IV. Soziologische Grundlagen:

D. Selbstverwaltung, Recht und Kapitalismus.

[373] Fehlen kapitalistischer Abhängigkeitsverhältnisse S. 373. – Sippenorganisation S. 378. – Selbstverwaltung des Dorfes S. 381. – Sippengebundenheit der Wirtschaftsbeziehungen S. 386. – Patrimoniale Struktur des Rechts S. 391.


In der Zeit der Konkurrenz der Einzelstaaten um die politische Macht scheint wohl der in Patrimonialstaaten übliche politisch bedingte Kapitalismus der Geldgeber und Lieferanten der Fürsten hier wie überall unter gleichen Umständen erhebliche Bedeutung gehabt und mit hohen Profitraten gearbeitet zu haben. Daneben werden Bergwerke und Handel als Quellen der Vermögensakkumulation angeführt. Unter der Han-Dynastie soll es, in Kupfer gerechnet, Multimillionäre gegeben haben. Aber die politische Vereinheitlichung zum Weltreich hat hier, wie im kaiserlich römischen geeinigten orbis terrarum, offenbar einen Rückgang dieses ganz wesentlich am Staat und seiner Konkurrenz mit anderen Staaten verankerten Kapitalismus zur Folge gehabt. Die Entwicklung des rein marktmäßigen, am freien Tausch orientierten, Kapitalismus andererseits hielt sich in keimhaften Grenzen. Innerhalb des Gewerbes war natürlich überall, auch in den gleich zu besprechenden genossenschaftlichen[373] Unternehmungsformen, hier wie sonst die Ueberlegenheit des Kaufmanns über den Techniker augenfällig. Sie trat schon in den üblichen Gewinnverteilungsschlüsseln bei Assoziationen deutlich hervor. Und auch die interlokalen Gewerbe brachten offenbar oft erheblichen spekulativen Gewinn. Die alte klassische Hochwertung des Ackerbaues als des eigentlich heiligen Berufs hinderte daher nicht, daß schon im 1. Jahrhundert v. Chr. (ähnlich wie im Talmud) die Gewinnchancen des Gewerbes höher als die der Landwirtschaft und die des Handels am höchsten eingeschätzt wurden.

Aber das bedeutete keinen Ansatz zur Entwicklung eines modernen Kapitalismus. Gerade jene charakteristischen Institutionen, welche schon das in den mittelalterlichen Städten des Okzidents aufblühende Bürgertum entwickelte, fehlten bis in die Gegenwart entweder ganz oder zeigten eine sehr charakteristisch verschiedene Physiognomie. Es fehlten in China die Rechtsformen und auch die soziologischen Unterlagen des kapitalistischen »Betriebs« mit seiner rationalen Versachlichung der Wirtschaft, wie sie in dem Handelsrecht der italienischen Städte schon früh in unverkennbaren Ansätzen vorhanden waren. Was dort in ferner Vergangenheit als Entwicklungsansatz für die Personalkreditentwicklung zurücklag: die Haftung der Sippe für ihre Mitglieder, blieb nur im Steuer- und politischen Kriminalrecht erhalten. Weitere Entwicklungsstufen fehlten. Zwar hatte die auf den Hausgemeinschaften ruhende Assoziation der Erben zu einer Erwerbsgemeinschaft gerade in den besitzenden Schichten eine, jenen okzidentalen Hausassoziationen, aus denen später (wenigstens in Italien) unsre »offene Handelsgesellschaft« hervorging, verwandte Rolle gespielt. Aber mit einem charakteristisch anderen ökonomischen Sinn. Wie stets im Patrimonialstaat, so hatte auch hier der Beamte, als solcher und als Abgabenpächter: – und die Beamten waren der Sache nach solche, – die optimalen Chancen der Vermögensakkumulation194. Verabschiedete Beamte legten ihr mehr oder minder legal erworbenes Vermögen in Grundbesitz an. Die Söhne blieben, im Interesse der Erhaltung der Vermögensmacht, als Ganerben in Erbengemeinschaft und[374] brachten die Mittel auf, wieder einige Mitglieder der Familie studieren zu lassen, um ihnen die Möglichkeit zu verschaffen, in die einträglichen Aemter zu gelangen und dadurch wiederum ihre Erbengemeinschaft zu bereichern und ihren Sippengenossen – wie es im weitesten Umfang als selbstverständlich galt – Aemter zu verschaffen. Es hatte sich so auf der Basis der politischen Besitzakkumulation ein, wenn auch labiles, Patriziat und ein Bodenmagnatentum mit Parzellenverpachtung entwickelt, welches weder feudales noch bürgerliches Gepräge trug, sondern auf Chancen rein politischer Aemterausbeutung spekulierte. Es war also, wie in Patrimonialstaaten typisch, nicht vorwiegend rationaler ökonomischer Erwerb, sondern, – neben dem Handel, der gleichfalls zu Anlage von Gelderwerb in Land führte, – vor allem innenpolitischer Beutekapitalismus, der die Vermögens-, insbesondere auch die Boden-Akkumulation beherrschte. Denn ihr Vermögen machten die Beamten, wie wir sahen, u.a. durch Steueragiotage: die willkürliche Festsetzung des Kurses, zu welchem die Pflichtigkeiten in Courant umzurechnen waren. An dieser Krippe mitgefüttert zu werden gaben die Examina Anwartschaft. Sie wurden daher stets erneut unter die Provinzen repartiert, wennschon nur ausnahmsweise fest kontingentiert. Die Einstellung der Examina in einem Bezirk war eine höchst wirksame, weil ökonomisch höchst empfindliche Strafe für die beteiligten Honoratiorenfamilien. Es ist klar, daß diese Art von Erwerbsgemeinschaft der Familie in der gerade entgegengesetzten Richtung wie die Entwicklung rationaler ökonomischer Betriebsgemeinschaften lag. – Vor allem aber war sie überdies streng sippengebunden. Damit kommen wir nun auf die schon wiederholt berührte Bedeutung der Sippenverbände zusammenhängend zu reden.

In China war die im okzidentalen Mittelalter schon so gut wie völlig erloschene Bedeutung der Sippe sowohl für die lokale Verwaltung der kleinsten Einheiten wie für die Art der ökonomischen Assoziation vollkommen erhalten geblieben und hatte sich sogar in einem Maß entwickelt, wie es anderwärts, auch in Indien, unbekannt geblieben ist. Die patrimoniale Regierung von oben her stieß mit den als Gegengewicht gegen sie fest ausgestalteten Organisationen der Sippen von unten her zusammen. Ein sehr bedeutender Bruchteil aller politisch gefährlichen »geheimen Gesellschaften« bestand bis in die Gegenwart[375] aus Sippen195. Die Dörfer hießen vielfach nach dem Namen einer Sippe196, welche in ihnen ausschließlich oder vorwiegend vertreten war. Oder sie waren Sippenkonföderationen. Die alten Grenzsteine zeigen, daß das Land nicht Einzelnen, sondern den Sippen zugeteilt war und die Sippenkommunion erhielt diesen Zustand in ziemlich weitem Umfang aufrecht. Aus der an Zahl mächtigsten Sippe wählte man den – oft besoldeten – Dorfvorstand. »Aelteste« (der Sippen) standen ihm zur Seite und beanspruchten das Recht der Absetzung. Die einzelne Sippe aber, von der jetzt zunächst zu reden ist, beanspruchte als solche selbständig die Macht, ihr Mitglied zu strafen und setzte dies durch, so wenig die moderne Staatsgewalt es offiziell anerkannte197.

Der Zusammenhalt der Sippe und seine Bewahrung – trotz der rücksichtslosen Eingriffe der Patrimonialverwaltung mit ihren mechanisch konstruierten Haftungsverbänden, ihren Umsiedelungen, Bodenumteilungen und Gliederungen der Bevölkerung nach ting: arbeitsfähigen Individuen, – beruhte zweifellos ganz und gar auf der Bedeutung des Ahnenkults als des einzigen nicht durch die cäsaropapistische Regierung und ihre Beamten, sondern durch den Hausvorstand als Hauspriester, unter Assistenz der Familie besorgten, aber unzweifelhaft klassischen und uralten »Volkskults«. Schon im »Männerhaus« der militaristischen Urzeit scheinen die Ahnengeister eine Rolle gespielt zu haben, – was beiläufig bemerkt, mit wirklichem Totemismus schwer vereinbar scheint und auf den Gefolgschaftscharakter und das daraus entwickelte Erbcharisma des Fürsten und der Gefolgen unter der Form des Männerhauses als die älteste als wahrscheinlich zu erschließende Organisationsform hinweisen könnte198. Wie dem sei: in historischer Zeit war von jeher der Glaube an die Macht der Ahnengeister,[376] nicht nur der eignen199, aber vor allem der eignen, an ihre rituell und literarisch bezeugte Vermittler-Rolle für Wünsche der Nachfahren beim Himmelsgeist oder -Gott200, an die unbedingte Notwendigkeit, sie durch Opfer zu befriedigen und günstig zu stimmen, der schlechthin grundlegende Glaube des chinesischen Volks. Die Ahnengeister der Kaiser waren die nahezu gleichgeordneten Gefolgschaft des Himmelsgeistes201. Ein Chinese, der keinen männlichen Nachfahren hatte, mußte unbedingt zur Adoption schreiten, und wenn er dies unterließ, so nahm die Familie eine posthume fiktive Adoption für ihn vor202, – weniger in seinem, als in ihrem eignen Interesse: um Ruhe vor seinem Geist zu haben. Die soziale Wirkung dieser alles beherrschenden Vorstellungen liegt klar zutage. Zunächst die ungeheure Stärkung der patriarchalen Gewalt203. Dann aber[377] der Zusammenhalt der Sippe als solcher. In Aegypten, wo der Toten- aber nicht: der Ahnen-Kult alles beherrschte, zerbrach ebenso (aber ganz erheblich früher) wie in Mesopotamien der Zusammenhalt der Sippe unter dem Einfluß der Bürokratisierung und des Fiskalismus. In China erhielt und stärkte er sich und wuchs zu einer den politischen Herrengewalten ebenbürtigen Macht empor.

Im Prinzip jede Sippe hatte (und zwar bis in die Gegenwart hinein) ihre Ahnenhalle204 im Dorf. Außer den Kultparamenten enthielt sie oft eine Tafel der von der Sippe anerkannten »Moralgesetze«. Denn das Recht, sich selbst Statuten zu geben, war für die Sippe faktisch nie bezweifelt und wirkte nicht nur praeter, sondern – sogar in Ritualfragen – unter Umständen auch contra legem205. Die Sippe stand nach außen solidarisch zusammen. Existierte auch, außerhalb des Kriminalrechts, wie erwähnt, Solidarhaft nicht, so pflegte sie doch, wenn möglich, die Schulden eines Mitglieds zu ordnen. Unter Vorsitz des Aeltesten verhängte sie nicht nur Prügel und Exkommunikation – welche bürgerlichen Tod bedeutete – sondern, wie der russische Mir, auch Strafexil. Das oft starke konsumtive Leihebedürfnis wurde gleichfalls wesentlich innerhalb der Sippe befriedigt, wo die Nothilfe als sittliche Pflicht besitzender Mitglieder galt. Freilich mußte auch einem Nichtmitglied, bei hinlänglich vielen Kotaus, geliehen werden: denn man konnte nicht riskieren, die Rache des Geistes des Verzweifelnden, wenn er Selbstmord beging, auf sich zu ziehen206. Und freiwillig scheint niemand leicht zurückgezahlt zu haben, am wenigsten dann, wenn er eine starke Sippe hinter sich wußte. Immerhin: eine klar geregelte Nothilfepflicht und Kreditbeihilfe war primär nur innerhalb der Sippe gegeben. Die Sippe führte nötigenfalls Fehden nach außen207: die rücksichtslose Tapferkeit hier, wo[378] es sich um persönliche Interessen und persönliche Verbundenheit handelte, kontrastierte auf das augenfälligste mit der vielberufenen »Feigheit« der aus gepreßten Rekruten oder aus Söldnern bestehenden Heere der Regierung. Die Sippe sorgte nötigenfalls für Medikamente, Arzt und Begräbnis, versorgte die Alten und Witwen, vor allen Dingen: die Schulen. Die Sippe besaß Eigentum, vor allem: Grundeigentum (»Ahnenland«: schi tien208 und, bei wohlhabenden Sippen, oft umfangreiches Stiftungsland. Sie verwertete dies durch Verpachtung (meist durch Auktion auf 3 Jahre), Veräußerungen davon galten nur bei Dreiviertelmehrheit für zulässig. Der Ertrag wurde an die Hausväter verteilt. Typisch so: daß alle Männer und alle Witwen eine Einheit, vom 59. Jahr an zwei, vom 69. an drei Einheiten erhielten. Innerhalb der Sippe galt eine Kombination erbcharismatischer und demokratischer Prinzipien. Alle verheirateten Männer hatten gleiches Stimmrecht, die nichtverheirateten Männer nur beratende Stimmen, die Frauen waren, wie vom Erbe (sie hatten nur Mitgiftanspruch), so von den Sippenberatungen ausgeschlossen. Als Verwaltungsausschuß fungierten die Aeltesten, nach Erbstämmen, aber: von allen Sippengenossen als Wählern, jährlich gekoren, welche die Einkünfte einzuziehen, den Besitz zu verwerten und den Ertrag zu verteilen, vor allem die Ahnenopfer zu besorgen und Ahnenhallen und Schulen in Ordnung zu halten hatten. Den Wahlvorschlag machten die Abtretenden, und zwar nach der Altersrangfolge; im Fall der Ablehnung wurde der Nächstfolgende präsentiert.

Gemeinsamer Erwerb von Land durch Kauf oder Pacht und Verteilung an die Hausväter war bis in die Gegenwart üblich. Mandarine, Kaufleute oder sonst endgültig vom Land Verziehende wurden abgefunden, erhielten einen Auszug aus dem Familienbuch als Ausweis, blieben der Sippenjurisdiktion unterworfen, konnten aber ihr Anteilsrecht zurückkaufen. Wo noch[379] die alten Verhältnisse herrschten, ging Erbland selten in fremde Hände über. Die Hausspinnerei, -weberei und -schneiderei der Frauen ließ ein selbständiges Textilgewerbe nur in mäßigem Umfang aufkommen, zumal die Frauen auch für den Absatz arbeiteten209. Auch die Kopf- und Fußbekleidung waren meist Hausprodukte. Da die Sippe 1) auch Trägerin der für den Einzelnen wichtigsten Feste (meist zweimal jährlich für die Ahnen) und Objekt der von den Hausvätern zu schreibenden Familiengeschichte war, da es 2) noch bis in die Gegenwart als Sache der Sippe galt, dem Lehrling und mittellosen Lohnwerker gegen sehr billigen Zins das Kapital darzuleihen, um zum »selbständigen« Handwerker aufzusteigen, da ebenso 3) wovon schon gesprochen ist: die Sippenältesten die jungen Leute auswählten, welche sie für das Studium für qualifiziert hielten und die Vorbereitungs-, Prüfungs- und Amtskauf-Kosten verschafften, – so bedeutete offensichtlich dieser Verband neben einer starken ökonomischen Stütze für die Versorgungsautarkie der Haushaltungen, also: für Beschränkung der Entfaltung des Marktes, sozial: schlechthin das Ein und Alle für die Existenz seiner Mitglieder, auch die in der Fremde, insbesondre in der Stadt lebenden210.

Die »Stadt« war, wie im allgemeinen schon früher angedeutet, eben infolgedessen nie die »Heimat«, sondern eigentlich die typische »Fremde« für die Mehrzahl ihrer Einwohner. Um so mehr als sie sich vom Dorf, von dem nun zu sprechen ist, durch den früher erwähnten Mangel an organisierter Selbstverwaltung unterschied. Man kann, ohne allzugroße Uebertreibung, sagen, daß die chinesische Verwaltungsgeschichte ausgefüllt ist von dem stets erneuten Streben der kaiserlichen Verwaltung, sich auch außerhalb der Stadtbezirke zur Geltung zu bringen. Abgesehen von Kompromissen in der Steuerleistung aber gelang ihr dies nur auf kurze Zeiten und konnte, bei der ihr eigenen Extensität, dauernd auch nicht gelingen. Diese Extensität: die geringe Zahl der wirklichen Beamten, war bedingt durch die Finanzen (und bedingte ihrerseits wieder deren Lage). Die offizielle kaiserliche Verwaltung blieb, der Sache nach, eine Verwaltung von Stadtbezirken und Stadtunterbezirken.[380] Hier, wo ihr die massiven Blutsverbände der Sippen nicht so wie draußen gegenüberstanden, konnte sie – wenn sie sich mit den Gilden und Zunften verhielt – effektiv wirken. Außerhalb der Stadtmauern hörte ihre Gewalt sehr schnell auf, wirklich effektiv zu sein. Denn neben der an sich schon großen Gewalt der Sippen stand hier auch noch die organisierte Selbstverwaltung des Dorfes als solchen ihr gegenüber. Da auch Bauern zahlreich in den Städten wohnten, diese also meist »Ackerbürgerstädte« waren, so besteht nur der verwaltungstechnische Unterschied: »Stadt« gleich Mandarinensitz ohne Selbstverwaltung, – »Dorf« gleich Ortschaft mit Selbstverwaltung ohne Mandarinen!

Die dorfmäßige Siedelung211 als solche beruhte in China auf dem Bedürfnis nach Sicherheit, welches die jedes Begriffs von »Polizei« ermangelnde extensive Verwaltung des Reichs niemals hat befriedigen können. Die Dörfer waren meist befestigt, ursprünglich und, wie es scheint, oft noch heute: pallisadiert, wie die alten Städte, häufig aber auch: ummauert. Sie stellten, zur Ablösung der Reih-um-gehenden Wachtpflicht (s. gleich) die besoldeten Wächter an. Von der »Stadt« unterschieden sie sich – zuweilen viele Tausende von Einwohnern zählend – eben dadurch: daß sie selbst diese Funktionen wahrnahmen und dazu, im Gegensatz zur Stadt212, ihr Organ hatten. Dies war, da ein »Korporations«-Begriff dem chinesischen Recht und vollends den Denkgewohnheiten der Bauern natürlich völlig fehlte: – der Dorftempel213, der in der Neuzeit meist irgendeinem der populären Götter: dem General Kwan Ti (Kriegsgott), dem Pah Ti (Handelsgott), dem Wan Tschang (Gott der Schulen), dem Lang Wang (Regengott), dem Tuti (einem unklassischen Gott, dem wegen der »Conduite« des Toten im Jenseits jeder Todesfall notifiziert werden mußte) usw. dediziert zu sein pflegte, – welchem? scheint ziemlich gleichgültig gewesen zu sein. Denn ähnlich wie im klassischen Altertum des Okzidents beschränkte sich die »religiöse« Bedeutung des Tempels214[381] auf wenige rituelle Manipulationen und gelegentliche Gebete einzelner und hatte er im übrigen seine Bedeutung nur in profanen sozialen und rechtlichen Vorgängen.

Der Tempel hatte, wie die Ahnenhalle, Eigentum, vor allem: Grundeigentum215. Aber sehr oft auch Geldbesitz, den er zu nicht immer niedrigen Zinsen216 auslieh. Der Geldbesitz stammte vor allem aus den traditionellen Marktabgaben: die Marktstände standen von altersher, wie fast überall in der Welt, unter dem Schutz des Lokalgotts. Das Tempelland wurde, wie das Ahnenland, verpachtet, und zwar vorzugsweise an die Besitzlosen des Dorfes, die daraus entspringenden Renten und überhaupt alle Einkünfte des Tempels wurden jährlich ebenfalls an Einnahmepächter vergeben, der nach Abzug der Kosten bleibende Reinertrag verteilt. Die Wahrnehmung der Tempelverwalterstellen war, scheint es, meist eine Leiturgie der Hausväter des Dorfes: sie gingen reihum von Haus zu Haus; das Dorf war dazu in Bezirke von 100-500 Einwohnern geteilt. Neben diesen Verwaltern aber standen die »Honoratioren« des Dorfs: die Sippenältesten und Literaten, mit – nominellen – Remunerationen. Nur sie erkannte die jeder Legalisierung von Korporationen oder Korporationssurogaten abgeneigte politische Regierung als Vertreter des Dorfs an. Sie ihrerseits aber handelten im Namen »des Tempels«. Der »Tempel« schloß durch sie Kontrakte für das Dorf ab. Der »Tempel« hatte Gerichtsbarkeit in Bagatellsachen und usurpierte sehr oft solche in Sachen aller Art, ohne daß die Regierung – außer bei Staatsinteressen – intervenierte. Dies Gericht, nicht die staatliche Gerichtsbehörde, genoß das Vertrauen der Bevölkerung. Der »Tempel« sorgte für Straßen, Kanäle, Verteidigung, polizeiliche Sicherheit, – durch Turnus-Wachtpflicht, die faktisch meist abgelöst wurde, – Verteidigung gegen Räuber oder Nachbardörfer, für Schule, Arzt, Medikamente, Begräbnis, soweit die Sippen dies nicht tun konnten oder wollten. Der Dorftempel[382] enthielt das Waffendepot des Dorfs. Durch den Dorftempel, der in dieser Funktion der »Stadt« fehlte, war das Dorf rechtlich und faktisch als Kommunalkörper aktionsfähig. Vor allem: das Dorf, nicht aber die Stadt, war ein, im Umkreis der Interessen der Dorfbewohner, tatsächlich wehrhafter Verband.

Nicht immer hat sich die Regierung derart auf den laissezfaire-Standpunkt gegenüber dieser inoffiziellen Selbstverwaltung gestellt, wie in der letzten Zeit des alten Regims. Unter den Han versuchte sie z.B. den reinen patrimonialen Absolutismus Schi Hoang Ti's durch geordnete Heranziehung der Gemeindeältesten zu Selbstverwaltungsämtern (san lao) abzubauen und die urwüchsige Selbstverwaltung so zu reglementieren und zu legalisieren217. Der Dorfvorsteher (Schou saih yen) sollte gewählt und bestätigt werden, unter Garantie der Grundbesitzer für seine gute Aufführung: nur gelegentlich aber ging das wirklich so zu. Und die Regierung ignorierte auch immer wieder das Dorf als Einheit. Denn immer wieder schlugen die reinen fiskalischen Interessen durch. Wang An Schi insbesondere rationalisierte, wie schon in andern Zusammenhang erwähnt, das System unter diesem Gesichtspunkte. Formal hatten noch heute je 10 Familien, als »pai« zusammengefaßt, ihren Obmann, je 100: jede »chia«, ihr Haupt: po chia, gewöhnlich »tipao« genannt. An jedem Haus sollte in Dorf und Stadt ein Plakat kleben (und klebte auch tatsächlich da, wo die Tradition lebte), welches die Hausnummer, chia, pai, Eigentümer, Namen des Familienhauptes, Geburtsort (Heimatsrecht) der Familie, ihre Glieder und Mieter und deren Beruf, abwesende Glieder (seit wann?), die Pachtrente, Steuerpflicht, Zahl der selbst bewohnten und der vermieteten Räume enthielt. Für die Polizei und Aufsicht auf[383] Verbrecher und Geheimklubs haftete offiziell der po chia. Nicht zu seinen unwichtigsten Aufgaben gehörte die Verantwortlichkeit für die Durchführung der später zu besprechenden kaiserlichen Religionspolizei. – Dieser Selbstverwaltungsbeamte (tipao) sollte die Verbindung zwischen dem obrigkeitlichen und dem Selbstverwaltungs-Regiment herstellen. Er pflegte sich namentlich, wo und solange das System funktionierte, einige Zeit auf dem Bureau des hsien-Magistrates aufzuhalten, um ihn zu informieren. Indessen war dies in der neuesten Zeit alles bereits wesentlich formal geworden, das Amt des »tipao« hatte sich vielfach – es scheint nach chinesischen Autoren: der Regel nach – einfach in eine unklassische, deshalb minder bewertete, staatliche Stellung verwandelt. Die Kräfte, mit denen der Staatsapparat eigentlich zu rechnen hatte, waren die eventuell nach Art einer Veme in Funktion tretenden, im Fall von Konflikten gefährlichen Sippenältesten, die hinter der Dorfverwaltung standen.

Dabei darf man sich das Leben des Bauern in einem chinesischen Dorf, allen Anzeichen nach, keineswegs als eine harmonische patriarchale Idylle vorstellen. Nicht nur die Fehden nach außen bedrohten den Einzelnen recht oft. Nein: vor allem fungierte die Sippenmacht und auch die Verwaltung des Dorftempels überaus oft in gar keiner Weise genügend, um Besitz: zumal überragenden Besitz, zu schützen. Die, sozusagen, »effektiven« Bauern (»lao schih« genannt) waren dann in sehr typischer Art der Willkür der »Kung kun:«, der »Kulaki« (»Fäuste«), wie man in russischer Bauernterminologie sagen würde, einfach ausgeliefert. Und zwar nicht, wie in Rußland, der Herrschaft einer »Dorf-Bourgeoisie« von Wucherern und ihren Interessenverwandten (wie es die dortigen »Kulaki« waren): dagegen hätte sich, sahen wir, leicht göttliche und menschliche Hilfe gefunden. Sondern umgekehrt den von jenem Kung kun organisierten Besitzlosen218, also der »bjednata« (»Dorfarmut«) im Sinn der Terminologie des Bolschewismus, der darin seine Anziehungskraft auf China begründet finden dürfte. Gegen diese Organisation war jeder einzelne (oder auch eine Gruppe einzelner) größerer Besitzer oft völlig schutz- und machtlos219. Und[384] wenn in den letzten Jahrhunderten größere Besitzungen in China zu den Ausnahmen gehörten, so hat dazu sicher dieser Umstand: eine Art von ethisch und durch die Sippenmacht stark temperiertem naivem »Bauernbolschewismus«, der einfach die Folge mangelnder Garantien des Besitzes durch die Zwangsgewalt des Staates war, das Seinige beigetragen. – Unterhalb des hsien-Bezirks, der immerhin etwa die Größe einer englischen »county« hatte, existierten nur solche autochthon: offiziell: im Ehrenamt, tatsächlich oft: als »Kulaki«, funktionierende Selbstverwaltungsinstan zen. Aber auch neben der offiziellen Verwaltung der Bezirke, bis zur Provinz hinauf, existierten sehr vielfach Personengremien, welche durch jederzeit wiederrufliche, auf 3 Jahre begrenzte, »Delegierung« – tatsächlich: durch anerkanntes oder usurpiertes Charisma – bestellt waren und die Beamten »berieten«220. Ihre Struktur soll uns hier nicht interessieren.

Mit jenem Gremium einer fest zusammenhaltenden lokalen Honoratiorenschicht innerhalb des Dorfes, die ihm gegenüberstand, mußte man dort bei jedem Versuch etwa einer Erhöhung der traditionellen Abgaben, aber auch bei allen sonstigen Aenderungen irgendwelcher Art paktieren, um irgend etwas durchzusetzen. Denn andernfalls war der Beamte hartnäckiger Renitenz ebenso sicher, wie, im gleichen Fall, der Grundherr, Vermieter, Arbeitgeber, überhaupt jeder außerhalb der Sippe stehende »Vorgesetzte«. Wie ein Mann stand die Sippe des sich benachteiligt Fühlenden zu ihrem Sippengenossen221, und ihr geschlossener Widerstand wirkte naturgemäß ungleich nachhaltiger als etwa bei uns ein Streik einer freigebildeten Gewerkschaft. Schon dadurch wurde jede »Arbeitsdisziplin« und freie Marktauslese der Arbeiterschaft, wie sie modernen Großbetrieben eignet, ebenso durchkreuzt wie jede rationale Verwaltung okzidentaler Art. Gegenüber der literarisch gebildeten Beamtenschaft war das[385] aliterarische Alter also solches das stärkste Gegengewicht. Dem absolut bildungslosen Aeltesten seiner Sippe hatte sich innerhalb der durch die Tradition festgelegten Sippenangelegenheiten auch der durch noch so viele Examina gegangene Beamte bedingungslos zu fügen.

Ein praktisch erhebliches Maß von ursurpierter und konzessionierter Selbstverwaltung stand jedenfalls einerseits: in Gestalt der Sippen, andererseits: dieser Organisationen der Armut, der Patrimonialbureaukratie gegenüber. Deren Rationalismus befand sich hier gegenüber einer im ganzen und auf die Dauer ihm weit überlegenen, weil stetig und vom engsten persönlichen Verbande gestützt wirkenden, entschlossen traditionalistischen Macht. Jede Neuerung, welcher Art immer, konnte ja überdies bösen Zauber stiften. Sie erschien aber vor allem des Fiskalismus verdächtig und stieß auf scharfen Widerstand. Keinem Bauern würde es je eingefallen sein, dabei an »sachliche« Motive zu glauben, – darin ganz wie die russischen Bauern in Tolstoys »Auferstehung«. Die Sippenältesten waren es auch: – das geht uns hier besonders an –, deren Einfluß für die Annahme oder Verwerfung religiöser Neuerungen meist entscheidend war und, selbstverständlich, fast ausnahmslos in die Wagschale der Tradition fiel, insbesondere wo sie Bedrohung der Ahnenpietät witterten. Diese gewaltige Macht der streng patriarchal geleiteten Sippen war in Wahrheit der Träger jener vielberedeten »Demokratie« in China, welche nur der Ausdruck 1. des Fortfalls feudaler Ständebildung, 2. der Extensität der patrimonial-bureaukratischen Verwaltung und 3. der Ungebrochenheit und Allgewalt der patriarchalen Sippen andererseits war und mit »moderner« Demokratie gar nichts gemein hatte.

Auf realer oder nachgeahmter persönlicher Versippung ruhten fast alle diejenigen organisatorischen Gebilde ökonomischer Art, welche über den Rahmen der Einzelwirtschaft überhaupt hinausgriffen. Zunächst die Tsung-tse-Gemeinschaft. Die in dieser Form organisierte Sippe besaß neben der Ahnenhalle und dem Unterrichtsgebäude auch Sippenhäuser für Vorräte und Geräte zur Reisverarbeitung, Konservenbereitung, Weberei und andere Hausproduktionen, eventuell mit einem dafür angestellten Verwalter, abgesehen davon, daß sie ihre Mitglieder in Notlagen durch gegenseitige Hilfe und unentgeltlichen oder billigen Kredit stützte. Sie bedeutete also: produktivgenossenschaftlich[386] erweiterte Sippen- und kumulative Hausgemeinschaft. Andererseits bestanden neben dem gewerblichen Einzelmeisterbetrieb in den Städten spezifisch kleinkapitalistische (genossenschaftliche) Betriebsgemeinschaften in gemeinsamen Ergasterien mit oft weitgehender manueller Arbeitsteilung, oft mit durchgeführter Spezialisierung der technischen und kaufmännischen Betriebsführung und mit Verteilung des Gewinns nach Maßgabe teils (und namentlich) der Kapitalanteile, teils der spezifischen (z. ß. kaufmännischen oder technischen) Leistungen. Aehnliches hat das hellenistische Altertum und das islamische Mittelalter gekannt. Es scheint, daß solche Ergasterien sich in China namentlich in Saisongewerben zum gemeinsamen Durchhalten durch die absatzlose Zeit fanden, im übrigen natürlich zur Erleichterung der Kreditbeschaffung und zu arbeitsteiliger Produktion. Alle Diese Formen der Schaffung größerer Wirtschaftseinheiten hatten, sozial angesehen, einen spezifisch »demokratischen« Charakter. Sie stützten die Existenz des einzelnen gegen die Gefahr der Proletarisierung und kapitalistischen Unterjochung. Rein ökonomisch konnte diese sich allerdings in Gestalt von hohen Einlagen nicht mitarbeitender Kapitalisten und in der Uebermacht und den hohen Gewinnanteilen der angestellten Verkäufer einnisten. Das Verlagssystem dagegen, welches bei uns die kapitalistische Unterjochung einleitete, steckte anscheinend bis in die Gegenwart, – in welcher es quantitativ bedeutend namentlich in den Fernabsatzgewerben entwickelt ist, – organisatorisch noch in den verschiedenen Formen rein faktischer Abhängigkeit des Handwerkers vom Händler und war nur in einzelnen Gewerben bis zur Heimarbeit mit eingesprengten Zwischenmeisterwerk stätten und zentralem Verkaufsbureau vorgeschritten. Die – wie wir sahen – außerordentlich geringe Chance, Leistungen Abhängiger überhaupt und zumal in vorgeschriebener Qualität, Quantität und Frist zu erzwingen, war dafür wohl entscheidend. Privatkapitalistische Großmanufakturen sind anscheinend historisch kaum nachweisbar, für Massenartikel auch unwahrscheinlich, da der stetige Markt fehlte. Die Textilindustrie kam gegen das Hausgewerbe schwer auf; nur die Seide hatte ihren Markt, auch Fernmarkt. Aber diesen letzteren okkupierten die Seidenkarawanen des kaiserlichen Oikos. Die Metallindustrie konnte bei der großen Unergiebigkeit der Bergwerke nur bescheidene Dimensionen annehmen. Diese Unergiebigkeit[387] ihrerseits war Folge jener allgemeinen Gründe, von denen teils schon geredet ist, teils noch zu reden sein wird. Für die Teebereitung finden sich bildliche Darstellungen großer arbeitsteiliger Werkstätten, vergleichbar den altägyptischen Bildern ähnlicher Art. Die staatlichen Manufakturen stellten (normalerweise) Luxusartikel her (wie im islamischen Aegypten); die Erweiterung der staatlichen Metallindustrie aus valutarischen Gründen war vorübergehend. Die Zünfte, von denen schon gesprochen wurde, regulierten zwar das Lehrlingswesen. Von besonderen Gesellenverbänden hören wir dagegen nichts. Die Arbeiter schlossen sich nur in Einzelfällen, gegen die Meister zu einem Streik zusammen, zeigten aber im übrigen anscheinend kaum Ansätze zur Entwicklung einer eigenen Klasse. Aus ähnlichen Gründen wie, bis vor 30 Jahren, in Rußland. Sie gehörten, soviel bekannt, den Zünften zu gleichem Recht mit an. Richtiger: dem durchaus kleinhandwerklichen, im allgemeinen nicht einmal kleinkapitalistischen Charakter des Gewerbes entsprach es, daß eine monopolistische Schließung der Zunft gegen den Nachwuchs im allgemeinen nicht stattfand. Ebenso hat die immer wieder aufgetauchte und zeitweise anscheinend durchgeführte Absicht leiturgischer Schließung der Berufe, der zur Kastenbildung hätte führen können, letztlich diesen Erfolg nicht gehabt. Die Annalistik spricht namentlich von einem Ende des 6. Jahrhunderts gemachten vergeblichen Versuch dieser Art. Ein Rest magisch »unreiner« Stämme und Berufe war geblieben. Man pflegt222 neun Arten degradierter »Kasten« zu unterscheiden, teils bestimmte Sklavenarten, teils bestimmte Sklaven- oder Kolonen-Abkömmlinge, teils Bettlerkasten, teils Abkömmlinge früherer Insurgenten, teils Abkömmlinge zugewanderter Barbaren (Gaststämme), teils Musiker und bestimmte an Familienzeremonien beteiligten Akteure, ferner Schauspieler und Gaukler – wie im okzidentalen Mittelalter. Für die unreinen Berufe bestanden, wie unter indischen Verhältnissen, feste, vererbliche und verkäufliche Kundschaften. Konnubium, Kommensalität und Zulassung zu den Graden blieb allen degradierten Kasten versagt. Jedoch war kraft kaiserlicher Erlasse für diejenigen, welche einen unreinen Beruf aufgaben, gerichtliche Rehabilitierung zulässig (und wurde z.B. noch 1894 für einzelne dieser Kasten verfügt).[388] Sklaverei entstand seit Einstellung der Eroberungskriege durch Ergebung oder Verkauf seitens der Eltern oder (strafweise) seitens der Regierung. Der Freigelassene schuldete dem Patron Obödienz – wie im Okzident – und war unfähig, Grade zu erwerben. Die Kontraktarbeiter (Ku kong) schuldeten während des Dienstes Obödienz und entbehrten der Kommensalität mit dem Herren223.

Was von solchen kastenartigen Erscheinungen bis in die Gegenwart geblieben war, bildete nur einen kümmerlichen Rest der einstigen ständischen Gliederung, deren praktische Konsequenz vor allem in der Befreiung der privilegierten Stände (»große Familien« – der Ausdruck: »die hundert Familien« für »das Reich« meinte diese Schicht – und Literaten) von der Fronpflicht und Prügelstrafe (die bei ihnen in Geld und Haft umgewandelt wurde) bestand. Degradation zum »Plebejer« war möglich. Die alte erbcharismatische ständische Gliederung wurde schon früh durch die für fiskalische Zwecke stets erneut vorgenommene Gliederung nach reinen Besitzklassen durchbrochen.

Neben den Sippen, den Gilden und Zünften blühte im neuzeitlichen China – für die Vergangenheit ist für den Außenstehenden224 Sicheres nicht zu ermitteln – die Assoziation in Form des Klubs, hwui, auf allen, auch ökonomischen, kreditgenossenschaftlichen, Gebieten225. Dies soll uns im einzelnen hier nicht interessieren. Ziel und Sporn des Ehrgeizes und soziale Legitimation für den, der sie erreichte, war jedenfalls in modernen Zeiten die Zugehörigkeit zu einem angesehenen Klub in der chinesischen Nivelliertheit wie in der amerikanischen Demokratie. Ganz ebenso wie das am Laden angeheftete Aufnahmediplom der chinesischen Zunft dem Käufer die Warenqualität[389] garantierte226. Die Extensität der patrimonialbureaukratischen Verwaltung in Verbindung mit dem Fehlen einer rechtlich gesicherten ständischen Gliederung bedingte auch diese Erscheinungen.

Außer einem verliehenen Titularadel existierten in der Neuzeit – wenn die strenge Scheidung der im Mandschu-Heerbann registrierten Familien, der Ausdruck der seit dem 17. Jahrhundert bestehenden Fremdherrschaft, beiseite gelassen wird – geburtsständische Unterschiede unter Chinesen selbst, sahen wir, nicht mehr. Und nachdem zuerst im 8. Jahrh. die »bürgerlichen« Schichten eine starke Lockerung der polizeistaatlichen Fesselung erlangt hatten, bestand im 19. Jahrhundert, und zwar offenbar seit langer Zeit: Freizügigkeit, obwohl auch diese in offiziellen Edikten nicht anerkannt war. Die Zulassung zur Ansiedelung und zum Grundbesitz in einer andern als der Heimatgemeinde ist sicherlich, wie im Okzident, erst durch den Fiskalismus erzwungen worden. Seit 1794 erwarb man die Ortszugehörigkeit durch Erwerb von Grundbesitz und 20 jährige Steuerzahlung und verlor damit die Ortszugehörigkeit in der Heimatgemeinde227. Ebenso bestand seit langem – so sehr (1671) das »Heilige Edikt« noch das Bleiben im Beruf empfahl – freie Berufswahl. In der Neuzeit bestand weder Paßzwang noch Schul- oder Militärdienstzwang. Ebenso fehlten Wucher- und ähnliche den Güterverkehr beschränkende Gesetze. Immer wieder muß angesichts all dessen betont werden: Dieser, der freien Entfaltung des bürgerlichen Erwerbs scheinbar höchst förderliche Zustand hat dennoch keine Entwicklung eines Bürgertums okzidentalen Gepräges hervorgebracht. Wie wir sahen, sind nicht einmal diejenigen Formen kapitalistischen Erwerbes zur Vollreife gelangt, welche im Okzident schon das Mittelalter kannte. Es hätte sich, – wieder die alte Frage: aus den erwähnten kleinkapitalistischen Ansätzen, rein ökonomisch angesehen, recht gut ein rein bürgerlicher, gewerblicher Kapitalismus entwickeln können. Eine Reihe von[390] Gründen lernten wir schon kennen. Sie führten fast alle auf die Staatsstruktur zurück.

Politisch stand die patrimoniale Staatsform, vor allem der patrimoniale Charakter der Verwaltung und Rechtsfindung mit ihren typischen Folgen: dem Nebeneinander eines Reiches der unerschütterlichen heiligen Tradition und eines Reiches der absolut freien Willkür und Gnade, hier wie überall der Entwicklung wenigstens des in dieser Hinsicht besonders empfindlichen gewerblichen Kapitalismus im Wege: das rational kalkulierbare Funktionieren der Verwaltung und Rechtspflege, welches ein zum rationalen Betrieb sich entwickelndes Gewerbe bedurfte, fehlte. In China, wie in Indien, wie im islamischen Rechtsgebiet und überhaupt überall, wo nicht rationale Rechtsschaffung und Rechtsfindung gesiegt hatte, galt der Satz: »Willkür bricht Landrecht«. Er konnte aber der Entwicklung kapitalistischer Rechtsinstitute nicht, wie er es im okzidentalen Mittelalter tat, zugute kommen, weil einerseits die korporative Autonomie der Städte als politischer Einheiten und andererseits die privilegienmäßig garantierte und fixierte Festlegung der entscheidenden Rechtsinstitutionen: – die, beide zusammen, im Mittelalter, gerade mit Hilfe dieser Grundsätze, alle dem Kapitalismus gemäßen Rechtsformen geschaffen haben, – fehlte. Das Recht war zwar in weitem Umfang nicht mehr eine von Ewigkeit her geltende und nur – durch magische Mittel – richtig zu »findende« Norm. Denn die kaiserliche Verwaltung war sehr fruchtbar gewesen in der Schaffung massenhaften Statutarrechtes. Und zwar zeichnen sich ihre Bestimmungen, im Gegensatz etwa zu den patriarchalen Belehrungen und Vermahnungen buddhistischer Monarchen Indiens, – mit denen die ethischen oder verwaltungsmäßigen Anordnungen manche Aehnlichkeit haben –, wenigstens auf dem eigentlichen Rechtsgebiet durch relativ knappe geschäftliche Form, und z.B. auf dem Gebiet des Strafrechtes, wie besonders J. Kohler betont hat, durch ein ziemliches Maß von Sublimierung der Tatbestände (Berücksichtigung der »Gesinnung«) aus. Diese Statuten sind auch (im Ta Tsing Liu Li) systematisch gesammelt. Aber privatrechtliche Bestimmungen gerade über die für den Verkehr in unserem Sinn wichtigsten Gegenstände vermißt man fast völlig (sie erscheinen hie und da indirekt). Wirklich garantierte »Freiheitsrechte« des einzelnen fehlten im Grunde gänzlich. Der Rationalismus des[391] Literatenbeamtentums in den miteinander konkurrierenden Teilstaaten hatte in einem Einzelfall (536 n. Chr. im Staate Tsheng) die Kodifikation des Rechts (auf Metalltafeln) in Angriff genommen. Aber bei der Diskussion dieser Frage innerhalb der Literatenschicht wurde nach der Annalistik228 mit Erfolg (durch einen Minister des Tsin-Staates) geltend gemacht: »Wenn das Volk lesen kann, wird es seine Oberen verachten.« Das Charisma der gebildeten Pa trimonialbureaukratie schien in Gefahr, an Prestige zu verlieren, und diese Machtinteressen ließen einen solchen Gedanken seitdem nie wieder aufkommen. Verwaltung und Rechtsfindung waren zwar formal durch den Dualismus der Fiskal- und Justizsekretäre, aber nicht wirklich in der Art ihrer Ausübung getrennt, wie auch – durchaus patrimonial – die Hausdiener des Beamten, die er auf seine Kosten engagierte, die Polizisten und Subalternbeamten für seine Verwaltung hergaben. Der antiformalistische patriarchale Grundzug verleugnete sich nirgends: anstößiger Lebenswandel wurde gestraft auch ohne Spezialbestimmung. Das Entscheidende war aber der innerliche Charakter der Rechtsfindung: Nicht formales Recht, sondern materiale Gerechtigkeit erstrebte der ethisch orientierte Patrimonialismus hier wie überall. Eine offizielle Präjudiziensammlung fehlte daher, trotz des Traditionalismus, weil der formalistische Charakter des Rechts abgelehnt wurde und, vor allem, kein Zentralgericht wie in England bestand. Die Präjudizien kannte der lokale »Hirte« des Beamten. Wenn dem Beamten empfohlen wurde: nach bewährten Mustern zu verfahren, so entsprach das äußerlich etwa der Gepflogenheit des Arbeitens nach »Similia« bei unseren Assessoren. Aber was hier Impotenz, war dort höchste Tugend. Die Edikte der Kaiser selbst über Verwaltungsmaßregeln hatten meist jene lehrhafte Form, welche päpstlichen Bullen des Mittelalters eignet, nur ohne deren dennoch meist vorhandenen präzisen rechtlichen Gehalt. Die bekanntesten von ihnen stellten Kodifikationen von ethischen, nicht von rechtlichen Normen dar und zeichneten sich durch literarische Gelehrsamkeit aus. Noch der vorletzte Kaiser gab z.B. die Wiederauffindung des Dekrets eines entfernten Vorfahren in der Peking Gazette kund, dessen Publikation als Lebensnorm er in Aussicht stellte. Die ganze kaiserliche Verwaltung stand – soweit sie orthodox orientiert war – unter dem Einfluß einer dem Wesen nach theokratischen,[392] etwa einer Kongregation der päpstlichen Kurie entsprechenden Literatenbehörde: der sog. »Akademie« (Han-lin-yuan), der Hüterin der reinen (konfuzianischen) Orthodoxie, die uns mehrfach begegnet ist.

Die Justiz blieb demgemäß weitgehend »Kadi«-und eventuell »Kabinet«-Justiz229. Das war zwar, den unteren Klassen gegenüber, z.B. auch in der Friedensrichterjustiz Englands der Fall. Aber für die kapitalistisch wichtigen Vermögenstransaktionen bestand dort das unter dem stetigen, schon durch die Rekrutierung der Richter aus den Advokaten garantierten, Einfluß der Interessenten geschaffene, nicht rationale, aber berechenbare und der Vertragsautonomie weitgehenden Spielraum gebende Präjudizienrecht mit der ihm entsprechenden Kautelarjurisprudenz. In der patriarchalen chinesischen Justiz war dagegen für Advokaten im okzidentalen Sinn gar kein Platz. Als Anwälte fungierten für die Sippengenossen etwaige literarisch gebildete Mitglieder; sonst fertigte ein Winkelkonsulent die Schriftsätze. Es war eben die in allen spezifischen Patrimonialstaaten, am meisten in den theokratischen oder ethisch-ritualistischen Patrimonialstaaten orientalischen Gepräges, wiederkehrende Erscheinung: daß zwar neben der wichtigsten, aber nicht »kapitalistischen« Quelle der Vermögensakkumulation: der rein politischen Amts- und Steuerpfründe, auch »Kapitalismus«: der Kapitalismus der Staatslieferanten und Steuerpächter, also: politischer Kapitalismus, blühte und unter Umständen wahre Orgien feierte, daß ferner auch der rein ökonomische, d.h. vom »Markt« lebender Kapitalismus des Händlertums sich entwickeln konnte, – daß dagegen der rationale gewerbliche Kapitalismus, der das Spezifische der modernen Entwicklung ausmachte, unter diesem Regime nirgends entstanden ist. Denn die Anlage von Kapital in einem gewerblichen »Betrieb« ist viel zu empfindlich gegen die Irrationalitäten dieser Regierungsformen, und viel zu sehr auf die Möglichkeit angewiesen, das gleichmäßige rationale Funktionieren des staatlichen Apparats[393] nach Art einer Maschine kalkulieren zu können, um unter einer Verwaltung chinesischer Art entstehen zu können. Aber warum blieb diese Verwaltung und Justiz so (kapitalistisch angesehen) irrational? – dies ist die entscheidende Frage. Einige im Spiel befindliche Interessen lernten wir kennen. Aber sie bedürfen der vertieften Erörterung.

Wie die von materialer Individualisierung und Willkür unabhängige Justiz, so fehlten für den Kapitalismus auch politische Vorbedingungen. Es fehlte zwar nicht die Fehde: – im Gegenteil ist die ganze Geschichte Chinas voll von großen oder kleinen Fehden bis zu den massenhaften Kämpfen der einzelnen Dorfverbände und Sippen. Aber es fehlte, seit der Befriedung im Weltreich, der rationale Krieg und, was noch wichtiger war, der diesen ständig vorbereitende bewaffnete Friede mehrerer miteinander konkurrierender selbständiger Staaten gegeneinander und die dadurch bedingten Arten von kapitalistischen Erscheinungen: Kriegsanleihen und Staatslieferungen für Kriegszwecke. Die partikulären Staatsgewalten des Okzidents mußten um das freizügige Kapital konkurrieren, in der Antike (vor dem Weltreich) sowohl wie im Mittelalter und der Neuzeit. Wie im römischen Weltreich, so fiel das auch im chinesischen Einheitsreich fort230. Ebenso fehlten diesem die Uebersee-und Kolonialbeziehungen. Das bedeutete ein Hemmnis für die Entfaltung auch aller derjenigen Arten von Kapitalismus, welcher im Okzident der Antike und dem Mittelalter mit der Neuzeit gemeinsam war: jener Abarten des Beutekapitalismus, wie sie der mittelländische, mit Seeraub verbundene Ueberseehandels-und der Kolonialkapitalismus darstellten. Dies beruhte zum Teil auf den geographischen Bedingungen eines großen Binnenreichs. Aber zum Teil waren, wie wir sahen, die Schranken der Ueberseeausdehnung auch umgekehrt Folgeerscheinungen des allgemeinen politischen und ökonomischen Charakters der chinesischen Gesellschaft.

Der rationale Betriebskapitalismus, dessen spezifische Heimat im Okzident das Gewerbe wurde, war eben außer durch das Fehlen des formal garantierten Rechts und einer rationalen Verwaltung[394] und Rechtspflege und durch die Folgen der Verpfründung auch durch das Fehlen gewisser gesinnungsmäßiger Grundlagen gehemmt worden. Vor allem durch diejenige Stellungnahme, welche im chinesischen »Ethos« ihre Stätte fand und von der Beamten- und Amtsanwärterschicht getragen wurde. Davon zu reden ist unser eigentliches Thema, zu dem wir nunmehr endlich gelangen.

Quelle:
Max Weber: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie. Band 1, Tübingen 81986, S. 373-395.
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