I. Die Polenpolitik

[178] Der monarchischen Staatsform wird die Fähigkeit besonders stetiger und einheitlicher Haltung in der großen Politik nachgerühmt. Wenn es nun irgendeine hochpolitische Frage gibt, welche besonders dringend zielbewußter Einheitlichkeit der Behandlung bedarf, so ist es die polnische. Im Winter 1916 kündigte der Reichskanzler die Wiederaufrichtung Polens an, nachdem das Problem schon seit Monaten erwogen war. Bis zur Novemberproklamation der beiden Kaiser blieb also hinlänglich Zeit für alle Instanzen, sich über die Konsequenzen klar zu werden. Daß diese vor allem auch auf dem Gebiet der innerdeutschen Polenpolitik liegen mußten, war selbstverständlich. Die folgenschwere Wandlung unserer Gesamtpolitik im Osten wäre sonst ein politischer Aberwitz. Ohne grundsätzliche Neuorientierung der Beziehungen zwischen den beiden Nationalitäten bedeutete sie ja die bewußte Schaffung eines »Serbien« vor unseren Toren. Die Ära, in welcher unsere Interessengemeinschaft mit Rußland auf der beiderseitigen Beherrschung polnischen Gebietes beruhte, ist [ab]geschlossen, und neue Wege müssen beschritten werden.

Eine für die Deutschen sowohl wie die Polen absolut befriedigende Lösung der zahlreichen schwierigen Interessenkollisionen ist – leider – nicht möglich. Denn solange Militärstaaten und staatliche Wirtschaftspolitik bestehen, kann die Nationalität – deren Grenze überdies im Osten mit seinem Durcheinanderwohnen beider Völker gar nicht gefunden werden könnte – für die Ziehung der politischen Grenzen nur neben 1. der militärischen Sicherheit und 2. der wirtschaftlichen Zusammengehörigkeit maßgebend sein. Aber auch eine nur irgendwie[178] leidliche Lösung ist ausgeschlossen, wenn nicht von beiden Seiten alle jene »Prestige«- und Eitelkeitsfragen ausgeschieden werden, deren Hineintragung die Kämpfe der Nationalitäten ebenso wie die der Staaten immer unaustragbar macht. Die Frage darf nur dahin gestellt werden: was die rein sachlich-staatlichen Interessen des Reichs und Preußens einerseits und was das Interesse der Polen an der Entwicklung ihrer eigenen Kultur auf der anderen Seite als absolutes Minimum erfordern, was also z.B. auf den wichtigsten Gebieten: der Schul- und Sprachenpolitik und der Siedlungspolitik beiderseits rein sachlich 1. unentbehrlich, 2. wünschenswert, 3. erträglich ist. Die bisherige preußische Polenpolitik ist jedenfalls fortan unhaltbar. Das ist sie aber auch rein an sich.

