Fünfter Abschnitt. Zur Gesamtbilanz des griechischen Lebens

Nur mit vielen Beschränkungen und Vorbehalten wird sich auch bei einem urkundenreichen Volke die wirklich herrschende, durchschnittliche Ansicht des Lebens feststellen lassen. Im strengern Sinn würden hierzu nur diejenigen Aussagen tauglich sein, welche erweislich einem großen Kreise, ja der Gesamtheit des betreffenden Volkes entsprachen und zugleich verständlich waren, vor allem die öffentliche Dichtung, bei den Griechen also zunächst der epische Gesang der Aöden und das attische Drama. Nun sind bei der Ausbreitung des griechischen Geistes nach allen Weiten, Höhen und Tiefen eine gewaltige Fülle von Sondermeinungen entstanden, welche wohl wesentlich griechisch und oft sehr hohe Zeugnisse vom geistigen Vermögen der Nation sind, aber keineswegs dem Ganzen derselben entsprechen und schon unter sich die stärksten Widersprüche bilden können. Sie machen sich absichtlich, auch als eigentliche zusammenhängende Lehre geltend, während die Volksmeinung eher beiläufig und ohne Willen zutage tritt. Die »Ansicht des Lebens« aber ist an sich ein sehr weiter Begriff, welcher sich gleichwohl ohne Schaden nicht verengern läßt. Seine eine Grenze wird sein die Meinung vom Werte der Götter (nämlich von ihrer Macht und ihrem Willen) und vom Jenseits; dann wird die ganze Sittlichkeit zur Betrachtung kommen, d.h. der ganze Kampf des einzelnen gegen Selbstsucht und Leidenschaften, soweit ihn die Nation als richtig empfindet; weiterhin wird das Wünschen und die Reihenfolge seiner Gebilde zu untersuchen sein, die sogenannte »Lokation« der Güter des Menschenlebens; den Schluß aber bildet die Meinung der Nation von dem Werte eines so vielfach bedingten Lebens überhaupt. Neben sehr vorzüglichen Darstellungen dieser ganzen Kette von Phänomenen, worunter Nägelsbachs »Nachhomerische Theologie« (1857) noch immer einen hohen Rang behauptet, bescheiden wir uns gerne, einige Nachträge und Randglossen zu liefern und nur das Ende mit einiger Ausführlichkeit zu behandeln.

Von den Göttern und von dem, was sie den Griechen waren, ist schon die Rede gewesen. Die Religion war trotz aller Anstrengungen der Philosophen ein Polytheismus geblieben und hatte es bleiben müssen schon[319] aus Sorge vor dem Zorn der Einzelgötter, wenn deren Dienst vernachlässigt wurde; ferner hatte sich das Stärkste, was es gab, die Polis, mit dem größten Ernst dieses Tatbestandes angenommen, und der Kultus hatte sich mit aller volkstümlichen Lebensfreude verbündet. Eine bildende Kunst ohnegleichen schien diese Götterwelt und den daran hängenden Mythus auf ewige Zeiten gesichert zu haben. Allein den Göttern fehlte die Heiligkeit, d.h. das, was sie zu Vorbildern der menschlichen Sittlichkeit hätte machen müssen, und die Furcht vor ihnen war im ganzen keine Ehrfurcht. Auch war die ganze Religion ohne alles lehrende Element und ohne Priesterstand. Von der Sorge vor dem Jenseits gingen dunkle, oft sehr heftige Stöße aus, aber ungleich und mehr auf geängstigte Individuen als auf das Volk.

Zum Ersatz soll dennA1 freilich die Polis das Eins und Alles gewesen sein als Erzieherin der Griechen zur Sittlichkeit. Diejenige Eigenschaft, welche sie im einzelnen Bürger zu entwickeln hat, ihr Korrelat, heißt Trefflichkeit (ἀρετή)1. Wenn unter den Motiven des Handelns bei den Griechen der rein menschliche Bezug auf Wohl und Wehe der andern kaum irgendwie betont wird, sollen wir annehmen, daß die Pflichterfüllung innerhalb der Polis dies ganze Gebiet tatsächlich mit erledigt habe. Nun sind aber zunächst nicht alle Menschen Bürger in dem dabei vorausgesetzten Sinne; Weiber, Kinder und vollends Metöken und Sklaven sind es nicht und sollten doch auch ihre Sittlichkeit haben. Außerdem aber hat die Polis von den Zeiten an, da sie jene Ansprüche erhob, neben vieler und großer Hingebung an das Allgemeine doch in Wirklichkeit solche Zustände entwickelt, daß AngriffA2 und Gegenwehr unter den Bürgern selbst die heftigsten Leidenschaften hervorriefen und Entschuldigungen dafür erfanden. Schon das früheste historische Bild von Staat und Recht, wie sie in der alten Zeit wirklich waren, nämlich der in Hesiods »Werken und Tagen« geschilderte Zustand, ist eine Welt voll Unbill, und der Dichter erweckt Glauben, so persönlich auch sein Akzent lautet. Zugleich ist er, was kein Priester sein konnte, der ehrwürdige früheste Sittenlehrer seiner Nation, und es wäre ihr Heil gewesen, wenn sie ihm mehr gehorcht hätte.

Die Ethik der Philosophen ist dann allerdings ein wichtiges Denkmal des griechischen Geistes als solchen, auch hat sie bis zu einem gewissen[320] Grade ein Element der allgemeinen Bildung werden und in das Tagesgespräch eindringen können; allein auf das Volk und auf das Verhalten im Leben hat sie offenbar wenig eingewirkt. Einen Hauptausgangspunkt verdankt übrigens die philosophische Ethik einem schon vor ihr vorhandenen wirklich volkstümlichen Ideal: der Mäßigung oder Sophrosyne. Diese tönt dann durch die ganze Ethik hindurch als beständige Mahnung auf ein Mittleres (μέσον) zwischen zwei Extremen, ursprünglich aber ist sie der natürliche Niederschlag, wie er sich aus der Betrachtung von Göttern, Weltlauf und Schicksalsglauben bei den besonnenern Griechen bilden mußte. In jeder Nation sammelt sich ein gewisses Kapital von Überzeugungen ähnlicher Art an, dessen Verwalter diejenigen sind, welche im Lauf des Lebens etwas erfahren haben. Bei den Griechen ist die Sophrosyne der negative Pol, der Zügel, so wie die Kalokagathie der positive Pol und der Sporn ist; wie weit sie im Leben wirklich geherrscht hat, darüber müßte eine sichere Anzahl deutlich überlieferter Fälle in Parallele mit nichtgriechischen Völkern entscheiden; als erweisliche und hohe Kraft wird man sie am ehesten in der griechischen Kunst und Poesie lebendig finden. Sie wird dann wiederum aufgezählt unter den platonischen Kardinaltugenden2, welche nur bekanntlich sehr mangelhaft aus Eigenschaften der Sittlichkeit, des Intellektes und des Temperamentes koordiniert sind3. Als eine wesentlich den Hellenen eigene Tugend wird die Mäßigung in allen Dingen, besonders im Hinblick auf die Wechselfälle des Schicksals gerühmt im Gespräche des Solon mit Krösos, freilich noch nicht in der Redaktion des Herodot, sondern erst in derjenigen des Plutarch4.

Das Lob solcher Eigenschaften in Beziehung auf eine bestimmte Nation hat jedoch seine zwei Seiten. Zunächst macht es dem betreffenden Volk immer eine gewisse Ehre, daß es solche Ideale wenigstens als die seinigen proklamiert hat; bei näherm Zusehen aber hat dasselbe mehr nur eine Art von Bewußtsein gehabt, daß es so und so hätte empfinden und handeln sollen, indem es eher den Geschmack für das Gute als die Kraft dazu besaß. Sodann veranlaßt uns der Hochmut und Eigenruhm der Griechen insbesondere, in jedem Fall näher aufzumerken und namentlich[321] den Athenern nicht alles als bare Münze abzunehmen, womit sie sich gerühmt haben. Es ist immer schon nichts Kleines, daß erleuchtete Griechen wenigstens die Stimme des Gewissens, das »ungeschriebene Gesetz«, als Regel des Handelns aufgestellt haben5.

Freilich alle Ethik der philosophischen, literarischen und rhetorischen Zeit tritt für die Nachwelt, d.h. für das Gefühl der seitherigen Völker des Abendlandes in den Schatten neben der edeln und – trotz aller Leidenschaft und Gewalttat – so reinen homerischen Welt. Hier waltet eine noch nicht durch Reflexion zersetzte Empfindung, eine noch nicht zerschwatzte Sitte, eine Güte und ein Zartgefühl, woneben das ausgebildete Griechentum mit all seiner geistigen Verfeinerung seelisch roh und abgestumpft erscheint. Was diese spätere Zeit noch vom Bessern festhielt, verdankte sie im Grunde dem Weiterleben Homers und seiner Ausbildung der mythischen Gestalten. Ohne ihn würden auch Äschylos und Sophokles die Hoheit ihrer vorzüglichsten Charaktere nicht mehr erreicht haben. Die sittengeschichtliche Bedeutung der Tragödie wäre indes nicht hier, sondern in einem andern Zusammenhang zu erörtern. Was hier weiter folgt, sind nur fragmentarische Betrachtungen über einzelne herrschende Züge des griechischen Charakters, wie sie sich ausbildeten neben einer Religion und unter der Herrschaft einer Polis, wie beide wirklich waren.


Für die ganze »Philanthropie« der Griechen z.B. verweisen wir auf die Darstellung bei Nägelsbach. Bei den einzelnen Aussagen jedochA3 wäre jedesmal näher zu ergründen, wie vieles von jener aufopfernden Tätigkeit und Freigebigkeit durch den Gebrauch, ja geradezu als Choregie vorgeschrieben und tatsächlich unfrei war, und ob man nicht vollends bisweilen das fabelhafte Lob einer angeblichen »guten alten Zeit« vor sich hat6.

Bei jeder Regung nach außen aber, von Polis gegen Polis, trat dann jenes grausame Kriegsrecht ein, von welchem die Griechen doch so gut wußten, daß es wirklich ein grausames und im Grunde törichtes war.

Etwas näher mag hier bei der Rache zu verweilen sein, insofern dieselbe bei den Griechen besondere Züge offenbart. An und für sich ist die eigenmächtige Vergeltung von Erlittenem den Menschen überhaupt[322] eigen, ja schon höhern Tiergattungen, und bei den Griechen sind ohnehin schon die Götter über alle Maßen rachsüchtig. Unter den homerischen Menschen hat das Erbitten und Erflehen des Zürnenden noch Raum7; später wird etwa dem großen Alkäos das Wort zugeschrieben, Verzeihung sei besser als Rache8. Sonst aber macht sich das weite griechische Gewissen, wie man es kennen lernt, sobald es sich um Herrschaft, Überlegenheit, Genuß handelt, auch in der Rache schonungslos geltend und läßt dem siegreichen Egoismus völlig die Zügel schießen. Ein besonderes Urteil können allerdings diejenigen Fälle verlangen, da der Haß ganzer Parteien zu Tat und Vergeltung den Antrieb gegeben hat, und da der einzelne sich und seine Handlungsweise durch eine Vielzahl gebilligt und gedeckt findet. Derjenige Feind z.B., von welchem Theognis9 meint, man dürfe ihn erst beschmeicheln, um ihn dann, wenn man ihn in der Gewalt hat, völlig zu verderben, ist ohne Zweifel als einer von der megarischen Gegenpartei zu verstehen, unter deren Druck und Raub man leben mußte. Dieser Art sind auch solche Racheakte der Mächtigen, bei welchen sie meinen können, nicht nur für ihre Person, sondern im Sinne ihres ganzen Hauses und Amtes zu handeln und irgend einen Widerstand auf immer zu brechen. Nur muß auch da ein gewisses Maß innegehalten werden, weil man sonst den Neid der Götter erregt, welche doch im Besitz eines Vorrechtes auf ganz große Rache gedacht sind. Die Fürstin Pheretime von Kyrene, nach ihrer entsetzlichen Bluttat an den Barkäern, wurde bei lebendigem Leibe von den Würmern verzehrt, »denn allzu massive Rache10 zieht den Menschen die Eifersucht der Götter zu«. Dagegen scheint Herodot, der dieses erzählt, die ausgesuchte Rache des Hermotimos von Pedasos an demjenigen, der ihn in der Jugend entmannt und verkauft hatte, völlig zu billigen, obschon dieselbe nur mit Hilfe der ärgsten Verstellung möglich geworden war11. Überhaupt fehlt es nicht an Aussagen, welche das unbedingte Recht zur Rache feststellen. Dasselbe wird gar nicht selten vor Gericht als vorhanden zugegeben, und man darf den Feind herzhaft und öffentlich hassen. Ein Sterbender[323] überbindet sehr nachdrücklich den Seinigen die Rache an seinem Denunzianten zur Zeit der dreißig Tyrannen12.

