziologische Bedeutung der Tabunormen. Totemismus S. 264. – Tabuierung, Vergemeinschaftung und Stereotypierung S. 265. – Magische Ethik – religiöse Ethik: Sündenbewußtsein, Erlösungsgedanke S. 267.


Die einfachste Frage: ob man einen bestimmten Gott oder Dämon überhaupt durch Zwang oder Bitte zu beeinflussen versuchen soll, ist zunächst lediglich eine Frage des Erfolgs. Wie der Zauberer sein Charisma, so hat der Gott seine Macht zu bewähren. Zeigt sich der Versuch der Beeinflussung dauernd nutzlos, so ist entweder der Gott machtlos oder die Mittel seiner Beeinflussung sind unbekannt, und man gibt ihn auf. In China genügen noch heute wenige eklatante Erfolge, um einem Götterbild den Ruf, Macht (Shen, Ling) zu besitzen, und damit die Frequenz der Gläubigen zu verschaffen. Der Kaiser als Vertreter der Untertanen gegenüber dem Himmel verleiht den Göttern im Fall der Bewährung Titel und andere Auszeichnungen. Aber wenige eklatante Enttäuschungen genügen eventuell, einen Tempel für immer zu leeren. Der historische Zufall, daß der, aller Wahrscheinlichkeit spottende, felsenfeste Prophetenglaube des Jesaia: sein Gott werde Jerusalem, wenn nur der König fest bleibe, dem Assyrerheer nicht in die Hände fallen lassen, wirklich eintraf, war das seitdem unerschütterliche Fundament der Stellung dieses Gottes sowohl wie seiner Propheten. Nicht anders erging es schon dem präanimistischen Fetisch und dem Charisma des magisch Begabten. Erfolglosigkeit büßt der Zauberer eventuell mit dem Tode. Eine Priesterschaft ist ihm gegenüber dadurch im Vorteil, daß sie die Verantwortung der Mißerfolge von sich persönlich auf den Gott abschieben kann. Aber mit dem Prestige ihres Gottes sinkt auch das ihrige. Es sei denn, daß sie Mittel findet, diese Mißerfolge überzeugend so zu deuten, daß die Verantwortung dafür nicht mehr auf den Gott, sondern auf das Verhalten seiner Verehrer fällt. Und auch dies ermöglicht die Vorstellung vom »Gottesdienst« gegenüber dem »Gotteszwang«. Die Gläubigen haben den Gott nicht genügend geehrt, seine Begierde nach Opferblut oder Somasaft nicht genügend gestillt, womöglich ihn darin zugunsten anderer Götter zurückgesetzt. Daher erhört er sie nicht. Aber unter Umständen hilft auch erneute und gesteigerte Verehrung nicht: die Götter der Feinde bleiben die stärkeren. Dann ist es um seine Reputation geschehen. Man fällt zu diesen stärkeren Göttern ab, es sei denn, daß es auch jetzt noch Mittel gibt, das renitente Verhalten des Gottes derart zu motivieren, daß sein Prestige nicht gemindert, ja sogar noch gefestigt wird. Auch solche Mittel auszudenken ist aber einer Priesterschaft unter Umständen gelungen. Am eklatantesten derjenigen Jahves, dessen Beziehung zu seinem Volke sich aus Gründen, die noch zu erörtern sein werden, um so fester knüpfte, in je tieferes Ungemach es verstrickt wurde. Damit dies aber geschehen könne, bedarf es zunächst der Entwicklung einer Reihe von neuen Attributen des Göttlichen.