Daß das Vordringen der Polen auf Kosten der Deutschen im Osten sich vollzog gerade infolge der größeren Kulturarmut der ersteren, die sich ausdrückte in geringeren Lohnforderungen der polnischen Arbeiter und geringerem Mindestbodenbedarf der polnischen Bauern, – diese fatale Beherrschung der Nationalitätenkonkurrenz durch das »Prinzip der billigeren Hand« war seinerzeit ein triftiger Grund für uns Deutsche, die Ansiedlungspolitik der preußischen Regierung zu unterstützen. Selbstverständlich aber unter der Voraussetzung, daß gleichzeitig und vor allem die alljährliche Überschwemmung des Ostens durch Hunderttausende billiger russisch-polnischer Wanderarbeiter aufhörte, welche dazu dienten, Großgrundbesitzern eine Existenz auf Kosten der nationalen Interessen zu ermöglichen. Statt dessen wurde die von BISMARCK durchgeführte Grenzsperre beseitigt und damit der Ansiedlungspolitik aller Wind aus den Segeln genommen, sie, trotz noch so ausgezeichneter Arbeit, zur politischen Sinnlosigkeit verurteilt. An Stelle jener nationalitäts-und siedlungspolitisch allein wirksamen Maßregel begann die bekannte Sprachenpolitik. Alle Erfahrungen darüber, daß solche Maßregeln überall und immer eine jede nicht mehr analphabetische, sondern mit eigener Presse und einer eigenen Literatenschicht ausgestattete Nationalität, schon durch das materielle Interesse dieser Schichten, zum äußersten, bisher noch in keinem Falle gebrochenen Widerstand zusammengeschlossen haben, blieben unbeachtet. Jetzt erst wurden die »Massen« innerlich beteiligt. Die wirtschaftliche Mobilmachung des Polentums folgte. Die immer weiter sich verschärfenden Gegenmaßregeln führten in logischer Konsequenz zum Enteignungsgesetz. Damit war man aber auf dem Punkt, wo Interessen der hohen Politik mitsprachen:[179] Rücksicht auf das österreichische Bündnis nötigte dazu, haltzumachen, und das Gesetz blieb ein agitatorisch für die Polen höchst wirksamer toter Buchstabe. Der sichtbarste Erfolg dieses Kampfes und all jener höchst fatal wirkenden »Ostmarken«-Pfründen, die er schuf, war – wie das mit amtlichem Material arbeitende Buch von LUDWIG BERNHARD drastisch schilderte: –, daß die Polen in ihren Kampforganisationen sich ökonomisch so entwickelt haben, daß von einer »Konkurrenz der durch Kulturlosigkeit billigeren Hand« heute nicht mehr wie früher geredet werden darf.

Die jetzige Außenpolitik des Reichs in Polen aber ist mit der bisherigen innerpreußischen Polenpolitik ganz unvereinbar: beide müssen zu den verhängnisvollsten Konsequenzen führen, wenn nicht die innere Polenpolitik Preußens sich der hochpolitisch bedingten Stellungnahme des Reichs anpaßt.

Selbstverständliche Voraussetzung jedes Erfolgs einer neu orientierten Polenpolitik ist zunächst, daß die Regierung und daß die in Preußen maßgebenden Parteien sich mit den Vertretern der preußischen Polen in Verbindung setzen. Ob nicht auch im Königreich Polen der sachlich zweckmäßige erste Schritt, statt der Ausstellung einer Art von Ehrenwechsels mit unbestimmtem Inhalt und zugunsten eines als Verband noch nicht existierenden Adressaten, die Schaffung einer von niemand anzweifelbaren gewählten Vertretung der Bevölkerung, zunächst natürlich zu rein intern beratenden Zwecken, gewesen wäre, mit der man dann hätte verhandeln können, das soll hier unerörtert bleiben. Denn es ist unbekannt, ob nur sachliche Gründe den jetzt beliebten Weg erzwangen. Über manche Zukunftsfrage aber, z.B. die der geographischen Begrenzung des künftigen Polen nach Osten und Nordosten, sind aus den Kreisen der preußischen Polen Ansichten vertreten worden, deren Berücksichtigung gerade eine rein »realpolitische« Vertretung deutscher Interessen weit eher in Erwägung ziehen sollte als die vielfach heillos konfusen östlichen Ideale mancher deutscher Politiker. Für die preußische Innenpolitik ist ohne streng sachliche Erörterung der Ausgleichsprobleme mit den polnischen Interessenten keinesfalls vorwärts zu kommen. Die Sprachenprobleme, Fragen wie die Schaffung von Siedlungsrayons beider Nationalitäten in den Ostprovinzen und die Begünstigung freiwilliger Umsiedlungen deutscher Ansiedler aus dem Königreich Polen nach Deutschland und umgekehrt, können nicht einseitig ohne den ehrlichen Versuch einer vorherigen Verständigung gelöst werden.[180] Allein wie man darüber denken mag, unter allen Umständen ist eins zu verlangen: daß für unbedingte Einheit der Politik des Reichs und Preußens in dem ganzen Komplex von Fragen, welche die kaiserliche Proklamation aufgeworfen hat, Sorge getragen werde. Ist davon irgend etwas bisher zu bemerken?