In der Tragödie ist die Rache durchweg als ein berechtigter Grund des Handelns anerkannt und schadet auch den bevorzugten Charakteren keineswegs, so daß zu schließen ist, Dichter und Zuschauer seien hierüber völlig eines Sinnes gewesen. Allerdings führte schon der Mythus, auf welchen man bauen mußte, die Rache massenhaft mit sich; allein der Ton, in welchem die Dichter dieselbe einführen, zeigt doch öfter eine ganz persönliche Billigung. Der einzige deutliche Vorbehalt, welcher einer sehr bevorzugten Persönlichkeit in den Mund gelegt wird, ist der, daß wenigstens ein Vater sich nicht am Sohn rächen soll13, und so Ödipus nicht an Polyneikes. Man prüfe aber das ganze Verhalten dieses vom Dichter mit höchster Sympathie vorgeführten »Ödipus in Kolonos«; sein Hingang entspricht genau dem eines mittelalterlichen Heiligen, dessen Grab ja ebenfalls dereinst zum Segen für Ort und Landschaft werden wird, und nun möge ein solcher christlicher Dulder, wie er sich in der betreffenden Legende äußert, verglichen werden mit dem blinden König von Theben. Schon eine völlig profane Dichtung der neuern Zeit würde ihn nicht so ohne jeden Zug wehmütiger Versöhnlichkeit von hinnen scheiden lassen.

Euripides vollends redet mit der unbedingten Rachsucht mehrerer seiner Hauptgestalten seinen Zuschauern offenbar ganz nach dem Herzen. Zwar Hekabe, welche nach ihrem Tode (laut dem Mythus) in einen Hund verwandelt worden, ist im Drama wegen ihrer schrecklichen Rache an Polymestor scheinbar preisgegeben, allein ihre heftigsten Worte tönen doch, um in den Athenern einen stillen Wiederklang zu finden. Auf Agamemnons Frage (V. 754): »Was verlangst du von mir? etwa Freiheit? die würde dir leicht gewährt« – erwidert sie »nein! Wenn ich mich an Schurken (κακοῖς) rächen kann, will ich mein ganzes Leben Sklavin bleiben«. – Einem Chor wie dem der Bacchen (V. 868 ff., 889 ff.) wird man nichts anderes als unbedingte Leidenschaft zutrauen, und so auch beim Rachegefühl; allein Euripides macht es uns anderswo, bei Anlaß von idealen, d.h. vom Dichter begünstigten Charakteren so leicht, auf die herrschende Denkweise zu kommen, daß alle weitern Beispiele überflüssig sind. Er hat in seinem Orestes (V. 1100 ff., 1132, 1163 ff.) offenbar keine Ahnung davon, daß er dem merkwürdigen Trio Orest, Pylades und Elektra einen Charakterflecken anhängen könnte, indem dieselben, allerdings vom Tode bedroht, sich noch an Menelaos rächen wollen durch Ermordung der Helena (gegen welche sie keine andere Klage[324] haben als die aller Griechen), Festhaltung und Bedrohung der Hermione als Pfand und Brandstiftung im Königspalast von Argos. Herrlich wäre es freilich, meint Orest, wenn Rettung käme und wir zwar töten könnten, aber selber am Leben blieben (κτανοῦσι μὴ ϑανοῦσιν)! – Wobei noch hervorzuheben ist, daß alle drei unmittelbar vorher sich untereinander höchst gefühlvoll geäußert haben. Auf solche Offenbarungen hin hört dann auch bei der Betrachtung des wirklichen griechischen Lebens jede Verwunderung auf, wenn sowohl einzelne als ganze Parteien Vergeltung üben. Daß Phokion im Kerker, bevor er den Schierling trinkt, seinem Sohn aufträgt, seines von den Athenern erlittenen Unrechts nicht eingedenk zu bleiben14, kann zwar die Stimme eines edlern Gemütes, aber auch eine bloße Warnung aus Klugheit sein. In enge Beziehung zu der entsprechenden Tugend, nämlich zur Dankbarkeit findet sich wenigstens die Rache gesetzt in einer merkwürdigen Schrift des IV. Jahrhunderts15: »Wie es gerecht ist, sich zu rächen an denjenigen, die uns Übles zugefügt haben; ebenso ziemt es sich, den Wohltätern wieder Gutes zu erweisen.« Ungerächter Jammer aber ist nur dann ehrwürdig, wenn er den Menschen von Göttern zugefügt worden; Niobe ist die mater dolorosa des Mythus.

Die Philosophie, auch wenn sie sich über die Rache nicht ausdrücklich aussprach16, wird immerhin insoweit dagegen gewirkt haben, als sie die Abwendung von der Leidenschaft überhaupt vorschrieb, wie insbesondere die Stoa tat. Diese proklamierte außerdem statt der Vielheit mörderisch verfeindeter Einzelstaaten eine große friedliche Weltgesellschaft, und im Privatleben hat sie wenigstens in einzelnen ihrer spätesten Bekenner sich bis nahe an die Feindesliebe emporgewagt17. Nur gerieten manche Stoiker doch sehr aus der Fassung, sobald von Epikur und seiner Schule die Rede war.

[325] Eine andere große Äußerung des menschlichen Egoismus, das Recht zur Unwahrheit, hat, so wie die Griechen es handhabten, ihnen schon bei den Römern die Redensart von einer Graeca fides zugezogen. Es wäre vollkommen eitel, die Quote des bei allen Völkern bis heute geübtenA4 Lügens und Täuschens mit derjenigen bei den alten Griechen statistisch vergleichen zu wollen, und doch wird man im Hinblick auf die nun folgenden tatsächlichen Angaben nicht umhin können, die Griechen als schwerer belastet zu betrachten. An Lehre und Warnung hätte es auch hier nicht gefehlt; Pythagoras sagte: die Wahrheit reden und wohltätig sein (ἀληϑεύειν καὶ εὐεργετεῖν) seien die schönsten Geschenke der Götter, die auch ihrem eigenen Tun am nächsten kämen.

Gerne und ohne allen Vorbehalt wird zunächst einem phantasiereichen und noch jugendlichen Volke zugegeben werden, daß es im Erzählen wirklich Geschehenes und bloß Geträumtes so wenig unterscheiden kann, als dies ein begabtes Kind vermag. Einem Erzähler von gar zu lebhafter Einbildungskraft fiel etwa jemand ins Wort: »und dann erwachteA5 ich«, als hätte jener im Traume gesprochen18. Die Wahrheitsmängel in der griechischen Geschichtsschreibung19 werden durch die oft völlig einseitige Darstellung der Geschichte bei manchen Neuern reichlich aufgewogen, und das Voranstellen eines erlauchten alten Namens in einer eben erst verfaßten Schrift war unschuldiger, als dergleichen jetzt sein würde. Anders verhält es sich aber mit Lüge und Wahrheit im großen und kleinen Verkehr des Lebens.

Scheinbar genoß die Wahrheit einen mächtigen Schutz durch das viele und feierliche Schwören, und vielleicht kein anderes Volk hat so reichlicheA6 »Eidesantiquitäten« aufzuweisen wie die Hellenen20. Der Gott Eid (Ὅρκος) hat hier seinen eigenen Mythus; ihm, dem Sohn der Eris, gehört jeder fünfte Tag eines Monats; an diesem gehen die Erinyen um und rächen die falschen Schwüre21. Allein nun gibt es schon zu denken,[326] daß in wichtigern Fällen die Zeremonie in der auffallendsten Weise gesteigert wurde, ganz als ob dem gewöhnlichen Eide gar nicht mehr getraut worden wäre. In Syrakus gab es einen sogenannten »großen Eid« im Heiligtum der Thesmophoren22; in Sparta und wahrscheinlich auch anderswo konnte durch ein bestimmtes Opfer am Altar des Zeus Herkeios (Zeus des Gehöftes) ein Familienglied gezwungen werden, volle Wahrheit zu bekennen23; wer in der Krypta des Adyton zu Korinth, wo Palämon geheimnisvoll geborgen war, einen Meineid schwur, mußte wenigstens wissen24, daß er der Strafe nicht entgehen werde; den Wettkämpfern in Olympia wurde das Gewissen geschärft durch einen Eid im Buleuterion vor einem Zeusbilde mit Donnerkeilen in beiden Händen, »von allen Zeusbildern das am meisten zur Erschütterung der Ruchlosen geschaffene«, und an der Basis auf einer ehernen Tafel las man überdies Distichen, welche Entsetzen über den Meineidigen bringen sollten25. Wenn auf dem Lande die Bauern gegen die »einfältigen« dortigen Götter bereits zu abgehärtetA7 waren, führte der, welcher von Leuten seines Dorfes einen sichern Eid haben wollte, dieselben in die Stadt, da die Götter innerhalb der Mauern noch »wahrhaftig« seien und alles beaufsichtigten26. Freilich in der Ilias war Zeus selber der wahre Meister des Meineids gewesen, und Götter und Göttinen hatten (wie früher bemerkt) schon bei mäßigen Anlässen den furchtbaren Eid beim Styx schwören müssen27, um nur irgend Glauben zu finden; Homer aber wirkte unter den Griechen weiter. Bei irgend einem gegebenen Wort in einem gefahrvollen Augenblick schwört man, im Falle des Meineids samt Kindern untergehen zu wollen, und Lysias zahlt für einen solchen Eid dem Peison ein Talent und muß ihm hernach noch mehr geben, obwohl er weiß, »daß derselbe weder Götter noch Menschen achtet«28. Es gibt schon nicht leicht einen sichern Eid ohne heilige Götter und vollends keinen im Munde des Verruchten.

[327] Und nun ist es nicht einmal nötig, auf das Urteil anderer Nationen und Zeiten zu warten, um die griechische Eidpraxis kennen zu lernen. Man glaubte z.B. zur Erziehung der jungen Perser gehöre es, daß sie dazu angehalten würden, die Wahrheit zu sagen, und zu dem Bilde, welches man sich von dem ältern Kyros machte, konnte ganz wohl der Bescheid passen, welchen er einem griechischen Boten erteilte: »ich fürchte mich nicht vor Leuten, welche inmitten ihrer Stadt einen Platz haben, wo sie zusammen kommen, um einander mit falschen Eiden zu betrügen.« Derjenige aber, welcher dies erzählt, ist Herodot29. In der Folge war der Eid bei vielen nur noch ein Mittel, um Zwecke zu erreichen und daher an sich eine gleichgültige Sache, zumal im politischen Verkehr. Wenn Theognis (V. 399) mahnt, »die männerverderbenden Eide zu meiden,« so ist damit wohl nur der Kreis gemeint, in welchem man lebt, nach der vorangehenden Mahnung, »mit den Freunden ehrenhaft zu verkehren«. Als eins der Zeichen völliger sittlicher Zerrüttung, wie sie sich im Verlauf des peloponnesischen Krieges über das GriechenvolkA8 ausbreitete, verzeichnet Thukydides (III, 82) auch die Wertlosigkeit der Versöhnungsschwüre: »Dieselben wurden nur gehalten, solange es unvermeidlich und zweckmäßig war.« Lysander aber sagte um diese Zeit: »Kinder betrügt man mit Würfeln, Männer mit Eiden.«

Um des Erfolges und Gelingens, der Herrschaft und des Genusses willen ist eben dem Griechen zugestandenerweise vieles erlaubt oder – wenn es durch andere geschieht, begreiflich, was andere Völker wenigstens öffentlich verurteilen, sei es um noch wirksamer oder um nachwirkender Religionen willen, und auch wohl kraft ursprünglicher Anlage. Wenn heute noch vor Gericht falsche Eide in Menge geschworen werden, so geschieht es doch mit bösem Gewissen, und es steht keine öffentliche Meinung daneben, welche die Sache beschönigte. Bei den Griechen darf z.B. schon die Tragödie auch ihren begünstigten Charakteren Täuschungen gestatten, wie sie es heute nirgends mehr dürfte, und dem Euripides hat sogar Aristophanes es vorgehalten, daß er bei einem Meineid distinguiereA9 zwischen der Zunge, welche schwört, und dem Willen, welcher protestiert30. In der Medea freilich klagt der Chor (V. 439) sehr pathetisch: entschwunden sei des Eides Wert, und in dem großen Hellas weile die Scham nicht mehr; sie sei in den Äther entschwebt. Es wird weiterhin von solchen davongeflogenen Tugenden die Rede sein.

[328] Den Römern, wenn sie von der Wortbrüchigkeit der Griechen sprachen, ging in der letzten Zeit der Republik schon ein starker Pharisäismus nach, und dennoch wird, was z.B. Cicero in einer Gerichtsrede sagt31, nicht aus der Welt zu bringen sein: »Dem Geschlecht der Hellenen ganz im allgemeinen lasse ich ihre Schriftwelt, ihre vielseitige Kunst, die Zierlichkeit und Fülle ihrer Rede, und auch, was sie sich etwa sonst noch beilegen, will ich ihnen nicht abstreiten, aber – die Gewissenhaftigkeit und Wahrhaftigkeit in Zeugenaussagen hat diese Nation nie bei sich ausgebildet, und die Bedeutung dieser ganzen Sache kennen sie nicht (testimoniorum religionem et fidem nunquam ista natio coluit totiusque huiusce rei quae sit vis, quae auctoritas, quod pondus, ignorant)... Ein griechischer Zeuge, wenn er vortritt mit dem Willen zu schädigen, denkt nicht an die Worte des Eides, sondern nur an das Schädigen. Widerlegt, zugedeckt zu werden, ist für ihn die Schande, dagegen rüstet er sich, alles übrige ist ihm gleichgültig .... Solchen ist der Eid ein Scherz, das Zeugnis ein Spiel; was ihr (Römer) von ihnen haltet, kommt ihnen ganz dunkel vor; Lob, Belohnung, Gunst und nachheriger Glückwunsch hängt alles am unverschämten Lügen.« Schlimm genug, daß schon hundert Jahre vorher ein sehr einsichtiger Grieche32 von der allgemeinen Amtsuntreue seiner damaligen Landsleute folgendes hatte schreiben können: »die öffentlichen Verwaltungsbeamten, auch wenn ihnen nur ein Talent anvertraut ist, bewahren keine Treue, selbst wenn zehn Gegenschreiber, zehn Siegel und zwanzig Zeugen daneben stehen, während die Römer als Kriegsanführer und Gesandte in betreff der größten Summen treu bleiben wegen ihres Eides. Bei den andern (den Griechen) ist es selten, einen Mann zu finden, der sich der Staatsgelder enthält, bei den Römern ist das Gegenteil selten.« Polyb knüpft den von ihm beklagten Tatbestand an das Schwinden des Glaubens an Götter und Unterwelt und redet überhaupt von Zeiten der schwersten Verkommenheit, allein das »Veruntreuen des Öffentlichen« war schon sehr lange vorher eingerissen, und in Athen hatte einst schon Themistokles nicht nur für seine politische Laufbahn enorm viel Geld gebraucht, sondern auch dessen viel vorgespart. Seine öfter geäußerte Bangigkeit vor der Rednerbühne kam gewiß nicht bloß daher, daß er die Athener überhaupt als wandelbar kannte33.