Den anthropomorphisierten Göttern und Dämonen kommt zunächst eine eigentlich qualitative Ueberlegenheit dem Menschen gegenüber nur relativ zu. Ihre Leidenschaften sind maßlos wie die starker Menschen, und maßlos [ist] ihre Gier nach Genuß. Aber sie sind weder allwissend, noch allmächtig – im letzteren Fall könnten ihrer ja nicht mehrere sein –, noch auch, weder in Babylon noch bei den Germanen, notwendig ewig: nur wissen sie sich oft die Dauer ihrer glanzvollen Existenz durch magische Speisen oder Tränke, die sie sich vorbehalten haben, zu sichern, so wie[261] ja auch der Zaubertrank des Medizinmannes den Menschen das Leben verlängert. Qualitativ geschieden werden unter ihnen die für die Menschen nützlichen von den schädlichen Mächten und natürlich die ersteren regelmäßig als die guten und höheren »Götter«, die man anbetet, den letzteren entgegengesetzt als den niederen »Dämonen«, die nun oft mit allem Raffinement einer irgend ausdenkbaren, verschmitzten Tücke ausgestattet, nicht angebetet, sondern magisch gebannt werden. Aber nicht immer vollzieht sich eine Scheidung auf dieser Basis und erst recht nicht immer in Form einer solchen Degradation der Herren der schädlichen Mächte zu Dämonen. Das Maß von kultischer Verehrung, welches Götter genießen, hängt nicht von ihrer Güte und auch nicht einmal von ihrer universellen Wichtigkeit ab. Gerade den ganz großen guten Göttern des Himmels fehlt ja oft jeder Kultus, nicht weil sie dem Menschen »zu fern« sind, sondern weil ihr Wirken zu gleichmäßig und durch seine feste Regelmäßigkeit auch ohne besondere Einwirkung gesichert erscheint. Mächte von ziemlich ausgeprägt diabolischem Charakter dagegen, wie etwa der Seuchengott Rudra in Indien, sind nicht immer die schwächeren gegenüber den »guten« Göttern, sondern können mit ungeheurer Machtfülle bekleidet werden.

Neben die unter Umständen wichtige qualitative Differenzierung von guten und diabolischen Gewalten tritt nun aber – und darauf kommt es uns hier an – innerhalb des Pantheons die Entwicklung spezifisch ethisch qualifizierter Gottheiten. Die ethische Qualifikation der Gottheit ist keineswegs dem Monotheismus vorbehalten. Sie gewinnt bei ihm weittragendere Konsequenzen, ist aber an sich auf den verschiedensten Stufen der Pantheonbildung möglich. Zu den ethischen Gottheiten gehört naturgemäß besonders oft der spezialisierte Funktionsgott für die Rechtsfindung und derjenige, welcher über die Orakel Gewalt hat.

Die Kunst der »Divination« erwächst zunächst direkt aus der Magie des Geisterglaubens. Die Geister wirken, wie alle anderen Wesen, nicht schlechthin regellos. Kennt man die Bedingungen ihrer Wirksamkeit, so kann man ihr Verhalten aus Symptomen: omina, welche erfahrungsgemäß ihre Disposition andeuten, kombinieren. Die Anlage von Gräbern, Häusern und Wegen, die Vornahme von wirtschaftlichen und politischen Handlungen müssen an dem nach früheren Erfahrungen günstigen Ort und zu günstiger Zeit geschehen. Und wo eine Schicht, wie die sog. taoistischen Priester in China, von der Ausübung dieser Divinationskunst lebt, kann ihre Kunstlehre (das Fung Shui in China) eine unerschütterliche Macht gewinnen. Alle ökonomische Rationalität scheitert dann an dem Widerspruch der Geister: keine Eisenbahn-oder Fabrikanlage, die nicht auf Schritt und Tritt mit ihnen in Konflikt geriete. Erst der Kapitalismus in seiner Vollkraft hat es vermocht, mit diesem Widerstand fertig zu werden. Noch im russisch-japanischen Kriege scheint aber das japanische Heer einzelne Gelegenheiten aus Gründen ungünstiger Divination verpaßt zu haben, – während schon Pausanias bei Plataiai offenbar die Gunst oder Ungunst der Vorzeichen geschickt den Bedürfnissen der Taktik entsprechend zu »stilisieren« gewußt hat. Wo nun die politische Gewalt den Rechtsgang an sich zieht, den bloßen unmaßgebenden Schiedsspruch bei der Sippenfehde in ein Zwangsurteil oder bei religiösen oder politischen Freveln die alte Lynchjustiz der bedrohten Gesamtheit in ein geordnetes Verfahren gebracht hat, ist es fast immer göttliche Offenbarung (Gottesurteil), welche die Wahrheit ermittelt. Wo eine Zaubererschaft es verstanden hat, die Orakel und die Gottesurteile und ihre Vorbereitung in die Hand zu bekommen, ist ihre Machtstellung oft eine dauernd überwältigende.

Ganz der Realität der Dinge im Leben entsprechend ist der Hüter der Rechtsordnung keineswegs notwendig der stärkste Gott: weder Varuna in Indien, noch Maat in Aegypten, noch weniger Lykos in Attika oder Dike oder Themis und auch nicht Apollon waren dies. Nur ihre ethische Qualifikation, dem Sinn der »Wahrheit«, die das Orakel oder Gottesurteil doch immer irgendwie verkünden soll, entsprechend, zeichnet sie aus. Aber nicht, weil er ein Gott ist, schützt der »ethische« Gott die Rechtsordnung und die gute Sitte – mit »Ethik« haben die anthropomorphen[262] Götter zunächst nichts Besonderes, jedenfalls eher weniger als die Menschen, zu schaffen –, sondern weil er nun einmal diese besondere Art von Handeln in seine Obhut genommen hat. Die ethischen Ansprüche an die Götter steigen nun aber 1. mit steigender Macht und also steigenden Ansprüchen an die Qualität der geordneten Rechtsfindung innerhalb großer befriedeter politischer Verbände, – 2. mit steigendem Umfang der durch meteorologische Orientierung der Wirtschaft bedingten rationalen Erfassung des naturgesetzlichen Weltgeschehens als eines dauernd sinnvoll geordneten Kosmos, – 3. mit steigender Reglementierung immer neuer Arten von menschlichen Beziehungen durch konventionelle Regeln und steigender Bedeutung der gegenseitigen Abhängigkeit der Menschen von der Innehaltung dieser Regeln, – insbesondere aber 4. mit steigender sozialer und ökonomischer Bedeutung der Verläßlichkeit des gegebenen Wortes: des Wortes des Freundes, Vasallen, Beamten, Tauschpartners, Schuldners oder wessen es sei, – mit einem Wort: mit steigender Bedeutung der ethischen Bindung des Einzelnen an einen Kosmos von »Pflichten«, welche sein Verhalten berechenbar machen. Auch die Götter, an die man sich um Schutz wendet, müssen nun offenbar entweder selbst einer Ordnung unterworfen sein oder ihrerseits, wie große Könige, eine solche geschaffen und zum spezifischen Inhalt ihres göttlichen Willens gemacht haben. Im ersten Fall tritt hinter ihnen eine übergeordnete unpersönliche Macht auf, die sie innerlich bindet und den Wert ihrer Taten mißt, ihrerseits aber verschieden geartet sein kann. Universelle unpersönliche Mächte übergöttlicher Art treten zunächst als »Schicksals«-Gewalten auf. So das »Verhängnis« (Moira) der Hellenen, eine Art von irrationaler, insbesondere ethisch indifferenter Prädestination der großen Grundzüge jedes Einzelschicksals, die innerhalb gewisser Grenzen elastisch, deren allzu flagrante Verletzung aber durch verhängniswidrige Eingriffe auch für die größten Götter gefährlich (ὑπέρμορον) ist. Das erklärt dann neben anderen Dingen auch die Erfolglosigkeit so vieler Gebete. So geartet ist die normale innere Stellungnahme kriegerischen Heldentums, dem der rationalistische Glaube an eine rein ethisch interessierte, sonst aber parteilose, weise und gütige »Vorsehung« besonders fremd ist. Es tritt hier wiederum jene schon kurz berührte tiefe Spannung zwischen Heldentum und jeder Art von religiösem oder auch rein ethischem Rationalismus zutage, der wir immer wieder begegnen werden. Denn ganz anders sieht die unpersönliche Macht bürokratischer oder theokratischer Schichten, z.B. der chinesischen Bürokratie oder der indischen Brahmanen aus. Sie ist eine providentielle Macht harmonischer und rationaler Ordnung der Welt, je nachdem im Einzelfall mehr kosmischen oder mehr ethischen sozialen Gepräges, regelmäßig aber beides umfassend. Kosmischen, aber doch zugleich auch spezifisch ethisch-rationalen Charakter hat die übergöttliche Ordnung der Konfuzianer ebenso wie die der Taoisten, beides unpersönliche providentielle Mächte, welche die Regelmäßigkeit und glückliche Ordnung des Weltgeschehens verbürgen: die Anschauung einer rationalistischen Bürokratie. Noch stärker ethisch ist der Charakter der indischen Rita, der unpersönlichen Macht der festen Ordnung des religiösen Zeremoniells ebenso wie des Kosmos und daher auch des Tuns der