Die November- und erst recht die Januarverhandlungen des Abgeordnetenhauses gaben darauf eine negative und, wenn es dabei bleibt, für die Politik des Reiches vernichtende Antwort. Direkt provozierend, politisch gänzlich zwecklos und ohne alles Augenmaß war schon das Vorgehen der Rechtsparteien in der Spätherbsttagung. Rein agitatorisch gebärdeten sich die auf den Ton der Kapitolsrettung gestimmten Reden so, als ob der Schritt der beiden Kaiser sie aus allen Wolken fallen lasse, obwohl die Absicht doch seit Monaten niemandem unbekannt war. Wenn man die Proklamation der beiden Kaiser in ihrer politischen Wirkung absichtlich zu durchkreuzen und zu diesem Zwecke das nun folgende Verhalten der preußischen Polenfraktion als Echo absichtlich hätte hervorrufen wollen, dann war dies freilich der Weg. Die damalige Erklärung des Ministers des Innern zeigte überdies: daß jetzt erst, endlose Monate nach der öffentlichen Ankündigung des Kanzlers, die aus der Reichspolitik folgenden Probleme Gegenstand von »Erwägungen« werden sollten.

Die Januartagung dieses Jahres brachte Schlimmeres: Die Etatsrede des Abgeordneten KORFANTY war, so begreiflich eine gewisse Ungeduld der Polen nachgerade sein konnte, doch in der Tonart mancher Stellen gewiß keine Leistung eines verantwortungsbewußten Politikers, wie übrigens von polnischer Seite nicht verkannt zu werden scheint. Beide Teile, die Deutschen ganz ebenso wie die Polen, werden eben außer ihren alten Schlagworten nötigenfalls auch manche ihrer alten Führer über Bord werfen müssen, wenn jemals etwas Verständiges herauskommen soll. Eine Ablehnung dieser Teile der Rede war am Platze, aber gut vereinbar mit sachlicher Behandlung des Problems selbst. Indessen, die Antwort des Ministers, der sich doch nicht verhalten darf wie ein bloßer (und noch dazu wie ein die Selbstbeherrschung verlierender!) Parteipolitiker, war von Sachlichkeit weit entfernt. Auf die von dem polnischen Redner erörterten Etatstitel ging er gar nicht ein. Sondern nachdem er erklärt hatte, daß »Beschwerden« über seine Verwaltung nicht an die Zentralinstanz gelangt seien, fuhr er unter Hinweis auf die wirtschaftliche Blüte der Provinz Posen fort: »Sie (die Polen) sollten noch heutigen[181] Tages Gott auf den Knien danken, daß sie zu solcher Entwicklung gekommen sind! Sie sollten den preußischen Königen danken, die die Staatsregierung angewiesen haben, solche Wege zu gehen!« Abgesehen davon, daß es wohl besser wäre, wenn ein Minister Gott und die Könige nicht als Deckung seiner eigenen Politik verwenden würde, werden die Polen wohl der Ansicht sein, daß für die wirtschaftliche Entwicklung ihrer eigenen Nationalität jedenfalls in den letzten zwanzig Jahren »Gott« durch die Leiter der polnischen Genossenschaften besser vertreten war als durch die preußischen Minister. Der übliche unsachliche Prestigestandpunkt der Regierung: ein gewisses »Entgegenkommen« in der Praxis der Verwaltung wie eine Art von Gnadengeschenk an »Untertanen« zu behandeln, für welches man von diesen »Dankbarkeit« beanspruchen könne, schneidet jede sachliche Erörterung von vornherein ab. Wir könnten allmählich wenigstens eins wissen: Wo immer man eine auf Dank spekulierende Politik betrieben hat, war sie von vornherein zum Scheitern verurteilt. Angesichts der wahrlich schwierigen Frage, wie die bisherigen schweren Auseinandersetzungen im Osten durch einen billigen Ausgleich ihrer doch nun einmal kollidierenden Interessen in andere Bahnen geleitet werden können, wirkt es doch unglaublich oberflächlich, wenn der Minister solche Probleme von obenher mit der etwas schulmeisterlichen Bemerkung abtun zu dürfen glaubt: es sei »ungehörig« (!), einen »Unterschied zu machen zwischen polnischen und deutschen Interessen hier im Inland«. Und wenn der Minister, der am 20. November die »überkommenen bisher erfüllten Aufgaben Preußens in den Ostprovinzen« als »in naher und ferner Zukunft« fortbestehend bezeichnet hatte, nunmehr gar in Aussicht stellte, die Staatsregierung werde auf Grund der Rede des Abgeordneten KORFANTY »diejenigen Entschlüsse finden, die sie als Konsequenz solcher Ausführungen für nötig erachtet«, so ist das nichts anderes als eine Kriegsansage gegen die innerdeutschen Polen sowohl wie vor allem gegen die hochpolitisch bedingte Polenpolitik des Reichs. Denn diese wäre ja bei der angekündigten Haltung eine frevelhafte politische Leichtfertigkeit. Eine von beiden, die jetzige Politik des Reichs oder die Preußens, muß jedenfalls weichen. Schon die ungünstige Rückwirkung der rein agitatorischen Novemberreden der Rechten auf die Entwicklung der Verhältnisse im künftigen Königreich ist kaum zweifelhaft. Diese jetzige Regierungserklä rung aber schafft eine politisch unhaltbare Lage. Es handelt sich hier nicht etwa um[182] die Person eines Ministers, gegen den persönlich gewiß niemand etwas hat. Daß gerade er absichtlich die kaiserliche Proklamation zu konterkarieren versuchte, traut ihm selbstverständlich niemand zu. Der Sache nach aber hat er dies in einem Maße getan, welches die deutsche Polenpolitik in einer der ernstesten Stunden unserer Geschichte in kaum zu verantwortender Art bloßstellt und tatsächlich geeignet ist, ihr alles Vertrauen zu entziehen. Solche bedenklichen Fehler sich zu gestatten, ist Deutschland, wenn es große Politik treiben will, nicht in der Lage, und der Ministerpräsident, der zugleich Leiter der Reichspolitik ist, muß schlechterdings dafür haften, daß sie sich fortan nicht wieder ereignen. Die bürokratische Fachspezialisierung und die Stellung Preußens im Reich dürfen nicht zu einem Zerfall der einheitlichen Leitung, wie sie eine monarchische Staatsform zu gewährleisten beansprucht, in Satrapien führen, die miteinander im Kampfe liegen. Der letzte Grund liegt freilich nicht in der Struktur des Reichs, sondern in der Abhängigkeit der preußischen Regierung von der politisch unendlich kurzsichtigen, aber nun einmal den Landtag beherrschenden Plutokratie, der sich keine, angeblich noch so »starke«, Regierung bisher entzogen hat. Entweder dies findet einmal ein Ende, oder es ist besser, auf jede Politik jenseits unserer Ostgrenze sofort und definitiv zu verzichten. Sie könnte unter solchen Einflüssen nur zum Unheil führen.


Quelle:
Max Weber: Gesammelte politische Schriften. Hrsg. von Johannes Winckelmann. Tübingen 51988, S. 178-183.
Lizenz:

Buchempfehlung

Gryphius, Andreas

Leo Armenius

Leo Armenius

Am Heiligen Abend des Jahres 820 führt eine Verschwörung am Hofe zu Konstantinopel zur Ermordung Kaiser Leos des Armeniers. Gryphius schildert in seinem dramatischen Erstling wie Michael Balbus, einst Vertrauter Leos, sich auf den Kaiserthron erhebt.

98 Seiten, 5.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Frühromantik

Große Erzählungen der Frühromantik

1799 schreibt Novalis seinen Heinrich von Ofterdingen und schafft mit der blauen Blume, nach der der Jüngling sich sehnt, das Symbol einer der wirkungsmächtigsten Epochen unseres Kulturkreises. Ricarda Huch wird dazu viel später bemerken: »Die blaue Blume ist aber das, was jeder sucht, ohne es selbst zu wissen, nenne man es nun Gott, Ewigkeit oder Liebe.« Diese und fünf weitere große Erzählungen der Frühromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe ausgewählt.

396 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon