III. Ermüdung und Uebung

in ihrem Zusammenwirken

[89] Uebung und Ermüdung in ihrem Gegeneinanderwirken bestimmen vorwiegend den Verlauf der auf- und absteigenden Tageskurve der Leistungsfähigkeit. Sie beeinflussen sie nicht nur bei jedem Individuum je nach dessen Disposition für »Ermüdbarkeit«, »Uebungsfähigkeit« usw. anders, sondern auch für das einzelne Individuum verschieden je nach der Art der Arbeit: z.B. ist beim gleichen Individuum die Leistungskurve für Zahlenadditionen und die für Memorieren sehr oft ganz verschieden, weil beides ganz verschiedene Arten des Funktioniernes des psychophysischen Apparates und ganz verschiedene Grade von Anstrengung erfordert und dadurch die Resultanten aus dem Antagonismus zwischen Ermüdung und Uebung anders ablaufen müssen. Aber der Ablauf und die Unterschiede der Arbeitskurven, je nach Individuum und Art der Leistung, unterstehen noch anderen Bedingungen. Ermüdung und Uebung bestimmen sie 1. nicht ausschließlich und 2. auch nicht in dem Sinne: daß ein bei Beginn des Arbeitstages vorhandener Status der Leistungsfähigkeit, welcher »an sich« die Tendenz hätte, konstant zu bleiben, nun lediglich unter dem Einfluß dieser beiden Momente, sich ab wandelte. Zunächst scheint von generellen Faktoren z.B. der Einfluß der Nahrungszufuhr sich direkt, und zwar anfänglich, während der Verdauungsarbeit, lähmend, dagegen weiterhin, z.B. in den späteren Nachmittagsstunden, anregend fühlbar zu machen. Wenn dabei die Verschiedenheit der Vor- und Nachmittagsleistung am »Ergographen« speziell darin hervortreten soll, daß die Zahl der Hübe entweder gleichbleibt oder herabgesetzt wird, ihre Höhe dagegen steigt, so könnte man versucht sein, diese Beobachtung entweder mit der – bestrittenen und schwerlich sicher erweislichen – Behauptung in Zusammenhang zu bringen, wonach die letzteren wesentlich Muskelleistungen, die ersteren dagegen durch Zustände des Zentralorgans bedingt seien. Wie dem nun sei, – jedenfalls scheint soviel sicher, daß die Tageskurve der Leistungsfähigkeit auch spontanen, von der Arbeitsermüdung unabhängigen, Schwankungen unterworfen ist, welche bei den einzelnen Individuen charakteristisch verschieden[89] verlaufen (wie dies zuerst Mosso behauptet hat). Es gibt, jedenfalls auf dem Gebiete »geistiger« und »nervöser« Leistungen, »Morgen«- und »Abendarbeiter«, wie dies die Alltagserfahrung zeigt und das Experiment zu bestätigen scheint, und es wird behauptet, daß diese Differenz im wesentlichen eine solche der Anlage (?) sei. Kraepelin hat, um auch hier seinen streng physiologisch orientierten »Ermü dungs«begriff festzuhalten, die Hypothese aufgestellt, daß die Schlaftiefe und das ihr entsprechende Tempo der Stoffersatzvorgänge: der Grad also, in welchem des Morgens die Aufnahme neuer Teile in das arbeitende Gewebe schon vollendet oder noch unvollendet sei, für die »scheinbare« Morgenermüdung entscheide. Fest steht jedenfalls, daß es auch außer den schon früher erörterten Elementen der »Ermüdungsfähigkeit«, »Uebungsfähigkeit«, »Uebungsfestigkeit« noch andere derartige, den Ablauf der Arbeitskurve weitgehend beeinflussende, dauernde, wenn auch nicht notwendig ererbte, individuelle Differenzen des psychophysischen Apparates gibt. Man hat, auf Grund solcher Beobachtungen, zur Feststellung der Art, wie beim Einzelindividuum die Leistungskurve oder, noch allgemeiner, die »psychische Energiekurve« verläuft, bestimmte Maßmethoden (so z.B. W. Stern den Rhythmus einfachen Taktklopfens als – nach seiner Ansicht – Charakteristikum des »psychischen Tempos« der Persönlichkeit) vorgeschlagen, über deren Wert oder Unwert nur die Fachleute zu urteilen berufen sind. Jedenfalls steht wohl zu befürchten, daß es hier eindeutige, und vollends so einfache, Maßmittel schon um deswillen zur Zeit nicht geben kann, weil wohl der Tatbestand einer einheitlichen »psychischen Energie« doch recht problematisch erscheinen muß. Die empirische Untersuchung scheint vielmehr durch weg von der Voraussetzung auszugehen, daß diese »Energie« nicht Determinante, sondern Resultante aus einer ganzen Serie von Einzelkomponenten ist, ebenso wie (ad 1 oben) die »Arbeitskurve«.

Von den Komponenten der letzteren haben Kraepelin und seine Schüler neben »Ermüdung« und »Uebung« noch einige weitere festzustellen und begrifflich zu formulieren gesucht. Und zwar sind dies solche, welche, ihrer mehr oder minder »affektiven«, zum Teil direkt psychischen, Provenienz wegen, in das Kraepelinsche Spiel von mechanisch gegeneinander wirkenden Stoffumsatzvorgängen am wenigsten leicht einzuordnen waren. Dahin gehört zunächst jene allgemeine Veränderung des psychischen[90] Habitus, welche die Arbeit selbst beim Arbeiter erzeugt, die »Anregung«, welche Kraepelin als »Beseitigung der Organträgheit«, als »Inbetriebsetzung« aller für die betreffende Arbeit in Betracht kommenden psychophysischen Zonen definiert: – ein unbewußt oder jedenfalls ungewollt eintretender »psychomotorischer« Zustand also, eine Erregung, welche die Arbeit, unabhängig von dem Maß der Geübtheit, erleichtert, und deren Charakteristikum es ist, daß sie kurze Zeit nach Beginn der Arbeit einzutreten pflegt und schon nach ziemlich kurzen Arbeitspausen (oft genügen 15 Minuten) wieder restlos verschwunden ist. Aus diesem Vorgang, in Verbindung mit den Ermüdungs-, Erholungs-, Uebungs- und Uebungsverlustverhältnissen, werden (s.u.) die verschiedensten Konsequenzen für das Optimum der Wirkung von Arbeitspausen, je nach ihrer Dauer und Verteilung, gezogen. Jedenfalls gilt das Maß der »Anregbarkeit« dabei als nicht nur individuell, sondern auch nach der Art der Arbeit (besonders nach dem Maß des Arbeitsinteresses) verschieden. Von dieser, durch die Arbeit als solche, ohne aktives Eingreifen von Willensimpulsen, rein mechanisch bewirkten und den Ablauf der Arbeit fördernden – aber auch entsprechend die Ermüdung beschleunigenden – Erregung unterscheidet die Kraepelinsche Schule die Wirkung des »Willensantriebs«. Im Gegensatz zu jenem mittleren Grade der »Willensanspannung«, der dem gesamten Ablauf der Arbeitskurve zugrunde liegt, wird darunter ein durch besondere Bedingungen herbeigeführter, plötzliche Steigerungen bewirkender Impuls verstanden. In typischer Weise soll er in einem stoßweisen und nur kurzen Ansteigen der Leistungskurve bei Beginn der Arbeit, ferner nach etwaigen Störungen derselben und dann, ebenso, mit ziemlicher Regelmäßigkeit, gegen den Schluß hinauftreten, außerdem aber: sobald die Ermüdung subjektiv fühlbar wird und doch der Entschluß besteht, die Leistung nicht sinken zu lassen. In besonders starkem Maße soll er sich, in Gestalt großer Unstetheit der Arbeitskurve, da bemerklich ma chen, wo die besondere Schwierigkeit der Leistung ein öfteres Eingreifen des Willens zu ihrer immer erneuten Ueberwindung herausfordert. Negativ beeinflußt wird der »Antrieb« anscheinend namentlich auch durch »Langeweile« der Arbeit und, im Beginn der Arbeit, durch das Bewußtsein einer bevorstehenden langen Arbeitszeit. Während also die größere oder geringere »Unlust« und die durch sie erzeugte psychische[91] »Müdigkeit«, ebenso eine jede andere Art der »Müdigkeit« (s. o.) bei der Arbeit die Leistungsfähigkeit, insbesondere den Verlauf der (»objektiven«) Ermüdung nicht oder fast nicht zu beeinflussen imstande sein, für diese vielmehr das Verhältnis zwischen Arbeit und Erholung allein entscheiden sollen, soll die Beeinflussung der Leistungsresultante durch den (psychisch bedingten) »Willensantrieb« trotz (oft: grade bei) weit vorgeschrittener »objektiver Ermüdung« in gleichem Maße möglich bleiben. Der Einfluß der psychischen Faktoren also, wie zum Beispiel der »Langeweile« und also auch der »Arbeitsfreude« und jeder andern »Gefühlslage«6), auf die Leistung kam bei diesen Laboratoriumsversuchen lediglich in dem, stets nur flüchtigen, Einfluß des »Antriebes« und, eventuell, in der ebenfalls, wenn auch nicht in gleichem Grade, flüchtigen »Anregung« zur Wirkung. Man hat sich dabei aber immer gegenwärtig zu halten, daß ebensolche Versuche stets, auch dann, wenn sie mit der Anweisung: »bequem« zu arbeiten, gemacht werden, nach Erziehung und ideellen Eigeninteressen der Versuchspersonen und nach der ganzen Natur des Versuches, ein hohes Niveau von Durchschnittsanspannung des Willens bedingen, also mit den Arbeiten im Alltagsleben (etwa in der Fabrik) keineswegs direkt vergleichbar sind. In diesem spielt jedenfalls stets das ökonomische, unter Umständen auch das ideelle oder durch die psychische Beziehung zur Arbeit bedingte Arbeitsinteresse eine ganz gewaltige, oft dominierende Rolle.

Auf dem Gebiet der experimentell gewonnenen Arbeitskurven, welche immer auf einem erheblichen Maße von Anspannung ruhen, äußert sich der Einfluß des in dieser Anspannung steckenden Willensmomentes in dem verschiedenen Maße der Ermüdung, welche Arbeiten erzeugen, bei deren Ergebnis der Wille stark mitspricht, gegenüber solchen, die er nicht oder in nur geringerem Maße zu beeinflussen vermag. Wenn beispielsweise, bei gewissen »Störungs«experimenten, die Ermüdungskurve für anhaltendes Zahlenaddieren wesentlich steiler verläuft, als bei Zahlen- und Silbenlernen, obwohl ersteres unstreitig die leichtere Arbeit ist, dann würde dies (mit Vogt) wohl mit Recht auf[92] den Umstand zurückgeführt werden müssen, daß reine Gedächtnisleistungen vom Willen nicht oder doch ungleich weniger beeinflußt werden, als dies bei der Geschwindigkeit des Addierens der Fall ist. – Damit, daß, wie auch anderweit festgestellt erscheint, die Leistungen der Merkfähigkeit nur unwesentlich vom Willen abhängen, steht natürlich nicht im Widerspruch, daß 1. experimentell wahrscheinlich gemacht ist, daß das Interesse von ganz ausschlaggebender Bedeutung für die Auslese des tatsächlich im Gedächtnis Haftenden ist. (An diesem Umstande scheiterten oft genug die Versuche, individuelle Differenzen der Merkfähigkeit als solcher festzustellen, indem z.B. die einzelnen Schüler, welche als Untersuchungsobjekt dienten, je nach der Richtung ihres Interesses, bei an sich vielleicht gleicher Merkfähigkeit, doch die größten Differenzen der Gedächtnisleistung für die gleichen Objekte zeigten.) Ebenso widerspricht es jenem Satze nicht, daß 2. das Maß der Konzentration der Aufmerksamkeit die Gedächtnisleistung natürlich entscheidend beeinflußt, und daß diese ihrerseits zweifelsohne eine »Willensleistung« ist, sofern man an dem psychologisch komplexen Begriff des »Willens« überhaupt in irgendeinem Sinn festhält. Denn es handelt sich bei jenem Satz darum, daß, bei gleicher Konzentration im einen wie im anderen Falle, doch in dem einen (Addieren) das Tempo und der Umfang des Arbeitserfolges stärker durch Anstrengung gesteigert werden kann, als bei der anderen. Es wäre natürlich – wenn jene Deutung Vogts richtig ist – von großem Interesse, möglichst viele einzelne Arten von Arbeit daraufhin analysiert zu sehen, in welchem Sinn und Maß »Willenseinflüsse« bei jeder von ihnen den Leistungs- (und damit auch: den Ermüdungs-) erfolg mitbestimmen können. Soviel ich weiß, liegen wenigstens systematische Untersuchungen dieser Art noch nicht vor. –

Eine fernere Komponente der Arbeitskurve findet Kraepelin (und, nach ihm, Wundt) in der »Gewöhnung«. Gelegentlich wird sie, oder werden mit ihr wesensgleiche psychophysische Zuständlichkeiten, auch als »Eingestelltheit« auf eine konkrete Arbeitsleistung bezeichnet. Die Bekanntschaft mit der betreffenden Art der Arbeit äußert sich in dem stetigeren Verlauf des Uebungszuwachses, nachdem die, in dem Gefühl des »Ungewohnten« bei einer, längere Zeit nicht geübten, Arbeit sich psychisch äußernde innere »Unangepaßtheit« des psychophysischen[93] Apparates an die Aufgabe geschwunden ist. Bei einfachen Leistungen geschieht dies schon nach wenigen Tagen. Der Effekt jenes »Gewöhnungs«prozesses wird dabei in einer sprunghaft schnell, schneller als die normale Zunahme der Uebung es erklärlich macht, ansteigenden Zunahme der Leistung gefunden.


Quelle:
Max Weber: Gesammelte Aufsätze zur Soziologie und Sozialpolitk. Hrsg. von Marianne Weber. Tübingen 21988, S. 89-94.
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