Menschen im allgemeinen: die Anschauung der vedischen, eine wesentlich empirische Kunst mehr des Gotteszwangs als der Gottesverehrung übenden Priesterschaft. Oder die spätere indische übergöttliche Alleinheit des allein dem sinnlosen Wechsel und der Vergänglichkeit aller Erscheinungswelt nicht unterworfenen Seins: die Anschauung einer dem Welttreiben indifferent gegenüberstehenden Intellektuellenspekulation. Auch wo aber die Ordnung der Natur und der damit regelmäßig gleichgesetzten sozialen Verhältnisse, vor allem des Rechts, nicht als den Göttern übergeordnet, sondern als Schöpfung von Göttern gelten, – wir werden später fragen: unter welchen Bedingungen dies eintritt –, wird als selbstverständlich vorausgesetzt, daß der Gott diese von ihm geschaffenen Ordnungen gegen Verletzung sichern werde. Die gedankliche Durchführung dieses Postulats hat weitgehende Konsequenzen für das religiöse Handeln und die allgemeine Stellungnahme der Menschen zum Gott. Sie[263] gibt den Anlaß zur Entwicklung einer religiösen Ethik, der Scheidung der göttlichen Anforderung an den Menschen, gegenüber jenen Anforderungen oft unzulänglicher »Natur«. Neben die beiden urwüchsigen Arten der Beeinflussung übersinnlicher Mächte: ihrer magischen Unterwerfung unter menschliche Zwecke oder ihrer Gewinnung dadurch, daß man sich ihnen nicht etwa durch Uebung irgendwelcher ethischen Tugenden, sondern durch Befriedigung ihrer egoistischen Wünsche angenehm macht, tritt jetzt die Befolgung des religiösen Gesetzes als das spezifische Mittel, das Wohlwollen des Gottes zu erringen.

Nicht freilich erst mit dieser Auffassung beginnt eine religiöse Ethik. Im Gegenteil gibt es eine solche, und zwar von höchst wirksamer Art, gerade in Gestalt von rein magisch motivierten Normen des Verhaltens, deren Verletzung als religiöser Greuel gilt. Bei entwickeltem Geisterglauben wird ja jeder spezifische, zumal jeder nicht alltägliche, Lebensprozeß dadurch hervorgebracht, daß ein spezifischer Geist in den Menschen hineingefahren ist: bei Krankheit ebenso wie etwa bei Geburt, Pubertät, Menstruation. Dieser Geist kann nun als »heilig« oder als »unrein« gelten, – das ist wechselnd und oft zufällig bedingt, gilt aber im praktischen Effekt fast völlig gleich. Denn jedenfalls muß man es unterlassen, diesen Geist zu reizen und dadurch zu veranlassen, entweder in den unberufenen Störer selbst hineinzufahren oder diesen oder auch den jeweils von ihm Besessenen magisch zu schädigen. Also wird der Betreffende physisch und sozial gemieden und muß andere, ja unter Umständen die Berührung seiner eigenen Person meiden, aus diesem Grunde z.B. zuweilen – wie polynesische charismatische Fürsten – vorsichtig gefüttert werden, um seine eigene Speise nicht magisch zu infizieren. Besteht einmal diese Vorstellungsweise, dann können natürlich auch durch zauberische Manipulationen von Menschen, welche das magische Charisma besitzen, Gegenstände oder Personen für andere mit der Qualität des »Tabu« versehen werden: ihre Berührung würde bösen Zauber zur Folge haben. Diese charismatische Tabuierungsgewalt ist nun vielfach ganz rational und systematisch ausgeübt worden, in größtem Maßstab besonders im indonesischen und Südseegebiet. Zahlreiche ökonomische und soziale Interessen: Wald- und Wildschutz (nach Art der vom frühmittelalterlichen König gebannten Forsten), Sicherung von knapp werdenden Vorräten in Teuerungszeiten gegen unwirtschaftlichen Verzehr, Schaffung von Eigentumsschutz, speziell für bevorrechtigtes priesterliches oder adeliges Sondereigentum, Sicherung der gemeinsamen Kriegsbeute gegen individuelles Plündern (so durch Josua im Fall des Achan), sexuelle und persönliche Trennung von Ständen im Interesse der Reinhaltung des Blutes oder der Erhaltung des ständischen Prestige stehen unter der Garantie des Tabu. In der zum Teil unglaublichen Irrationalität seiner, oft gerade für die durch Tabu Privilegierten selbst, qualvoll lästigen Normen zeigt dieser erste und allgemeinste Fall einer direkten Dienstbarmachung der Religion für außerreligiöse Interessen zugleich auch die höchst eigenwillige Eigengesetzlichkeit des Religiösen. Die Rationalisierung des Tabu führt eventuell zu einem System von Normen, nach denen ein- für allemal gewisse Handlungen als religiöse Greuel gelten, für welche irgendeine Sühne, unter Umständen die Tötung dessen, der sie beging, eintreten muß, wenn nicht der böse Zauber alle Volksgenossen treffen soll, und es entsteht so ein System tabuistisch garantierter Ethik: Speiseverbote, Verbot der Arbeit an tabuierten »Unglückstagen« (wie der Sabbath ursprünglich war) oder Heiratsverbote innerhalb bestimmter Personen-, speziell Verwandtenkreise. Immer natürlich in der Art, daß das einmal, sei es aus rationalen oder konkreten irrationalen Gründen: Erfahrungen über Krankheiten und anderen bösen Zauber, üblich Gewordene zum »Heiligen« wird. In einer anscheinend nicht hinlänglich aufzuklärenden Art haben sich nun tabuartige Normen speziell mit der Bedeutsamkeit gewisser in einem einzelnen Objekt, besonders in Tieren, hausender Geister für bestimmte soziale Kreise verknüpft. Daß Tierinkarnationen von Geistern als heilige Tiere zu Kultmittelpunkten lokaler, politischer Verbände werden können, dafür ist Aegypten das hervorragendste Beispiel.[264] Sie und andere Objekte oder Artefakte können aber auch zu Mittelpunkten anderer, je nachdem mehr naturgewachsener oder mehr künstlich geschaffener sozialer Verbände werden. Zu den verbreitetsten hieraus sich entwickelnden sozialen Institutionen gehört der sog. Totemismus: eine spezifische Beziehung zwischen einem Objekt, meist einem Naturobjekt, im reinsten Typus: einem Tier, und einem bestimmten Menschenkreise, dem es als Symbol der Verbrüderung, ursprünglich wohl: der durch gemeinsame Verzehrung des Tieres erworbenen, gemeinsamen Besessenheit von dessen »Geist«, gilt. Die inhaltliche Tragweite der Verbrüderung schwankt ebenso wie der Inhalt der Beziehung der Genossen zum Totemobjekt. Bei voll entwickeltem Typus enthalten die ersteren alle Brüderlichkeitspflichten einer exogamen Sippe, die letzteren das Tötungs- und Speiseverbot, außer bei kultischen Mahlen der Gemeinschaft, und eventuell, meist auf Grund des häufigen (aber nicht universellen) Glaubens, von dem Totemtier abzustammen, auch noch andere kultartige Pflichten. Ueber die Entwicklung dieser weithin über die Erde verbreiteten totemistischen Verbrüderungen herrscht ungeschlichteter Streit. Für uns muß im wesentlichen genügen: daß das Totem, der Funktion nach, das animistische Gegenstück der Götter jener Kultgenossenschaften ist, welche, wie früher erwähnt, mit den verschiedensten Arten von sozialen Verbänden sich deshalb zu verbinden pflegen, weil das nicht »versachlichte« Denken auch einen rein künstlichen und sachlichen »Zweckverband« der persönlichen und religiös garantierten Verbrüderung nicht entbehren konnte. Daher attrahierte die Reglementierung des Sexuallebens insbesondere, in deren Dienst die Sippe sich stellte, überall eine tabuartige religiöse Garantie, wie sie am besten die Vorstellungen des Totemismus boten. Aber das Totem ist nicht auf sexualpolitische Zwecke und überhaupt nicht auf die »Sippe« beschränkt und keineswegs notwendig auf diesem Gebiet zuerst erwachsen, sondern eine weitverbreitete Art, Verbrüderungen unter magische Garantie zu stellen. Der Glaube an die einst universelle Geltung und erst recht die Ableitung fast aller sozialen Gemeinschaften und der gesamten Religion aus dem Totemismus, ist als eine gewaltige Uebertreibung heute wohl durchweg aufgegeben. Allein für die magisch geschützte und erzwungene Arbeitsteilung der Geschlechter und die Berufsspezialisierung und damit für die Entwicklung und Reglementierung des Tausches als regulärer Binnenerscheinung (im Gegensatz zum Außenhandel) haben diese Motive eine oft sehr bedeutende Rolle gespielt.

Die Tabuierungen, speziell die magisch bedingten Speiseverbote, zeigen uns eine neue Quelle der so weittragenden Bedeutung des Instituts der Tischgemeinschaft. Die eine war, wie wir sahen, die Hausgemeinschaft. Die zweite ist die durch den tabuistischen Unreinheitsgedanken bedingte Beschränkung der Tischgemeinschaft auf Genossen der gleichen magischen Qualifikation. Beide Quellen der Tischgemeinschaft können in Konkurrenz und Konflikt miteinander geraten. Wo beispielsweise die Frau einer anderen Sippe zugerechnet wird als der Mann, darf sie sehr häufig den Tisch mit dem Mann nicht teilen, unter Umständen ihn gar nicht essen sehen. Ebenso aber darf der tabuierte König oder dürfen tabuierte privilegierte Stände (Kasten) oder religiöse Gemeinschaften weder den Tisch mit anderen teilen, noch dürfen die höher privilegierten Kasten bei ihren Kultmahlen oder unter Umständen sogar bei ihrer täglichen Mahlzeit den Blicken »unreiner« Außenstehender ausgesetzt sein. Andererseits ist daher die Herstellung der Tischgemeinschaft sehr oft eines derjenigen Mittel, religiöse und damit unter Umständen auch ethnische und politische Verbrüderung herbeizuführen. Der erste große Wendepunkt in der Entwicklung des Christentums war die in Antiochia zwischen Petrus und den unbeschnittenen Proselyten hergestellte Tischgemeinschaft, auf welche Paulus daher in seiner Polemik gegen Petrus das entscheidende Gewicht legt. Außerordentlich groß sind andererseits die Hemmungen des Verkehrs und der Entwicklung der Marktgemeinschaft ebenso wie anderer sozialer Vergemeinschaftung, welche durch tabuartige Normen geschaffen werden. Die absolute Unreinheit des außerhalb der eigenen[265] Konfession Stehenden, wie sie der Schî'itismus im Islâm kennt, hat für seine Anhänger bis in die Neuzeit hinein, wo man durch Fiktionen aller Art abhalf, elementare Verkehrshindernisse gebildet. Die Tabuvorschriften der indischen Kasten haben mit weit elementarerer Gewalt den Verkehr zwischen den Personen gehemmt, als das Fung Shui-System des chinesischen Geisterglaubens dem Güterverkehr sachliche Hindernisse in den Weg gelegt hat. Natürlich zeigen sich die Schranken der Macht des Religiösen gegenüber den elementaren Bedürfnissen des Alltags auch auf diesem Gebiet: »Die Hand eines Handwerkers ist (nach indischem Kastentabu) immer rein«, ebenso Minen und Ergasterien und was im Laden zum Verkauf ausliegt oder was ein Bettelstudent (asketischer Brahmanenschüler) an Nahrung in seine Hand nimmt. Nur das sexuelle Kastentabu pflegt in sehr starkem Maße zugunsten der polygamen Interessen der Besitzenden durchbrochen zu werden: die Töchter niederer Kasten waren in begrenztem Maß meist als Nebenweiber zugelassen. Und wie das Fung Shui in China, so wird auch das Kastentabu in Indien durch die bloße Tatsache des sich durchsetzenden Eisenbahnverkehrs langsam aber sicher illusorisch gemacht. Die Kastentabuvorschriften hätten den Kapitalismus formell nicht unmöglich gemacht. Aber daß der ökonomische Rationalismus da, wo die Tabuierungsvorschriften eine derartige Macht einmal gewonnen hatten, nicht seine bodenständige Heimat finden konnte, liegt auf der Hand. Dazu waren trotz aller Erleichterungen schon die inneren Hemmungen der arbeitsteiligen Zusammenfügung von Arbeitern getrennter Berufe und das heißt: getrennter Kasten, in einem Betriebe doch immerhin zu wirksam. Die Kastenordnung wirkt, wenn auch nicht den positiven Vorschriften, so doch ihrem »Geiste« und ihren Voraussetzungen nach, in der Richtung fortgesetzter, immer weiterer handwerksmäßiger Arbeitsspezialisierung. Und die spezifische Wirkung der religiösen Weihe der Kaste auf den »Geist« der Wirtschaftsführung ist eine dem Rationalismus gerade entgegengesetzte. Die Kastenordnung macht die einzelnen arbeitsteiligen Tätigkeiten, soweit sie diese zum Unterschiedsmerkmal der Kasten nimmt, zu einem religiös zugewiesenen und daher geweihten »Beruf«. Jede, auch die verachtetste, Kaste Indiens sieht in ihrem Gewerbe – das Diebsgewerbe nicht ausgenommen – eine von spezifischen Göttern oder doch von einem spezifischen göttlichen Willen gestiftete und ihr ganz speziell zugewiesene Lebenserfüllung und speist ihr Würdegefühl aus der technisch vollendeten Ausführung dieser »Berufsaufgabe«. Aber diese »Berufsethik« ist, mindestens für das Gewerbe, in einem bestimmten Sinn spezifisch »traditionalistisch« und nicht rational. Ihre Erfüllung und Bewährung findet sie auf dem Gebiet der gewerblichen Produktion in der absoluten qualitativen Vollkommenheit des Produkts. Fern liegt ihr der Gedanke der Rationalisierung der Vollzugsweise, die aller modernen rationalen Technik, oder der Systematisierung des Betriebs zur rationalen Erwerbswirtschaft, die allem modernen Kapitalismus zugrunde liegt. Die ethische Weihe dieses Wirtschaftsrationalismus, des »Unternehmers«, gehört der Ethik des asketischen Protestantismus an. Die Kastenethik verklärt den »Geist« des Handwerks, den Stolz nicht auf den in Geld qualifizierten Wirtschaftsertrag oder auf die in rationaler Arbeitsverwendung sich bewährenden Wunder der rationalen Technik, sondern den Stolz auf die in der Schönheit und Güte des Produkts sich bewährende persönliche, virtuose, kastenmäßige Handfertigkeit des Produzenten. Für die Wirkung der indischen Kastenordnung im speziellen war – wie zur Erledigung dieser Zusammenhänge schon hier erwähnt sein mag – vor allem entscheidend der Zusammenhang mit dem Seelenwanderungsglauben, daß die Verbesserung der Wiedergeburtschancen nur durch Bewährung innerhalb der für die eigene Kaste vorgeschriebenen Berufstätigkeit möglich ist. Jedes Heraustreten aus der eigenen Kaste, insbesondere jeder Versuch, in die Tätigkeitssphären anderer, höherer, Kasten einzugreifen, bringt bösen Zauber und die Chance ungünstiger Wiedergeburt mit sich. Dies erklärt es, daß, nach häufigen Beobachtungen in Indien, gerade die untersten Kasten – denen natürlich die Besserung ihrer Wiedergeburtschancen[266] besonders am Herzen liegt – am festesten an ihren Kasten und den Pflichten hingen und (im ganzen) nie daran dachten, die Kastenordnung etwa durch »soziale Revolutionen« oder »Reformen« umstürzen zu wollen. Das biblische, auch von Luther stark betonte: »bleibe in deinem Beruf«, ist hier zu einer religiösen Kardinalpflicht erhoben und durch schwere religiöse Folgen sanktioniert.

Wo der Geisterglauben zum Götterglauben rationalisiert wird, also nicht mehr die Geister magisch gezwungen, sondern Götter kultisch verehrt und gebeten sein wollen, schlägt die magische Ethik des Geisterglaubens in die Vorstellung um: daß denjenigen, welcher die gottgewollten Normen verletzt, das ethische Mißfallen des Gottes trifft, welcher jene Ordnungen unter seinen speziellen Schutz gestellt hat. Es wird nun die Annahme möglich, daß es nicht Mangel an Macht des eigenen Gottes sei, wenn die Feinde siegen oder anderes Ungemach über das eigene Volk kommt, sondern daß der Zorn des eigenen, Gottes über seine Anhänger durch die Verletzungen der von ihm geschirmten ethischen Ordnungen erregt, die eigenen Sünden also daran schuld seien und daß der Gott mit einer ungünstigen Entscheidung gerade sein Lieblingsvolk hat züchtigen und erziehen wollen. Immer neue Missetaten Israels, eigene der jetzigen Generation oder solche der Vorfahren, wissen seine Propheten aufzufinden, auf welche der Gott mit seinem schier unersättlichen Zorn reagiert, indem er sein eigenes Volk anderen, die ihn gar nicht einmal anbeten, unterliegen läßt. Dieser Gedanke, in allen denkbaren Abwandlungen überall verbreitet, wo die Gotteskonzeption universalistische Züge annimmt, formt aus den magischen, lediglich mit der Vorstellung des bösen Zaubers operierenden Vorschriften die »religiöse Ethik«: Verstoß gegen den Willen des Gottes wird jetzt eine ethische »Sünde«, die das »Gewissen« belastet, ganz unabhängig von den unmittelbaren Folgen. Uebel, die den Einzelnen treffen, sind gottgewollte Heimsuchungen und Folgen der Sünde, von denen der Einzelne durch ein Gott wohlgefälliges Verhalten: »Frömmigkeit«, befreit zu werden, »Erlösung« zu finden, hofft. Fast nur in diesem elementaren rationalen Sinn der Befreiung von ganz konkreten Uebeln tritt der folgenschwere Gedanke der »Erlösung« noch im Alten Testament auf. Und die religiöse teilt mit der magischen Ethik zunächst durchaus auch die andere Eigenart: daß es ein Komplex oft höchst heterogener, aus den allerverschiedensten Motiven und Anlässen entstandener, nach unserer Empfindungsart »Wichtiges« und »Unwichtiges« überhaupt nicht scheidender, Gebote und Verbote ist, deren Verletzung die »Sünde« konstituiert. Nun aber kann eine Systematisierung dieser ethischen Konzeptionen eintreten, welche von dem rationalen Wunsch: durch gottgefälliges Tun sich persönliche äußere Annehmlichkeiten zu sichern, bis zu der Auffassung der Sünde als einer einheitlichen Macht des Widergöttlichen führt, in deren Gewalt der Mensch fällt, der »Güte« aber als einer einheitlichen Fähigkeit zur heiligen Gesinnung und einem aus ihr einheitlich folgenden Handeln und der Erlösungshoffnung als einer irrationalen Sehnsucht, »gut« sein zu können, lediglich oder doch primär um des bloßen beglückenden Besitzes des Bewußtseins willen, es zu sein. Eine lückenlose Stufenfolge der allerverschiedensten, immer wieder mit rein magischen Vorstellungen gekreuzten Konzeptionen führt zu diesen sehr selten und von der Alltagsreligiosität nur intermittierend in voller Reinheit erreichten Sublimierungen der Frömmigkeit als einer kontinuierlich, als konstantes Motiv wirkenden Grundlage einer spezifischen Lebensführung. Noch dem Vorstellungskreis des Magischen gehört jene Konzeption der »Sünde« und »Frömmigkeit« als einheitlicher Mächte an, welche beide als eine Art von materiellen Substanzen auffaßt, welche das Wesen des »böse« oder »gut« Handelnden nach Art eines Gifts oder eines dagegen wirkenden Heilserums oder nach Art etwa einer Körpertemperatur auffassen, wie sich das in Indien findet: »tapas«, die (durch Askese erreichte) Macht des Heiligen, die ein Mensch im Leibe hat, heißt ursprünglich jene »Hitze«, welche der Vogel beim Brüten, der Weltschöpfer bei der Erzeugung der Welt, der Magier bei der durch Mortifikation erzeugten heiligen Hysterie, welche zu übernatürlichen Fähigkeiten führt, in sich entwickelt. Von den durch die Vorstellungen:[267] daß der gut Handelnde eine besondere »Seele« göttlicher Provenienz in sich aufgenommen habe und weiter bis zu den später zu erörternden Formen des innerlichen »Habens« des Göttlichen ist ein weiter Weg. Und ebenso von der Auffassung der »Sünde« als eines magisch zu kurierenden Gifts im Leibe des Uebeltäters durch die Vorstellung eines bösen Dämons, von dem er besessen ist, bis zur teuflischen Macht des »radikal Bösen«, mit der er kämpft und der er in Gefahr ist zu verfallen.

Bei weitem nicht jede religiöse Ethik hat den Weg bis zu diesen Konzeptionen durchlaufen. Die Ethik des Konfuzianismus kennt das radikal Böse und überhaupt eine einheitliche widergöttliche Macht der »Sünde« nicht. Die hellenische und römische ebenfalls nicht. In beiden Fällen hat außer einem selbständigen organisierten Priestertum auch jene historische Erscheinung gefehlt, welche nicht unbedingt immer, aber allerdings normalerweise die Zentralisierung der Ethik unter dem Gesichtspunkt religiöser Erlösung schafft: die Prophetie. In Indien hat die Prophetie nicht gefehlt, aber – wie noch zu erörtern – einen sehr spezifischen Charakter gehabt, und dementsprechend auch die dort sehr hoch sublimierte Erlösungsethik. Prophetie und Priestertum sind die beiden Träger der Systematisierung und Rationalisierung der religiösen Ethik. Daneben aber fällt als dritter, die Entwicklung bestimmender Faktor der Einfluß derjenigen ins Gewicht, auf welche Propheten und Priester ethisch zu wirken suchen: der »Laien«. Wir müssen die Art des Mit- und Gegeneinanderwirkens dieser drei Faktoren zunächst ganz allgemein in Kürze erörtern.


Quelle:
Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie. Besorgt von Johannes Winckelmann. Studienausgabe, Tübingen 51980, S. 261-268.
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