Wenn wir schließlich in betreff der Graeca fides auf eine Quelle wie die Stratageme des Polyän hinweisen, so wird man vielleicht schon die späte Entstehung des Buches34 gegen dessen Wert geltend machen. Allein man lese den Autor, welcher ja ein alter Soldat von makedonischem Geblüt[329] war, vollständig durch, und man wird eine aus alten und spätern Quellen gesammelte, ziemlich reiche Geschichte der hellenischen Unbedenklichkeit kennen lernen, und zwar bei weitem nicht bloß in betreff der Kriegslisten. Der Weltlauf mag ja wohl immer ein ähnlicher gewesen sein, namentlich im Kriege, auch soll nicht behauptet werden, daß Polyän alles ausdrücklich billige, was er erzählt; allein der Gesamteindruck ist doch der einer gänzlichen Gleichgültigkeit der Griechen in den Mitteln des Erfolges gegen jede Art von Gegnern35.


So oft bei den Griechen die vorherrschenden Beweggründe des menschlichen Handelns aufgezählt werden, fehlt nie die Ehrliebe (τιμή). Thukydides36 nennt sie in erster Linie neben Furcht und Nutzen, Isokrates läßt sie auf Genuß und Gewinn folgen37.

Sie hatte im griechischen Leben Vorbedingungen auf ihrer Seite, welche ihr in andern Zeiten und bei andern Völkern nicht immer zustatten gekommen sind. Zunächst hatte man in dem öffentlichen Treiben einer Polis Gelegenheit und Muße, die einzelnen kennen zu lernen und selber gekannt zu werden; sodann herrschte im Betonen der eigenen Person sowohl als im Besprechen der Lebensverhältnisse derer, mit welchen man redete, eine Offenheit, welche damals mit der besten Lebensart vereinbar scheinen mochte. Die Unterhaltung des Sokrates mit dem alten Kephalos, am Anfang der Bücher Platos vom Staat, mag z.B. hiervon eine Ahnung geben, oder auch Xenophons »Gastmahl« nebst andern Denkmälern des damaligen höhern geselligen Verkehres. Ferner hatte der wettweise, agonale Betrieb von allem und jeglichem, vom öffentlichen Auftreten bei den Spielen an bis zu jeder Art von Leistung und Geltendmachung, den Menschen jene soziale Scheu benommen, welche heute in der Regel kaum mehr einen andern Wettbewerb gestattet, als den im soganannten Geschäfte, im übrigen aber den einzelnen auf das negative Ehrgefühl zurückweist. Dieses sucht vor allem nichts Ungünstiges auf sich kommen zu lassen und Achtung zu erwerben, das Aufsehen aber zu vermeiden; auch will derjenige, welcher darüber hinausgeht, der heutige Streber, nicht Ruhm, sondern Stellen und Geld, und auch seine Reklame dient vor allem dieser Absicht.

Der Wille des begabten Griechen dagegen ist seit Homer: »immer der erste zu sein und vorzuleuchten den andern,« und ebenso frühe ertönt[330] auch der Wunsch des Nachruhms, welcher heutigen Tages auch die am höchsten Stehenden wahrscheinlich nur wenig beschäftigt. Die Polis hätte nun sehr gewünscht, diese »Philotimie« des einzelnen völlig in ihren Dienst zu bringen, allein dieselbe fand ihre Seitenwege nebenaus. Ohne alle Scheu trat der Ausgezeichnete vor seine Zeitgenossen, mit möglichster äußerer Macht und oft mit dem gediegensten Selbstlob; der Energie aber sahen die Griechen vieles nach, wenn sie nicht zufällig in Person davon zu leiden hatten oder in Schatten gerieten. Alle diese Dinge wären in einem umständlichen Zusammenhang zu besprechen, hier dagegen wollen wir nur der allgemeinen Gegnerschaft gedenken, welche der Ausgezeichnete auf seinem Wege antreffen konnte.

»Neid ist Trauer über die Vorteile eines andern, Schadenfreude ist Vergnügen an den Nachteilen, welche er erleidet«38 – mit dieser Definition von Sachen, welche so alt sind als die Menschheit, mag auch der allgemeine Grund jener Gegnerschaft richtig bezeichnet sein. Aber der heutige Neid, welcher sich ohnehin nie zu sich selbst bekennen darf, sondern alle möglichen Masken vor das Gesicht nehmen muß, operiert meist hinter dem Rücken des Opfers, während der Neid der Griechen, sobald er konnte, in offenem Angriff und Hohn ausbrach.

Gründlich verstanden sich die Griechen schon von allem Anfang an auf das κερτομεῖν, das Herzeleid, welches in Worten angetan wird. Es ist insbesondere der Hohn über mißlungenes Wollen und Tun; man sieht bei Homer, wie der Sieger spottet, und wie es den Besiegten schmerzt; man hört die satte, zusammengesparte Bitterkeit des zur höchsten Rache berechtigten Odysseus gegen den geblendeten Kyklopen39, und man lernt den giftigen Händelstifter Thersites kennen. In der nachhomerischen Zeit wird dann durch Archilochos und seinen Jambus die Lästerung (λοιδορία) eine Kunstgattung, und man war überzeugt, daß sich die Opfer des Archilochos wie die des Hipponax das Leben genommen hätten. Für den Versuch der Rechtfertigung beider ist hier auf die neueren Literarhistoriker zu verweisen, im Altertum fanden sie wenig Nachsicht bei aller Bewunderung für die Kraft ihres Ausdruckes. Hohndichter finden sich in allen reichlich erhaltenen Literaturen und in der neuern Zeit schon bei den Provenzalen, aber ein Aufsehen und eine Geltung wie jene beiden sie gehabt, war doch nur bei den Griechen möglich. Spottverse unter die Leute zu bringen war auch später eine Manier der Rache und des Hasses. Gegen Perikles am Anfang des peloponnesischen Krieges »sangen viele Lieder und Spottreime«40, und die ältesten Spottepigramme [331] (σκωπτικά) der Anthologie können noch ebensoweit hinaufreichen. An der Stelle der noch mangelnden Presse waltete der mündliche Verkehr der Agora und auch wohl des Gelages und für die, welche durchaus ungekannt bleiben wollten, das Anschreiben der Schmähung an irgend einem öffentlichen Gebäude41. Auch die Karikatur, an eine Mauer gezeichnet, tat ihren Dienst, und was die plastische Karikatur betrifft, so hat ja alle griechische Porträtkunst nahezu damit angefangen, als um die Mitte des VI. Jahrhunderts die Bildhauer Bupalos und Athenis den Dichter Hipponax mit solchen Figuren heimsuchten, worauf denn freilich seine Rachejamben sie sollen in den Tod getrieben haben. Um dieselbe Zeit warnte noch der weise Kleobulos von Lindos42, nicht zu lachen über die, welche verspottet werden, denn dies stifte tiefe Feindschaft.

Mit der Erwähnung des Perikles haben wir aber bereits das berühmte V. Jahrhundert berührt, welches namentlich den Athenern die volle Entwicklung von Gut und Böse, die volle Demokratie und zudem die alte Komödie bringen sollte. Was nun auch die übrigen Griechen damals an kühnem Auftreten einzelner Menschen und an frechem Ankämpfen ihrer Gegner mögen geleistet haben – nur für Athen liegen die Akten in einiger Vollständigkeit vor.

Zunächst waren die wirklichen Gefahren, in welchen der Bürger lebte, wenn er sich irgendwie auch nur bemerkbar machte, so groß, daß die bloße soziale Empfindlichkeit daneben gewiß zurücktrat. Die Sykophanten und Rhetoren, die stets drohenden Staatsanklagen, besonders wegen Veruntreuung und wegen ungenügender Leistungen, sowie die immer gefährliche Anklage auf Asebie übten zusammen einen dauernden Terrorismus. Die allgemeine Folge hiervon muß eine gewisse innere Abhärtung gewesen sein, auch hatte ja nicht jede Anklage Erfolg, und wer einer der stärkern Cliquen angehörte, konnte nicht bloß zur Abwehr, sondern auch zur Gegenklage schreiten; nur mußte bei dem ewigen Versammlunghalten und Gerichthalten (ἐκκλησιάζειν καὶ δικάζειν) eben doch immer etwas gehen, was die Aufmerksamkeit und die Leidenschaften im Zuge erhielt.

Nun hat sich aber auch die alte Komödie, welche neben diesem Staatswesen emporwuchs, bei weitem nicht mit den geselligen und privaten Unvollkommenheiten mancher Athener begnügt, sondern häufig den Staat und seine Leute zu ihrem Hauptgegenstand erkoren, und daß dies so geschehen durfte, wie es geschah, wird ein Anlaß des Erstaunens bleiben[332] trotz allen Erklärungen. Mochte auch die Komödie ursprünglich ein Festakt zu Ehren des Dionysos sein, welcher »selber gerne lachte«43, und mochten auch alle dionysischen Feierlichkeiten immer des Spaßes und Hohnes ein reichliches Teil mit sich geführt haben, – dieser Grund allein kann es doch nicht gewesen sein, welcher der Komödie ein volles Jahrhundert hindurch gestattete, ihren Mutwillen an den Einrichtungen und Behörden der Polis zu üben, wie sie tat. Schon allein die »Wespen« des Aristophanes häufen auf das Volksgericht der Athener eine ewige Schmach; anderswo wird auch dem Rat, d.h. den jeweiligen Prytanen die Bestechlichkeit, ja das Hörnertragen ins Gesicht geworfen; in den »Rittern« tritt der Demos als höchst borniertes Wesen in Person auf, bis man in der Folge (V. 1121, 1141) belehrt wird oder werden soll, daß er sich nur so gestellt habe. Immerhin wird bei solchen Angriffen kein einzelner genannt und ebensowenig bei den Schimpfworten, welche sich ganz Athen muß zurufen lassen. Was soll man aber denken von jenen Massenopfern von namentlich bezeichneten Individuen, welche derselbe Aristophanes vollzieht, von dem uns versichert wird44, seine Haltung sei noch eine anständige (σεμνότερον) gewesen neben den bittern und schändlichen Lästerungen eines Kratinos und Eupolis (deren Komödien nicht bis auf uns gelangt sind). Er hat ja überhaupt seine Kunstgattung nicht angefangen, sondern nur den Stil derselben bis zur völligen Sicherheit ausgebildet, und an ihm viel mehr als an den Jambendichtern hat der spätere Hohn in Dichtung und Prosa gezehrt, und noch Lucian ist von aristophanischen Wendungen durchdrungen.

Im allgemeinen wird der Dichter sein Ziel, jenes κερτομεῖν oder Zufügen von Herzeleid erreicht haben, auch wenn viele abgehärtet und gerade die Schlimmsten schon völlig ausgeschämt waren45. Gelehrte alte Scholiasten haben dafür gesorgt, daß auch die ganze seitherige Welt vieles von dem betreffenden Hohn verstehen kann. Die mit Namen, ja sogar etwa durch ihre Maske Angegriffenen waren (oder sollen gewesen sein): Räuber am Staatsgut, Feiglinge, Wucherer, Diebe, Lieferanten46, Sykophanten usw.47; gegen Ende der »Frösche« gibt Pluton dem auf die Oberwelt zurückkehrenden Äschylos Stricke mit für einige mit Namen genannte Leute, worunter ein Tragiker, sowie für die »Poristen« im[333] allgemeinen; diese aber scheinen vom Staat bestellt gewesen zu sein zur Ausmittelung neuer Einnahmen. Weltbekannt ist ferner, wie Aristophanes seine dichterischen Kollegen behandelt, und heute müßte z.B. schon die Familie des Euripides mit allen Mitteln Klage einlegen, wenn sie noch auf einige Achtung Anspruch machen wollte. Was gegen die Dichter von seiten der Kunst einzuwenden wäre, wird hier immer mit den persönlichsten Injurien durcheinandergeflochten; man lese nur, was dem Agathon an zahlreichen Stellen der »Thesmophorienfeier« gesagt wird. Die Verhöhnung von leiblich Mißgebildeten mag bei den damaligen Griechen mit in den Kauf gehen, indem ein solcher höchstwahrscheinlich nur behelligt wurde, wenn er sich in der Öffentlichkeit bemerklich machte, doch auch dann war es nicht edelmütig gehandelt. In den »Vögeln« allein wird etwa ein halbes Hundert lebender Athener genannt, wobei der Dichter noch absichtlich die vielen Angeklagten des damals schwebenden Hermokopidenprozesses überging. Ganze Chorgesänge, z.B. in den »Acharnern« (V. 836 bis 859) dienen zu gar nichts anderm als zum Gift gegen eine Anzahl von Persönlichkeiten. Man mag geltend machen, die Komödie habe auf diese Art die mangelnde Polizei oder gar die Gerechtigkeit vertreten, wobei sie freilich eine große und schwere Verantwortung würde sehr leichthin auf sich genommen haben; man wird auch wohl sagen, daß sie in der Regel gegen die Demagogie gekämpft, und daß Aristophanes mit seiner großen Exekution gegen Kleon sich dessen tatsächliche Rache zugezogen habe. Nur reicht dies nicht hin für diejenige sittliche Verklärung, welche ihm in neuerer Zeit hie und da zuteil geworden ist; im ganzen war er gedeckt, insofern der Demos auch seine eigenen Führer und diejenigen Leute aus dem »armen und gemeinen Volk«, welche sich etwas mehreres als die Menge dünkten48, nicht ungerne verspottet sah; die meisten Verspotteten aber waren doch »Reiche oder alten Geblütes oder Einflußreiche«. Außerdem sicherte sich Aristophanes eine unfehlbare Popularität durch seine beständige Mahnung zum Friedenmachen, und zwar auch in solchen Zeiten des peloponnesischen Krieges, da der Friede ohne die kläglichsten Bedingungen nicht zu haben war; seine »Lysistrate« z.B. fällt in das Jahr 411, da die Spartaner mit Heeresmacht auf attischem Boden in Dekeleia seßhaft waren. In Lamachos verhöhnte er einen der tüchtigsten und uneigennützigsten Feldhauptleute.

Endlich hat sich die Komödie auch jene Anklage einzelner auf Asebie, eine der gefährlichsten, die es gab, nicht wollen entgehen lassen. Als Aristophanes in den »Wolken« den Sokrates in der weltbekannten, zwar recht komischen, aber blind willkürlichen Weise auf die Szene brachte,[334] soll es zwar dieser selbst nach der gewöhnlichen Sage lachend mit angesehen haben49, der Dichter aber muß sich in der Eitelkeit wegen seiner witzigen Erfindung völlig darüber verblendet haben, daß er in der urteilslosen Menge eines jener Vorurteile erregte, welche nie mehr völlig einschlafen, und in welchen dann nachwachsende Geschlechter erzogen werden. Wohl vergingen bis zum Prozeß und zur Hinrichtung des Sokrates noch 24 Jahre, allein ohne die Wolken wäre Grund und Boden hierfür entweder gar nicht oder doch nicht in genügendem Grade vorhanden gewesen50.

Die sogenannte »mittlere Komödie« hat sich hierauf zwar keine persönlichen Masken mehr, wohl aber noch die massenhafte Denunziation einzelner erlaubt, wie man aus den Fragmenten bei Athenäus sieht. Jetzt mußten u.a. die Philosophen verschiedener Schulen mit Namen herhalten, oder die bekannten Gourmands oder alle, welche bei der Harpalosgeschichte sollten Geld genommen haben usw. Die erbarmungswürdige Dürftigkeit, in welche dieses Genre verfiel, erhellt z.B. daraus, daß ein durch seine magere Figur bekannter Philippides bei nicht weniger als dreien dieser spätern Komiker vorkommt, und daß es sich sogar der Mühe lohnte, auf seine Rechnung ein Verbum (φιλιππιδοῦσϑαι) zu bilden51.

Dies ganze Treiben der Scena kam, wie oben gesagt, immerhin weniger in Betracht als die beständige politische und gerichtliche Gefahr, unter welcher der Bürger lebte; auch konnte ja der öffentliche und bisweilen genial stilisierte Hohn für erhabene Gemüter ein Anlaß der Läuterung sein. Nur müßten wir, um genau zu urteilen, ermitteln können, über wie viele vorzügliche Menschen sich der stille Entschluß des Schweigens und Verzichtens verbreitete. Die zunehmende Abwendung vom Staat, verbunden mit dem Entschluß zur Armut, ist in jener Zeit mit Händen zu greifen; was mag aber außerdem an Stimmung, d.h. an der Vorbedingung der höhern Geselligkeit und der Poesie zernichtet worden sein!

Zuletzt sind die alte und die mittlere Komödie doch nur die seltenen, offiziellen Äußerungen einer Hohnkraft gewesen, welche außerdem ganz Athen das ganze Jahr hindurch beherrschte, schon weil statt der beruhigenden Kraft der regelmäßigen Arbeit eine beständige Beschäftigung[335] mit dem Öffentlichen, d.h. mit den andern eingerissen war. Ein sanfterer oder derberer Hohn scheint den ganzen Verkehr beherrscht zu haben52.

Nimmt man dann noch die Redner des IV. Jahrhunderts, so sieht sich der Leser umgeben von den wildesten persönlichen Angriffen; daneben aber dürfte im Grunde noch größeres Staunen erregen, was auch hier die Behörden und das versammelte Volk sich bieten ließen, ohne aufzubrennen, sobald kein einzelner genannt war. Das kollegiale Fell war das dickste, hier wie bei den Zuschauern der Komödie. Die Klienten des Lysias klagen über ungenannte Diebe an Staatsgeldern, welche offenbar dasitzen, aber wohl wissen, daß nichts geschehen wird; den Sykophanten wird es viele Male, und gewiß als Anwesenden, ins Gesicht gesagt, was und wie verrucht sie seien; sie scheinen es nicht auf sich bezogen zu haben.

Jene Abhärtung gegen Spott und Angriff hatte jedoch noch überdies ihre Grenzen und war oft nur ein Schein neben tiefem Gram und Haß »Sokrates, in der Komödie verspottet, lachte dazu; Poliagros henkte sich!«53

Alexis, einer der Meister der mittlern Komödie, legt einem seiner Charaktere folgende Klage54 in den Mund: »Das viele Beisammensein und die vielen und täglichen Symposien pflegen den Spott zu entwickeln, dieser aber schmerzt viel mehr, als er erfreut; mit einer Übelrede fängt es an, und sofort gibt es auch eine Erwiderung zu hören; das nächste übrige ist Schmähung, dann Prügelei und Trunkwut.« Ähnliche Warnungen verlauten auch anderswo55. Vollends nicht bloß im Umgang, sondern in den Zwecken des Lebens verlacht zu werden, hat die Menschen von jeher auf das Äußerste bringen können. Euripides läßt seine Medea ihre schrecklichsten Absichten und Taten begründen durch das Verhindernmüssen, Verleidenmüssen des Gelächters56. Vielleicht hat aber bisweilen das bloße Lächeln, die Ironie an ungeeigneter Stelle noch mehr empört als das offene Lachen, weil sie die Überlegenheit als bereits entschiedene Tatsache vorwegnimmt. Sokrates, wenn er bei allerlei Leuten herumging, wird es sich ohne Zweifel durch seine ironische Redeweise zugezogen haben, daß ihm hie und da mit Faustschlägen, Fußtritten und Ausraufen des Haares geantwortet wurde, was er ja ebenfalls mit Scherz soll aufgenommen haben57; die meisten jedoch verlachten und verachteten ihn ihrerseits.

[336] In Gegenwart anderer gedemütigt zu werden, hat stets und überall für besonders bitter gegolten, und Pythagoras gab nie mehr auch nur einen Zuspruch vor andern, seit einer seiner Schüler, welchen er auf diese Weise etwas hart zur Rede gestellt, sich gehenkt hatte58. Sokrates dagegen verrät seine tröstliche Unbedenklichkeit in dieser Beziehung noch vor seinen Richtern: »Warum so manche längst immer haben um mich sein wollen? sie hören eben gerne zu, wenn andere, die sich weise dünken, es aber nicht sind, von mir ausgefragt werden, denn dies ist sehr vergnüglich.«59 Allerdings, nur nicht für das Schlachtopfer.

In der Folge, als die Unempfindlichkeit, besonders bei Zynikern und Stoikern, eine anerkannte Philosophentugend geworden, konnte man sich darauf einüben, und die betreffenden Anekdoten von Kleanthes, Arkesilaos u.a. machen deshalb keinen großen Eindruck. Der Zyniker Krates wandte hierauf die eigentümlichste Schule der Abhärtung: er beschimpfte Huren und ließ es auf deren Erwiderungen ankommen60. Besser war es, wenn der Geschmähte durch eine überlegene Antwort, zumal durch einen Witz, die Anwesenden auf seine Seite zog, und einiges von den Antworten des Diogenes ist von dieser Art. Sonst aber scheinen die Philosophen, wenn ihr Sektenhaß sie gegeneinander aufbrachte, ihre Impassibilität nur zu oft eingebüßt zu haben, und dann genügt (wenigstens in den Schriften) das Lächerlichmachen nicht mehr, sondern man sucht einander durch Nachrede zu ruinieren. Auch die attischen Redner traktieren einander samt Anhang und Freunden auf das Persönlichste bis auf die Herkunft, für welche doch keiner etwas konnte, und gerne mag hier alles einzelne aus diesem Gebiete übergangen werden61. Gegen das Erheben von Injurienprozessen herrschte beim Zustand aller athenischen Justiz ein begreiflicher Widerwille, und Lysias legt einem seiner Klienten folgenden Ausspruch in den Mund: »Selbst wenn mir der Gegner einen Mord nachgesagt hätte, so würde ich dies für eine Kleinigkeit62 geachtet haben, denn ich halteA10 dafür, daß es illiberal und eine Sache prozeßsüchtiger Leute sei, um mündlicher Beleidigungen willen vor Gericht zu gehen.«[337] Das Verhalten der Griechen bei tatsächlichen Mißhandlungen63 läßt schließen, daß dieselben mit größerer Seelenruhe geahndet wurden als heute, und daß größere Leibeskraft und Brutalität eines andern hinfort noch nicht über Wert und Stellung des Heimgesuchten entschieden64. Ewig bezeichnend und in heutiger Zeit undenkbar sind jene Worte an denjenigen, welcher den Stock aufhob: »Schlage mich, aber höre mich an«, gleichviel ob sie Themistokles65 oder ein anderer zu Eurybiades oder zu Adeimantos gesprochen hat. Was sich Sokrates gefallen ließ und mit welchem Gleichmut, wurde schon erwähnt, und von Diogenes erzählte man ähnliches. Es kommen jedoch Fälle vor, da der Gegensatz zu aller jetzigen Handlungsweise noch viel deutlicher ist. Als Kleon infolge der Aufführung der »Ritter« den Atristophanes (man sagt durch die Theaterpolizei) hatte durchprügeln lassen, hielt dieser zwei Jahre später seinem Publikum in einer Parabase der »Wespen« (V. 1284 ff.) vor, wie tadelhaft er damals seines Leidens gespottet und wohl gar noch auf einen Spaß des Gemißhandelten gewartet habe. Entweder muß nun der Drang vor einem solchen Publikum dennoch wieder und immer wieder aufzutreten, in der Tat übergroß gewesen sein, oder die Athener empfanden überhaupt so, daß sie dem Komiker einmal eine Züchtigung gönnen und ihn dennoch dabei in seiner und ihrer Art ästimieren konnten66.

Bei körperlichen Mißhandlungen stand natürlich jedem die gerichtliche Klage offen, diese aber konnte man sich durch ein Übereinkommen abkaufen lassen. Demosthenes hat dies zweimal getan, als ihn Meidias im Theater ins Gesicht geschlagen, und als ihn Demomeles verwundet hatte. Über die Moralität dieses Abkommens ist hier gänzlich auf die neuern Biographen des Redners zu verweisen; der hämische Gegner Äschines freilich hatte sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen, zu sagen, Demosthenes mache sich eine Rente aus seinem Kopf67. Bei all solchen Dingen ist immer auf das Medium zu verweisen, in welchem sie vor sich gehen, auf diese völlig ehrlose Polis, welche Jahrhunderte hindurch Organe, wie z.B. die Sykophanten, benützte; lehrreich ist auch, ihr zuzusehen bei Anlaß ihrer Atimieerklärungen, welche sie mit den[338] höchsten, feierlichsten Flüchen verbrämt und dann etwa wieder aus Zweckmäßigkeitsgründen stille stellt68, wobei sie ihr Pathos einfach wieder herunterschluckt. In einer solchen Umgebung mußte auch über Realinjurien zwischen Bürgern anders geurteilt werden als in neuern Zeiten.

Neben dieser eigentümlichen Verhärtung (und fast als eine Lichtseite derselben) lebt dann eine gewisse Toleranz, ein Anhörenkönnen von Gegnern, welches heutigen herrschenden Parteien viel schwerer fällt. Es ist in dem lauten Lärm Athens und anderer demokratischer Städte, neben dem wüsten Vordrängen der Streber, noch immer eine gewisse Objektivität des Urteils, eine Bewunderung des Begabten vorhanden, welche auch solchen das Auftreten möglich macht, die das Recht und die Kraft der wahren Auszeichnung in sich fühlen, und von diesen und selbst von Geringern hat man sich Erstaunliches gefallen lassen. Keine Versammlung hielte wohl heute eine Volksrede geduldig aus, wie selbst nur die des Kleon69; was andere Redner und was die Komiker vorbrachten, würde heute als »Hetzerei« zum Schweigen verurteilt sein oder unmittelbar der tatsächlichen Rache verfallen, und jedenfalls würde die Behörde sich gezwungen sehen, Äußerungen dieser Art um des lieben Friedens und der polizeilichen Ruhe willen zu verbieten oder zu bestrafen. In Athen dagegen scheint wenigstens im V. und IV. Jahrhundert kein Redner von der Bühne heruntergerissen oder mit Steinwürfen, Verwundungen und dgl. zum Abtreten gezwungen worden zu sein, wenn es auch an Privatrachen nicht ganz fehlte. Der Demos, wenn man ihn nicht in seinem Lebensprinzip angriff (τὸν δῆμον καταλύειν) ließ über die einzelnen Vertreter seiner Macht ergehen, was da wollte; dieselben waren nicht unverletzlich, nicht mit dem Prinzip in eine gemeinsame Unantastbarkeit zusammengewickelt, und wenn sie preisgegeben wurden, so fanden sich andere an ihrer Stelle.

Nachrichten, scheinbar aus älterer Zeit, aus den großgriechischen Städten Italiens, als dort die berühmten Gesetzgeber Zaleukos und Charondas walteten, würden einen Zustand schildern, da man noch nicht so abgehärtet und ausgeschämt gewesen wäre70, und da sich die Menschen hätten lenken lassen durch jenen Antrieb, welchen man Aidos (Ehrgefühl, Scham, Güte, Diskretion) nannte. Da erfahren wir, daß überwiesene Sykophanten, mit Tamarisken bekränzt, herumgehen mußten, so daß mehrere derselben sich aus Scham das Leben nahmen; daß solche, die im Kampfe geflohen oder der Waffenpflicht überhaupt entwichen waren, nicht wie anderswo mit dem Tode bestraft wurden, sondern drei Tage lang in weiblicher Tracht auf öffentlichem Platze sitzen sollten; daß den[339] Frauen zur Begleitung nur eine Dienerin gestattet war, »ausgenommen, wenn sie betrunken seien«, daß sie nachts nicht aus der Stadt durften, »ausgenommen zur Unzucht«, und gestickte Kleider sollte keine tragen, »ausgenommen die Hetären«. Es ist jedoch nicht schwer, in diesem ganzen Bericht eine späte Fiktion, vielleicht erst aus dem Anfang der Kaiserzeit zu erkennen; in der wirklichen griechischen Polis hat es nie eine Zeit gegeben, da man die Menschen mit Symbolik und Ironie hätte bändigen können. Immerhin konnte eine solche Lektüre noch spät ihre Früchte bringen: in der französischen Revolution meinte z.B. St. Just, der seine politischen Opfer so unbedenklich auf das Schaffot brachte, bei gewöhnlichen Mördern genüge es, wenn sie in schwarzen Schleiern herumgehen müßten; allein er ist damit nicht über einen bloßen Privatwunsch hinausgelangt.

Jene Tugend Aidos wird, wo sich Griechen überhaupt vernehmen lassen, beständig und bei jedem Anlaß gepriesen und in besonderm Sinne der Jugend anempfohlen, welche von so vielen Beispielen des Gegenteils umgeben war. Es gibt eben bei entwickelten Völkern zweierlei Ethik: die wirkliche, welche die bessern tatsächlichen Züge des Volkslebens enthält, und die der Postulate, meist von den Philosophen vertretene. Auch die letztere kann ihre nationale Bedeutung haben, aber nur, insofern sie uns sagt, an welchen Stellen die Nation wenigstens hätte ein böses Gewissen haben sollen. Laut Demokrit71 sollte sich die Aidos bei der Jugend aus der grammatischen, musischen und agonalen Bildung von selber entwickeln. Es war aber gut, daß sie lange vorher bei Homer in Gestalt des edelsten Zartgefühls schon vorhanden gewesen war, und die Griechen konnten sich darüber völlig im klaren halten, daß ihre Ahnen, die Zuhörer des Sängers, ein seelisches Verständnis für das Feinste und Beste im menschlichen Verkehr gehabt haben mußten. Auf vorzügliche Menschen wirkte dies ganz gewiß nach; die übrigen gingen im Strom des Lebens mit, wie sich dasselbeA11 hauptsächlich unter dem Einfluß der Polis gebildet hatte.


Eine allgemeine Bilanz für die Griechen im engern moralischen Sinne aufstellen zu wollen, von den Gesichtspunkten irgendeines andern Volkes, einer andern Kultur aus, wäre ein aussichtsloses Unternehmen. Den Römern, wenn sie auf Kosten der Griechen Moral trieben, hätten die letztern etwa erwidern können, sie brauchten keine Gladiatorenkämpfe, damit ihnen das Essen schmecke, oder damit die Volksmassen für die Wahlen gewonnen würden, und eine Menge Gegenrechnungen dieser[340] Gattung würde man überall zwischen Volk und Volk aufstellen können, auch in betreff z.B. des Genußlebens, der Handlungsweise innerhalb der Familie, der Sklavenmarter, der Lust an völliger Zernichtung von Feinden sowohl als Rivalen jeder Art usw. Als Rest bliebe jedoch immer noch übrig, was die Griechen selber einander zum Tadel ausgesagt haben; ihnen war ja, zum Unterschied von der ganzen übrigen alten Welt, das völkervergleichende Auge verliehen, auch ist oben von solchen Urteilen schon Gebrauch gemacht worden. Herodot gibt hie und da seinen Landsleuten Lektionen, wie wir sahen, und das Gespräch zwischen Xerxes und Achämenes (VII, 236 ff.) ist eigens gedichtet, um der griechischen Polis den tiefen, böswilligen Neid unter ihren Bürgern und dessen praktische Betätigung zu Gemüte zu führen, wobei nur »die wenigen Tugendhaften« ausgenommen werden. Man weiß dann, welchen Schwung dieser Neid bei der weitern Entwicklung der Polis anzunehmen imstande war, und bei diesem Anlaß möge ein wissenschaftlicher Wunsch ausgesprochen werden. Aus dem vereinten Bemühen eines Altertumskenners und eines erfahrenen Kriminalisten sollte ein abschließendes Urteil hervorgehen können über die schikanösen Fälle in den athenischen Gerichtsreden, im quantitativen und qualitativen Vergleich mit den vor heutigen Gerichten vorkommenden Fällen ähnlicher Art. Es würde sich dann weisen, ob in irgendeiner andern Gegend der Weltgeschichte das Teuflische, das Vergnügen am Verderben von andern sich so hat öffentlich laut machen dürfen, wie bei den Griechen hauptsächlich durch Aufmunterung zur Sykophantie geschah, und wie man es aus den erhaltenen Reden von Antiphon bis auf Demosthenes und Hyperides urkundlich kennen lernt. Freilich, wo sich wieder einmal Gerichte finden sollten, welche sich die dort geschilderte Art von Anklägern gefallen ließen, würde es, fürchten wir, auch wieder viele ähnlicheA12 Prozesse geben.

Die weitern Lebenskonsequenzen der Polis, welche einst den Bürger so hoch emporgetrieben hatte und ihm später ein so zweifelhaftes Wohlergehen bereitete, gehören nicht in diesen Zusammenhang, und damit auch nicht das spätere klägliche Zusammenschmelzen der Nation in ihrer Heimat, während der griechische Geist sich im Orient so wichtige neue Daseinsstätten erwarb. An einem aber möge man nicht zweifeln: daß bei diesem Volke Anlage, Wille und Schicksale ein untrennbares Ganzes bilden, daß das Unglück nicht ein zufälliges war, und daß das Welken und Hinschwinden eine Folge desjenigen politischen und sozialen Lebens gewesen ist, welches man geführt hatte. Wie unendlich vieles Große und Schöne, das nur den Griechen erreichbar war, dabei im Entstehen verhindert oder als schon Erreichtes wieder zerstört wurde, mag eher gar nicht erwogen werden.

[341] Hört man aber wieder einen Griechen an, etwa einen Menschen von mittlerer Moralität72, der die Kraft hat, sich auf sich selbst zu besinnen, wie wehmütig sympathisch lautet das Distichon, in welchem er sein eigenes Wesen zusammenfaßt: »ich habe wenigstens nie einen werten und treuen Genossen verraten, und in meiner Seele lebt nichts Knechtisches.«


Zu der Lehre der Griechen vom höchsten Gut und von der Reihenfolge oder Lokation der Güter werden hier nur einige Ergänzungen geboten. Deutlich bemerken wir drei Stufen des Bewußtseins: die des Homer und Hesiod, die in den Zeugnissen der mächtigen Zeit der Nation, endlich die durch Reflexion gewonnene der Philosophen. Doch wird man im täglichen Leben der spätern Zeit auch das Älteste wieder vorklingen hören, soweit die alten Dichter und die AnschauungA13 des Mythus den Horizont noch beherrschen. Wenn wir diese Dinge überhaupt kennen, so verdanken wir dies dem Umstande, daß die Griechen offen zu wünschen wagten, daß nicht Weltklugheit und Resignation alles Verlangen ins Innere des Menschen zurückdrängten.

Bei weitem die sicherste Quelle würden hier die Gebete an die Götter sein, wenn sie uns deutlicher überliefert wären, und Nägelsbach hat davon sowohl in der »Homerischen« als in der »Nachhomerischen Theologie« wenigstens den erreichbaren Gebrauch gemacht. Von urtümlicher Schönheit sind bei Homer z.B. die Worte, welche Nestor73 der verschwindenden Athene nachruft: »Sei mir hold, Herrscherin, und gewähre mir edeln Ruhm, mir und den Söhnen und der züchtigen Gattin.« Dieser edle Ruhm (κλέος ἐσϑλόν) ist und bleibt im Grunde der Hauptwunsch des wahren Hellenen, und gerade diese Worte, welche Gemahlin und Kinder mit umfassen, zeigen, daß es sich dabei nicht bloß um Sieg im Kriege oder im Wettkampf, sondern um ein ganzes verehrtes Dasein handelt. Andere hoch wünschbare Güter werden als solche bei Homer beiläufig verraten; man empfängt z.B. die »Gabe des Schlafes«74, denn er ist wirklich eine Gabe, die da ausbleiben könnte. Von einem andern Ziel der Wünsche, dem schmerzlosen Tod im hohen Alter ohne Krankheit erfahren wir, daß auf der Fabelinsel Syria Apollon und Artemis mit ihren silbernen Geschossen kommen und die greisen Menschen sterben lassen.75 In nachhomerischer, immer noch früher Zeit, gibt der Hymnus auf[342] Aphrodite (V. 103) bereits eine Reihenfolge von Gütern in den Worten des Anchises, welcher der als Göttin erkannten Geliebten einen Höhenaltar gelobt und zu ihr betet um Ruhm vor den übrigen Troern, um einen blühenden Sprossen und um langes Leben bis an die (nämlich äußerste) Schwelle des Alters in Fülle und Glück. Aus Hesiods »Werken und Tagen« würde hierher gehören das wonnige Leben der rechtliebenden Stadt (V. 226 ff.), dessen Schilderung im Grunde aus lauter sehnsüchtigen Wünschen besteht. Was übrigens die Reihenfolge der Aufzählung bei den Dichtern betrifft, so muß dieselbe nicht immer eine Rangfolge gewesen sein, insofern auch das Versmaß seinen Einfluß ausüben konnte.

Aus der historischen Zeit aber gibt es zunächst eine echte Rangfolge in der großen Elegie des Solon76: Olbos, Ruf bei den Menschen, Beliebtheit und Verehrung bei Freunden, endlich furchtbar und gefürchtet zu sein bei den Feinden. Wüßten wir aber nur Olbos mit einem Worte zu übersetzen, jenen aus dem frühen Altertum herübergenommenen, von einem mythischen Glanze leuchtenden Ausdruck alles Gedeihens! Vom bloßen Reichtum wird der Olbos noch später deutlich ausgeschieden: »Wer bei Wohlergehen und Besitz im Hause nichts Edles erstrebt, den nenne ich nicht einen Mann des Olbos, sondern eher nur einen wohllebenden Schätzehüter77

Kürzer als Solon zählt Pindar am Schluß des ersten pythischen Gesanges die Hauptgüter des Lebens auf: sich glücklich befinden sei das erste Wünschbare, edler Ruf das zweite; wer beides erreiche und erhalte, besitze den herrlichsten Kranz78.

Alle diese Definitionen des Wünschbaren setzen im Grunde, wenn auch unausgesprochen, den sittlichen Wert des Menschen, den Adel seines Wesens voraus, und nun finden sich auch ausdrückliche Wünsche dieser Art, freilich auf die unbefangenste Weise mit materiellen Gütern zusammengestellt. Laut Theognis (V. 255, vgl. 147) ist das Herrlichste gerecht zu sein79, das Beste die Gesundheit, das Vergnüglichste: zu erreichen, was man liebt – und dabei bleibt es ungewiß, ob hier von eigentlicher Liebe oder nur überhaupt von Wünschen die Rede ist, welche in Erfüllung gehen sollen. Jemand hatte fast gleichlautend diesen Wunsch in den[343] Propyläen des Latoons von Delphi an die Mauer geschrieben80; die ganze Aufzählung findet sich dann, fast wie aus Theognis entlehnt, bei Sophokles wieder81. Im allgemeinen aber wünscht sich der Grieche sittliche Eigenschaften nicht, sondern er glaubt sie bereits zu besitzen, und vollends die Götter um eine »Gesinnung« zu bitten, war bei der sonst vorausgesetzten Moralität dieser Götter unratsam. Höchstens den spätern Stoikern konnte dies in den Sinn kommen unter dem Einfluß ihres völlig veränderten Gottesbegriffes; wir haben es jedoch hier mit den vom Temperament der Griechen ausgehenden Wünschen zu tun, nicht mit den von der Reflexion eingegebenen Moralsätzen. Und wiederum etwas anderes als das Wünschen und Bitten ist das allgemeine Preisen der Tugend seit Sokrates, als derjenigen zentralen Kraft, von welcher alle andern guten Eigenschaften – an deren Aufzählungen kein Mangel ist – Äußerungen sind, und als Vorbedingung allerA14 Glückseligkeit82.

Die höhere Geltung bei den Volksgenossen oder bei den Menschen überhaupt, in ihrer Steigerung vom Ansehen zur Ehre und zum Ruhm, selbst bei der Nachwelt, wird im Verlauf der Zeit bei den Wünschen weniger betont und fällt endlich in den Aufzählungen derselben weg, so groß auch im Leben die vorhandene Ruhmsucht war und blieb83. Dafür treten Gesundheit und Reichtum in die erste Linie, und der Gott von Delphi hat einst nur zwischen beiden die Wahl gelassen. Wir meinen die merkwürdige Gründungssage von Syrakus und Kroton: Archias zieht den Reichtum vor und gründet das später so große Syrakus; Myskellos wählt für sich und seine künftige Stadt »das Gesundsein«, und Kroton wird dann die Heimat der trefflichsten Athleten und überhaupt eines mächtigen Schlages von Leuten. Im geraden Gegensatz hierzu versprechen die »Vögel« der Komödie (V. 729) den Menschen – sobald diese sie als Götter verehren wollen – beide Vorzüge in einem Stück, und das hierfür eigens gebildete »Reichtumsgesundheit«, πλουϑυγίεια, ist einer der schönsten von den zahlreichen Wortbastarden des Aristophanes; was die Vögel sonst noch für Kind und Kindeskind in Aussicht stellen: Frieden, dauernde Jugend, Gelächter, Tänze, Feste, und daß selbst die Hühner Milch geben sollen, macht natürlich keine ernsthafte Reihe aus. Vorher (V. 604 ff.) hat frecherweise Peisthetairos sogar gefunden: reich sein[344] könne schon an sich für ein großes Stück von Gesundheit gelten, und wer in schlechten Geschäften stehe, befinde sich ohnehin nicht wohl.

Sonst wußten die Griechen recht gut, daß die Gesundheit die große Vorbedingung alles übrigen Glückes sei, und das schöne Skolion des Ariphron84 gibt hiervon ein noch frühes Zeugnis. Aus nicht viel späterer Zeit stammt dasjenige des Simonides85: »Gesundsein ist das beste für den Sterblichen, das zweite ist eine edle Persönlichkeit (φυὰν καλὸν γενέσϑαι), das dritte schuldlos erworbener Reichtum, das vierte, mit trauten Genossen die Jugend zuzubringen.« Ein Komiker des IV. Jahrhunderts ließ mit Beziehung auf diese berühmten Worte des Sängers von Keos zwar die Gesundheit an erster Stelle gelten, bestritt aber die Lokation der edeln Persönlichkeit vor dem Reichtum, indem ein edler Mensch, welcher Hunger habe, ein fatales Wesen sei86. Auch Philemon87 wünscht zuerst Gesundheit, dann Wohlbefinden im allgemeinen, drittens Fröhlichkeit, endlich niemandem Geld schuldig zu bleiben.

Die griechische Elegie geht oft in den Preis bestimmter Güter des Lebens über, namentlich solcher, welche der Sänger ersehnt oder vermißt; bei den Symposien ergab sich dieses Thema gewiß von selbst, und auch, wo der Umschlag der Elegie ins Gnomische und ins Epigramm oder auch schon in die poetische Epistel erfolgt, klingt jener Inhalt häufig fort. Theognis enthält Beispiele von diesen sämtlichen Gattungen, wie sie unter wechselnden Stimmungen zu Worte kommen. »Wenigen Menschen« (heißt es einmal V. 933 sehr schön) ist kräftiges Regen (ἀρετή) und edle Persönlichkeit (κάλλος) zugleich eigen; glückselig, wer beides vereint, alle ehren ihn, Junge und Alte machen Platz vor ihm; ein Greis, ragt er doch hervor unter den Bürgern, unangefochten im Umgang wie im öffentlichen Leben.

Der Reichtum gehörte einst, wie wir sahen, zu den naiv herbeigewünschten Vorbedingungen des Glückes88; daneben aber wird mit der Zeit beklagt, daß er zu sehr das Eins und Alles werde und in der Regel nicht in den rechten Händen sei. Besonders Theognis ist voll von Klagen über die Armut und die in ihrem Gefolge gehende unverdiente Ohnmacht, während der Reichtum (V. 699) den Vorzug verleihe vor Weisheit, Klugheit, gewinnender Rede und Schnellfüßigkeit89. Euripides führt ähnliche Gedanken weiter: wenn ein Reicher etwas sage, gelte es für[345] weise, während man zu lachen pflege, wenn ein Armer sich trefflich äußert; auch vermähle man Kinder lieber an einen schlechten Reichen als an einen guten Armen90. Nicht bloß die »Trefflichkeit« nämlich, sondern auch die edle Abkunft wurden allmählich von den meisten nur noch in Worten hoch erhoben, in der Tat aber den Genüssen und der Macht, welche der Reichtum erzeugt, nachgesetzt. Und doch warteten des Reichen damals Feinde und Gefahren, welche ihm seinen Besitz sehr verbittern und schmälern konnten, und dabei wurde von ihm verlangt, daß er sich als Reicher offenkundig zeige. Bei Euripides wird dem reichen Knauser, der sich selber nichts gönnt, zugetraut91, daß er auch den besten Freunden Feindschaft erweisen, ja die Tempel der Götter berauben würde. Ein Jahrhundert später verlangt Alexis92, der Glückliche solle glänzend leben und die Gabe der Gottheit sichtbar werden lassen, denn darin erkenne die letztere seinen Dank; wer sich aber verstecke und nur in mittlerer Lage zu sein behaupte, den nehme die Gottheit für undankbar und sein Tun für illiberal und raube ihm auch wohl das Verliehene wieder93. Einstweilen muß jedoch deutlich darauf hingewiesen werden, welche große Quote ausgezeichneter Männer des mittlern und spätern freien Griechenlands sich der freiwilligen Armut beflissen haben, allerdings zum Teil, weil ihnen nur ein Erwerb, welcher für unedel galt, offen gestanden hätte und auch, weil jene Gefahren des Reichtums in ihren Augen den Genuß desselben überwogen.

Endlich wird auch der heitere Genuß (ἡδονή, τερπωλή) offen zu den Gütern des Lebens gerechnet – in welchem Sinn und Umfang, hängt von dem Sprechenden ab, und Solon geht bekanntlich in seinen Zugeständnissen ziemlich weit. Bei Anlaß der Proteste gegen den Pessimismus wird hiervon weiter zu handeln sein; vor der Hand mag eine Hinweisung auf das XII. Buch des Athenäus genügen, unter dessen Zitaten sich glänzende Worte des Simonides und des Pindar zum Preise des Genusses finden. Von Pindars Rival Bacchylides sind nur arme Bruchstücke auf uns gekommen, aber eines derselben94 führt in eine höhere Anschauung hinein: »Nur eine Bedingung, nur einen Weg des Glückes gibt es für den Sterblichen, nämlich daß er leidenschaftslosen Sinnes sein Dasein durchlebe; wer aber nach tausend Dingen trachtet, dessen Herz wird Tag und Nacht wund sein um dessentwillen, was erst kommen soll, und sein Mühen dennoch vergeblich.«

[346] Wir haben bisher die Philosophen und ihre ethische Reflexion, welche überall Tugend und Tugenden als das Wünschbare preist, übergangen, doch ist ihrer insoweit zu gedenken, als sie anderswo über das volkstümliche Wünschen sich geäußert haben oder irgendwie darauf eingegangen sind. Hier interessiert uns vor allen Plato mit zwei großen Reihenfolgen. Die eine95 zählt die Güter des Menschenlebens auf; nachdem von den Tugenden begonnen worden, folgenA15: Gesundheit, Schönheit, Kraft zum Lauf und allen Leibesbewegungen, dann der Reichtum, aber nicht der blinde, sondern der mit Verstand (φρόνησις) verbundene; ein Mitredner fügt hinzu: scharfe Sinne, besonders Gesicht und Gehör, dann eine gebietende Stellung, um tun zu können, was man will, und, nachdem man dies alles in Vollendung besessen, daß man »unsterblich werde sobald als möglich«; doch seien dies alles nur Güter für gerechte und heilige Menschen. Die andere Reihe96 enthält eine Lokation nicht der Güter, sondern des Wertes der Menschen in neun Stufen; allein dieselbe entspricht nicht der herrschenden Anschauung der Griechen, sondern derjenigen Platos und ist für diese allerdings von hoher Bedeutung. Sodann haben die Philosophen hie und da an dem volkstümlichen Wünschen Kritik geübt: Antisthenes gab zu, daß der Genuß (ἡδονή) ein Gut sei, aber nur der, welcher keine Reue hinter sich lasse97; Menedemos, als er hören mußte, das höchste Gut sei Erfüllung dessen, was einer begehre, sagte: größer sei, nur zu begehren, was einem gezieme98. Bei Aristoteles findet sich die schöne Unterscheidung zwischen dem äußern Glück (εὐτυχία) und dem innern (εὐδαιμονία), welches vom Schicksal (τύχη) unabhängig ist99. – In der Folge hat einst der gute Plutarch in einer leicht zu habenden Gedankenverbindung100 das Bedingte und Hinfällige aller Erdengüter hervorgehoben, um Bildung und Erziehung als die vorzüglichsten Hilfsmittel zur Erreichung von Tugend und Glückseligkeit preisen zu können. Edle Geburt sei etwas Schönes, aber ein Verdienst der Vorfahren; der Reichtum geehrt, aber Sache des Schicksals und höchst wandelbar, allen bösartigen Feindschaften ausgesetzt, auch oft im Besitz der Allerschlechtesten; der Ruhm erhaben, aber nicht unerschütterlich; die Schönheit beneidet, aber von kurzer Dauer; die Gesundheit schätzbar, aber unbeständig; die Leibeskraft sehr wertvoll, aber durch Alter[347] und Krankheit zerstörbar, und gegenüber derjenigen von Stieren, Elephanten und Löwen wolle sie wenig besagen, während von allem, was in uns ist, die Bildung allein unsterblich und göttlich sei.

Aus nicht viel späterer Zeit, bei Lucian, stammt dann das merkwürdige Dokument phantastischen Durcheinanderwünschens, welches unter dem Titel »das Schiff« bekannt ist101. Der Gescheiteste unter den Mitrednern, Timolaos, wünscht sich jene Zauberringe, deren wichtigster ihm ewige Kraft, Gesundheit und Unverwundbarkeit gewähren würde; die übrigen müßten ihn unsichtbar, riesenstark, flugfähig usw. und ganz besonders allbeliebt machen, und dies alles mit einbedungener, stets erneuerterA16 Verjüngung bis zu tausend Jahren. Auch Aussagen dieser Art aus fernen oder vergangenen Bildungswelten darf die Kulturgeschichte nicht verachten, insoweit sie eine zeitliche und nationale Farbe haben.

Neben allen Erdengütern aber und ihrer Wünschbarkeit und Fraglichkeit stand schon längst der Gedanke, welcher ein Fazit ziehen wollte: ob das Leben um seiner selber willen überhaupt wünschbar sei? Einstweilen mag konstatiert werden, daß Aristoteles die Frage bejaht hat102.


Fähigkeit und Neigung über den Wert des Daseins zu festen, allgemein herrschenden Ansichten zu gelangen, sind bei den einzelnen Völkern ohne Zweifel von jeher in sehr verschiedenem Grade vorhanden gewesen. Auch können dieselben in latentem Zustande bestehen ohne eine literarische Äußerung zu finden, oder eine mächtige Religion hat die ganze Frage vorweg entschieden.

In betreff der alten Griechen glaubte man seit der großen Erhebung des deutschen Humanismus im vorigen Jahrhundert im klaren zu sein: im Widerschein ihres kriegerischen Heldentums und Bürgertums, ihrer Kunst und Poesie, ihres schönen Landes und Klimas schätzte man sie glücklich, und Schillers Gedicht »die Götter Griechenlands« faßte den ganzen vorausgesetzten Zustand in ein Bild zusammen, dessen Zauber noch heute seine Kraft nicht verloren hat. Allermindestens glaubte man, die Athener des perikleischen Zeitalters hätten Jahr aus Jahr ein im Entzücken leben müssen. Eine der allergrößten Fälschungen des geschichtlichen Urteils, welche jemals vorgekommen, und um so unwiderstehlicher, je unschuldiger und überzeugter sie auftrat. Man überhörte den schreienden Protest der ganzen überlieferten Schriftwelt, welche vom Mythus an das Menschenleben überhaupt beklagt und verschätzt, und in[348] betreff des besondern Lebens der griechischen Nation verblendete man sich, indem man dasselbe nur von den ansprechenden Seiten nahm und die Betrachtung gerne mit der Schlacht von Chäroneia abschloß. Ganz als wären die folgenden zwei Jahrhunderte, welche das Volk, und weit überwiegend durch sein eigenes Tun, bis nahe an die materielle Zernichtung führten, nicht die Fortsetzung des Vorhergegangenen gewesen.

Hier ist nun bloß von der allgemeinen griechischen Wertschätzung des Menschendaseins zu handeln, wobei auf jede Parallele mit der Denkweise anderer Völker gerne verzichtet wird, auch auf die mit dem urgründlichen Pessimismus des persischen Königsbuches, in dessen Sage selbst die Helden und Tugendhaften in ihrer spätern LebenszeitA17 regelmäßig dem Bösen verfallen. Bei den Griechen, welche gerne an Unveränderlichkeit des Charakters glaubten, wird der Mensch im ganzen nicht böser, als er schon ist, unglücklich aber ist er ohnehin, mit oder ohne Zutun der Götter.

Was diese Götter dem Griechen waren, wie sie, von sehr furchtbaren Gestalten aus beginnend, wohl Geber der Gaben wurden, aber nur eine sehr bedingte Herrschaft über Welt und Menschenleben führten und mit dem Schicksal teilen mußten, haben wir oben darzustellen versucht. Auch sind ja die Götter selbst nicht immer glücklich, und wäre es auch nur wegen ihres Neides; mit diesem aber pflegen sie auch die hervorragenden Menschen heimzusuchen, zunächst die Heroen des Mythus, mit welchen hier zu beginnen ist.

Daß Helden über ihren Großtaten untergehen, erzählt die Sage verschiedener Völker, und die Burgunden am HoflagerA18 König Etzels sind ein unvergeßliches Beispiel. Auch der Herrscher, welcher die Freier seiner Tochter zwingt, mit ihm auf den Tod zu kämpfen (γαμβροκτόνος), kommt bei mehrern Völkern vor, und so noch anderes mehr. Was aber die griechische Anschauung auszeichnet, ist, daß hier deutlicher und reicher als sonst irgendwo von einem ganzen großen, genau bekannten Geschlecht gesungen wurde, welches nicht ausgestorben, sondern meist gewaltsam untergegangen sei, und zu diesem Geschlecht fühlte sich die spätere Welt, schon die der Sänger (οἷοι νῦν βροτοί εἰσιν) in einem ehrfürchtigen Gegensatz. So war laut den Gedanken der Griechen im Krieg von Ilion und auf der Heimkehr und nach derselben der größte Teil der letzten großen Generation von Helden umgekommen103, aber düstere Schicksale hatten auch die ältern Heroen schon von jeher verfolgt, im Tun und im Leiden. Ihr ganzer Mythus ist von Anfang an hiervon erfüllt, und wo das Epos Motive und Reflexionen ausspricht, geschieht es im[349] Sinne des entschiedenen Pessimismus. Auf einem solchen Boden mochte in der Folge die Tragödie jene kunstreichen Gebäude von Frevel, Fluch und Jammer in eine gesteigerte Höhe treiben.

Zwar werden wir belehrt, daß vielen dieser Sagen bloße Naturphänomene zugrunde lägen, besonders von astraler und meteorischer Art. Wahnsinn und Unglück des Bellerophon bedeuten die scheinbaren Störungen der Sonnen- und Mondbahn, Phädra und Hippolytos die Flut des Meeres, in welcher der Morgenstern untergeht usw. Allein auch wenn man diese und alle ähnlichen Deutungen zugeben müßte, würde es erst recht auffallend und für die Griechen bezeichnend, daß sie daraus jene furchtbaren menschlichen Geschichten entwickelt haben. Und wer hieß sie denn vollends aus der Nachtigall mit ihren Klagetönen und aus dem Verhalten dreier anderer Vögel jenen greulichen Mythus von Philomele, Prokne, Tereus und Itys bilden? Der Wille zum Düstern muß wahrlich sehr stark gewesen sein, und wenn man jene erfindungsreiche Vergrimmigung der Heroenmythen bei den TragikernA19 hinzunimmt, so ergibt es sich, daß dieser Wille zugleich mit der steigenden hellenischen Bildung im Wachsen war. Was uns hier beschäftigt, ist nicht Skelettierung der Sagen bis auf ihre ältesten Elemente, sondern gerade ihre tendenziöse Erweiterung.

Schon die ältesten Bewegungen im Volke, von welchen noch eine Erinnerung dämmerte, werden persönlich gemacht durch Helden, welche Totschlag üben und in eine fremde Gegend wandern, wo ein heroischer Fürst sie aufnimmt, entsühnt, beschenkt und etwa gar zu Erben macht104. An jedem Fürstenhofe weilen solche Flüchtlinge als stehende Figuren. Anderseits knüpft sich an die Tat eine Blutrache, welche z.B. bei Verlöbnissen durch die verletzte Familie dem Bräutigam als Pflicht einbedungen wird. Allein wie gering ist dies zu achten neben der sonstigen persönlichen Rache der Leidenschaft bis in den ausgesuchtenA20 Greuel, die thyesteischen Mahlzeiten hinab105. Außer der Wut der Vergeltung geht auch der Neid im Mythus den Heroen wie den Göttern nach. Herakles beim Sturm auf Ilion zieht sein Schwert gegen den Genossen Telamon, bloß weil dieser zuerst in die Stadt gedrungen; der früheste mythische Künstler, Dädalos, ist ein entsetzlicher Charakter, und bei ihm findet sich das älteste Beispiel der bei allen Völkern verbreiteten Sage von dem Meister, welcher aus Neid auf das Talent den Gesellen ermordet106;[350] auch das rätselhafte Kunstvolk der Inseln, die Telchinen, gilt als neidisch und bösartig. Und wie oft sonst führt der Mythus allen Jammer daher über den Neidischen sowohl als seine Opfer! Denn das Böse wächst hier oft auch im Innern des Menschen von frühe an, und Zwillingsbrüder wie Prötos und Akrisios usw. hadern schon im Mutterleib, um dann als Erwachsene um die Herrschaft zu kämpfen. Die »Sparten« sind kaum eben aus den ausgesäeten Zähnen des Drachen von Theben erwachsen, da genügt ein Steinwurf des Kadmos, damit sie übereinander herfallen und sich zernichten bis auf fünf, welche dann, als Extrakt der Kraft der ganzen Schar, die Stammväter der dortigen Bevölkerung werden. Auch eine ganze Reihe mythischer Frauen sind wahrhaft furchtbare Gebilde, sei es, daß ihre Gier auf Habe und Schmuck der ganzen Umgebung Verderben bringt (Eriphyle), oder daß sie bei versagter Liebe auf das Entsetzlichste sinnen, und in Ephyra, dem mythischen Korinth, liegt seit Medeas Zeiten für ihren Gebrauch Gift bereit. Ein Spätrömer, der sogenannte Hyginus, hat aus griechischen Mythographen ein umfangreiches Verzeichnis entweder zusammengestellt oder geradezu übersetzt107, welches aufzählt: die Väter, welche ihre Töchter, die Mütter, welche ihre Söhne getötet, die Gattenmorde, Selbstmorde, Morde von Verwandten jeden Grades usw. nebst drei Beispielen von solchen, welchen ihre eigenen Kinder als Speise vorgesetzt wurden.

Allein im großen hat das Unheil, welches vom Schicksal und von den Göttern verhängt wird, bei weitem das Übergewicht, und gerade die entscheidenden Gestalten und Geschichten, welche dem Mythus seinen Charakter geben, gehören in dieses Gebiet. Bei Homer ist der Untergang »vieler« achäischer Helden der Wille des Zeus sowohl als des Schicksals, und Achilleus ruft es dem Zeus mit deutlichen Worten zu108; vorher hat Zeus die Tötung des Patroklos durch Hektor verzögert, damit der erstere noch recht viele Troer töte; Apollon tut hierauf gegen Patroklos alles, was man gegen jemand tun kann, ohne ihn direkt zu ermorden, und trotz Hektors Speerwurf stöhnt dann der Sterbende: mich töten die Moira und der Sohn der Leto! Dem nachhomerischen Mythus (erweislich in den Zyprien) genügt sogar das Wegsterben des Heroengeschlechts nicht mehr: es sind der Menschen überhaupt zu viele auf der Welt; da erscheint denn die Erdgöttin vor Zeus, um ihn zu bitten, er möge sie erleichtern von der gar zu großen, lastenden Menschenmasse; der Gott veranlaßt zunächst den thebanischen Krieg, welcher schon viele hinraffte, und hierauf den troischen, wodurch die Erde endlich ausgiebig entlastet worden sein soll. – Bei Euripides109 betont Apollon insbesondere, die[351] Götter hätten Helena und den Krieg um sie gesandt: »daß die Erde sie entlasteten des Übermuts zahlloser Mengen Sterblicher.« Achilleus aber war geschaffen, um das Männervolk durch seine Kraft zu zernichten, und sein Speer – eine Esche vom Pelion – war einst von Cheiron seinem Vater Peleus geschenkt worden, damit sie »Heroen zum Verderben gereiche«110. Später thronen dann die beiden zerstörenden Mächte als verklärtes Götterpaar auf der Insel Leuke und erzeugen dort das geflügelte Kind Euphorion111.

Von diesem allgemeinen, selbstverständlich pessimistischen Hintergrunde heben sich dann die ruhmvollsten Wesen des Mythus mit ganz besonders düstern Schicksalen ab. »Sie gelangten nicht nach mühelosem, gefahrlosem Leben in hohes Alter«, sagt Simonides112, allein dies wäre ohnehin nicht die Aufgabe von Heroen gewesen, und die Sage berichtet von manchenA21 noch ganz andere Schrecken.

Die bei weitem wichtigste dieser Gestalten bleibt Prometheus. Es bedurfte nicht der erhabenen äschyleischen Dichtung; schon was allen Griechen geläufig war: was Prometheus den Menschen geschenkt und gegönnt und was er dafür gelitten hatte – genügte, um in der Tiefe der Gemüter eine StimmungA22 rebellischer Klage gegen Götter und Schicksal wach zu halten. Auch zwischen die glänzendsten Opfer und Feste hinein muß ja immer das Bild des Gefesselten auf dem Gebirge hie und da in den Gedanken der Griechen aufgetaucht sein, und dann wußte man, wie man mit den Göttern eigentlich daran war. Diese haben in allen Wandelungen der Sage mindestens den Menschen das Feuer, die Vorbedingung aller Bildung und allen Gedeihens, nicht gönnen wollen; ob der, welcher es ihnen dennoch brachte, ein ursprünglicher Feuergott, ob er ein Titan, ob er gegenüber der Zernichtungsabsicht des Zeus der Retter, ja sogar der Schöpfer des Menschengeschlechtes gewesen, darüber mochten die verschiedensten Meinungen im Gange sein, jene Grundanschauung blieb.

Auch bei Herakles ist die (ohnehin so fragliche) Urbedeutung seines Wesens nicht das Entscheidende, vollends aber hat die Erklärung von Heras Feindschaft durch meteorische Vorgänge, welche man ja dem ganzen Verhalten zwischen Zeus und Hera zugrunde legt, im Bewußtsein der Griechen der historischen Zeit keine Stätte gehabt. Für sie ist der gewaltige Held zwar immer mehr (und bei den Spätern am meisten) zum[352] Überwinder und Wohltäter der ganzen Welt113 geworden, allein, was in der täglichen Anschauung bei weitem vorherrschte, war das Bild eines unwürdig Dienenden und Duldenden. Alles, was vom lydischen Sandon, vom phönizischen Melkarth her in die Gestalt aufgenommen sein mag, bildetA23 der Grieche in selbstverständlichem Pessimismus zu Leiden um. Der Dienst bei Eurystheus, zu Vollbringung der zwölf Arbeiten (mag damit die Wanderung der Sonne durch den Tierkreis versinnbildlicht sein oder nicht), ist nicht eine göttliche läuternde Prüfung, obgleich von der Pythia befohlen, sondern eine wahre Tücke des Schicksals, und bei Spätern, z.B. bei Apollodor, darf der elende Dienstherr einzelne der Arbeiten refusieren, weil Herakles sie mit Genossen oder um Lohn ausgeführt habe114. Zwischenhinein sendet Hera dem Herakles den Wahnsinn, in welchem er seine Kinder ermordet; durch seinen Pfeil kommen auch die trefflichsten Kentauren um, welchen er wohl will; endlich auf dem Scheiterhaufen am Oeta muß er demjenigen seinen Bogen vermachen, welcher ihm den Dienst erweist, das Feuer anzuzünden. Diese Gestalt stand vor den Griechen in den verschiedensten Beleuchtungen, wobei auch die komische reichlich vertreten war, indem die gescheiten Leute sich natürlich einbildeten, daß ein so geduldiger Held beschränkten Sinnes gewesen. Dies war der Dank des Witzes.

Daß den Helden ein übergroßes Maß von Gefahren zugewiesen wird, daß man sie arglistig, aber umsonst zu verderben sucht, kommt im Mythus und Märchen verschiedener Völker vor, und Perseus, mit magischer Gegenwehr reichlich ausgestattet, überwindet alles, und das Letzte, was man von ihm erfährt, ist seine spätere Herrschaft im Peloponnes. Bellerophon dagegen, ein Sonnenheld wie er, ein Überwinder schrecklicher Ungetüme und ganzer Völker, wird irren Sinnes und allen Göttern verhaßt; er will auf seinem Flügelroß »übermütig« zur Wohnung des Zeus empordringen, wird aber abgeworfen und endet elend zerschmettert, ähnlich wie Phaethon. Mag nun auch hier der Wahnsinn, wie man ihn erklärt, Störungen der Sonnenbahn versinnbildlichen wie bei Herakles, so dürfen wir doch wiederum fragen, warum gerade bei den Griechen daraus solche Schreckensgeschichten geworden sind?

Ferner ist dem griechischen Mythus vorwiegend und in auffallendem Maße eigen, daß das Herrlichste jung stirbt. Es wird sich weiter zeigen, was den Griechen der historischen Zeit Jugend und Alter bedeuteten, und wie man die Frühverstorbenen ganz offenbar beneidete; dasselbe[353] Gefühl darf vollends im Mythus als herrschend gelten, und wir bedürfen z.B. bei Hippolytos, bei Androgeos nicht der Ausdeutung durch den Morgenstern, welcher in der Flut untertaucht oder vor der Sonne verblaßt; lebten doch überall in der Phantasie und in den Klaggesängen des Vokes auch jene früh und jäh dahingestorbenen göttlichen Wesen wie Linos, Hyakinthos, Hylas, Bormos, Kinyras, Adonis u.a. Wenn dann das kurze Heldenleben des Achilleus (μινυνϑάδιος, παναώριος) ursprünglich einem Waldstrom, der nach kurzem Lauf ins Meer stürzt, entsprechen soll, so ist wenigstens alles geschehen, um uns dies vergessen zu lassen. Mit einer hinreißenden Sympathie hat der Gesang der Aöden das Herrlichste in ein Jünglingsleben zusammengedrängt und von Anfang an den wehmütigen Bezug auf das frühe Ende hineingewoben. Achilleus ist so wunderbar, weil er früh sterben wird, und er stirbt früh, weil er so wunderbar ist. Ob er ursprünglich eine Naturgottheit gewesen, bleibe dahingestellt; seine Vergöttlichung, nachdem ihn der Pfeil des Paris getroffen, seine Vereinigung mit Helena auf der Insel Leuke ist wohl unabhängig hiervon erfolgt, weil die Phantasie der NationA24 zuviel von ihrem Besten auf ihn gewandt hatte. So viele minder erlauchte Tote genossen ja heroischen Kult; dem Sohn der Thetis errichteten die Griechen an vielen Stellen die Achilleia.

Neben der Gestalt des Frühgestorbenen erhebt sich die des mächtigen Dulders, welcher alles überlebt, der Grieche des Mannesalters, Odysseus. Es ist der Sage und Dichtung anderer Völker nicht schwer gefallen, auf ihre Helden eine zufällig geordnete Reihe mehr oder weniger gefährlicher Abenteuer zu häufen, und sie am Ende lebend und glücklich daraus hervorgehen zu lassen, die Odyssee aber meint es anders. Homer übergeht zunächst den ganzen frühern Odysseus der unbedenklichen Arglist und Gewalttat und hebt an mit der berühmten Rückkehr von Ilion. Die Gefährten gehen nach und nach alle unter, und nicht immer durch Zutat eigener Schuld; das Unheil bei den Lästrygonen hat kein einzelner veranlaßt, auch die Opfer der Scylla sind schuldlos, und gegenüber von Polyphem sind die Gefährten sogar klüger als der Führer: in ihnen allen aber ist das Schicksal der weitmeisten Sterblichen versinnlicht. Odysseus selber steigt vom König und Heerführer bis zum völlig einsamen Schiffbrüchigen herab, dazu wird das Herzeleid um die Seinigen durch den Besuch in der Unterwelt und den langen Aufenthalt bei Kalypso auf das höchste gesteigert, bis sich am Ende die Götter des so herrlich und gewaltig gebliebenen Menschen doch wieder annehmen müssen, aber auch nur dieses einzigen. Nach dem Untergang der Freier ist dem Helden zwar noch die Vollziehung einiger Pflichten, dann aber[354] ein ruhiges Alter und das Walten über glücklichen Bevölkerungen in Aussicht gestellt, aber nur in der Odyssee115; andere Sagen dagegen beladen ihn und die Seinigen, sogar in unschöner Weise, mit bunten spätern Erlebnissen116.

Die Irrfahrten und Kämpfe des Odysseus sind aber nur der berühmteste Teil der Rückkehrsagen (νόστοι). Die griechische Phantasie hat alles getan, um die Eitelkeit des großen, siegreichen Kriegszuges, und man darf wohl sagen: die Eitelkeit alles dessen, was in der Welt für groß gilt, durch die düstern Schicksale der meisten Heimkehrenden zu verdeutlichen. Aias der Telamonier endet noch vor Troja durch den berühmten Selbstmord, Aias, der Sohn des Oïleus, auf einer Klippe durch Poseidons Dreizack; andere gehen unter, weil Nauplios, der Vater des tückisch gemordeten Palamedes, durch Feuerzeichen ihre Schiffe gegen die Felswände von Euböa lockt, und laut der spätern Sage war es dieser nämliche Nauplios, der unter den Gattinnen der abwesenden Heroen Ehebruch gestiftet hatte, vor allem bei Klytämnestra. Auch Diomed, nach Argos zurückgekehrt, findet seine Aigialeia als Buhlerin eines Sohnes des Sthenelos. Mit Ermordung bedroht, rettet er sich auf den Altar der Hera und flüchtet nach Italien; hier, als Gottheit des adriatischen und tarentinischen Meeres, beginnt er dann gleichsam ein zweites Leben. Sonst ist der herrschende Hergang bei allen jugendlich Gedachten ein gewaltsames Ende, wie z.B. bei Neoptolem in Delphi; einer, wie Nestor, muß von Amts wegen alt werden, damit er die Taten des frühern Geschlechts dem jüngern erzähle. Im ganzen aber stimmen die Sagen von der Rückkehr den Hörer so, daß er die vor Ilion Gefallenen für die Glücklichern halten soll.

Im Mythus überhaupt teilen sich sehr überwiegend Schicksal und Götterneid in die Schicksale der Heroen, und das Schicksal gibt sich kaum eben die Mühe, die letztern bei ihrer etwaigen Verschuldung zu fassen; zunächst müßte es sich, beiläufig gesagt, um eine Schuld gegen Menschen handeln, welche das Gewissen aller Zeiten und Völker nachfühlen kann, und nicht bloß darum, daß ein Opfer an eine Gottheit versäumt worden ist und dergleichen; aber auch der in seinem sonstigen Verhalten wirklich Schuldige findet sein oft furchtbares Ende an dieser Stelle. Was am Schicksal vor allem hervorgehoben wird, ist nicht die Gerechtigkeit, sondern die Unvermeidlichkeit, und hier dienen dem Griechen die Orakel als eine unvergleichliche Quelle von Motiven. Das bloß stückweise Erfahren der Zukunft befördert den Untergang des[355] Fragenden; Ödipus, in Delphi vor Vatermord und Blutschande gewarnt, meidet hierauf Korinth und seine dortigen vermeintlichen Eltern, um dann erst recht ins tiefste Verderben zu gehen. Der mythische Mensch richtet sein ganzes Leben sorgenvoll auf einen empfangenen dunkeln Götterspruch ein – umsonst; die ausgesetzten Schicksalskinder (wie Ödipus, Paris u.a.) werden gerettet, und durch sie geschieht hernach, was geschehen muß; ist aber das zum Vatermord bestimmte Kind nicht ausgesetzt worden, und haben Vater und Sohn einander des Orakels wegen nur sonst nach Kräften gemieden, so weiß das Schicksal den Vatermord dennoch herbeizuführen, wie in dem empörenden Fall des Katreus und Althämenes117.

Eine andere Wendung nimmt das geweissagte Unglück in der Sage vom Zug der Sieben gegen Theben. Einer der Anführer, zugleich ein mächtiger Seher, Amphiaraos, weiß, daß die Sache gegen den Willen des Zeus geht, und alle wissen es durch ihn, und die Todesahnung und eine Reihe der schlimmsten Zeichen118 begleiten sie auf dem ganzen Zuge, von welchem einzig Adrastos heimkehrt, ein schwermütig Trauernder auf Lebenszeit. Unterwegs, als Gäste des Königs von Nemea, da eben dessen Kind durch einen Schlangenbiß gestorben, begruben die Sieben dasselbe, und Amphiaraos sagte: dies zeige ihnen ihr eigenes Ende an, und sie nannten den Knaben Archemoros, d.h. den Führer zum Tode. Besitzt wohl die Heldensage irgendeines andern Volkes einen Zug wie diesen? – Sehr viel großartiger tönt die Ahnung Hektors: Einst wird kommen der Tag, da die heilige Ilios hinsinkt119, – denn er führt nicht einen Abenteurerzug, sondern er ist der mächtigste Verteidiger seiner Heimat und bleibt es auch, indem er dieselbe verloren weiß.

Diese Heimat aber war bisher eine Stätte des herrlichsten Glückes gewesen, damit ihr Untergang um so viel deutlicher und herber die Hinfälligkeit des Irdischen vor dem Schicksal an den Tag bringe. Was nur von Glanz und Göttergunst einem Herrscherhause zuteil werden konnte, das hatten diese Dardaniden in Fülle genossen, Ruhm und Reichtum und wohliger Genuß walteten, bis die Achäer sich aufmachten, – wie aber dann die meisten dieser Sieger endeten, darauf wurde bereits hingewiesen. Troer und Achäer, beide zusammen, enthüllenA25 in ihren Geschicken die wahre griechische Anschauung vom Werte der Erdendinge, die Götter aber mit ihrer schwankenden und zwieträchtigen Einmischung sind hier im großen nur die Gehilfen eines gewaltigernA26 Gesamtwillens; die bevorzugten[356] Geschlechter sollten überhaupt aufhören. Auch auf der Seite der Achäer hatten die schlimmen Ahnungen nicht gefehlt: Odysseus hatte sich als Tor gestellt, um sich dem Kriege zu entziehen, und Thetis hatte ihren Sohn unter den Mädchen von Skyros verborgen – alles umsonst.

Wohl ist der Mensch von den Moiren zum Dulden innerlich ausgestattet120 und soll den schrecklichsten Schmerz zu bändigen wissen, dafür ist ihm aber auch in vollem Maße »von den Göttern zugesponnen, im Jammer zu leben«. Bisweilen fällt es auch diesen Göttern selber ein, wie töricht ihre Parteinahme in den Händeln dieser elenden Sterblichen sei121, welche wie das Laub an den Bäumen wachsen und dann wieder entseelt dahinschwinden. Nichts Elenderes auf Erden als der Mensch! – meint Zeus – von allem, was da atmet und kreucht122. Er spricht diese Worte zu den ob Patroklos Tod weinenden unsterblichen Rossen des Achilleus, indem er sie beklagt, daß sie, die nie alternden, dem sterblichen Peleus geschenkt worden; der Gott und diese Tiere verstehen sich zusammen und können miteinander über das Menschengeschick verkehren123.

Man kennt die beiden Schicksalsfässer an der Schwelle des Zeus124; bloß aus dem guten Faß bekommt niemand; die Proportion ist die, daß viele nur aus dem schlimmen bekommen. Pindar fixiert dies125 später genauer: auf ein Gutes teilen die Götter den Sterblichen zwei Übel zu. Bevor man jemandem irgendein Gutes und Glück verspricht, wird deshalb gegen das allgemeine Erdenschicksal weislich ein Vorbehalt eingelegt. Alkinoos weiß, daß seine Phäaken auf ihren Wunderschiffen den Fremdling nur sicher bis in seine Heimat geleiten können: »von da an126 wird er dulden, was sein Los ihm bestimmt und die unerbittlichen Schwestern, als ihn die Mutter gebar, in den werdenden Faden gesponnen.«

Wenn aber die Götter sich auf dem Olymp einen guten Tag machen wollen, dann muß zur Kithar der Gesang der Musen ertönen von den Menschen, und wie sie in ihrem Notdulden dahinleben planlos und hilflos und gegen Tod und Alter kein Heilmittel wissen127. Wie oft und wie furchtbar aber der Neid derselben Götter den tiefsten Jammer über die Sterblichen gebracht hat, und wie ihnen schon das einfachste häusliche Glück und das Wohlwollen unter den Menschen unleidlich sein konnte,[357] soll hier nicht wiederholt werden. Man muß sich nur immer wieder vergegenwärtigen, was ihnen zwischen alle Verherrlichungen hinein zugetraut wurde. Phineus, der Herrscher am Eingang des Pontus hat einen Frevel begangen, und Zeus läßt ihm die Wahl zwischen Tod und Erblindung; er wählt letztere, und nun ergrimmt Helios, weil Phineus auf seinen Anblick verzichtet hat und sendet ihm die Harpyien. Poseidon verspricht128 dem Theseus die Gewährung dreier Wünsche, und dieser verlangt und erhält: die Befreiung seines Genossen Peirithoos aus dem Hades, die glückliche Rückkehr aus dem Labyrinth, und – grauenvollerweise den Untergang seines Sohnes Hippolytos, der bei ihm verleumdet worden war.

Wenn die Phantasie an solchen Anschauungen weiterspinnt, gerät sie gerne auf das Bild eines goldenen Zeitalters, da es den Menschen besser gegangen als jetzt. Sie frägt dabei nicht, ob es nicht schon damalsA27 grausame Götter gegeben, sie will nur flüchten um jeden Preis. Alle Völker haben Schilderungen dieser Art, bis zum niedrigenA28 Schlaraffenleben abwärts129. Um so schlimmer ist dann der wirkliche Zustand, in welchem das Individuum leben muß; aber so völlig pessimistisch und mit so völliger Verzweiflung wegen Gegenwart und Zukunft, wie sich das griechische Bewußtsein in der Erzählung von den fünf Menschenaltern bei Hesiod130 ausspricht, wird sich wohl kaum eine andere Nation geäußert haben. Sodann beginnt schon bei Homer jenes Preisen entfernter und dabei gerechter und glücklicher Völker, welches ein Hauptstück der mythischen Geographie ausmachte und sich später auch in der wirklichen zu behaupten suchte131; die Ränder der Welt müssen wohl das Wohlergehen beherbergen, dessen die Mitte völlig verlustig gegangen; – »dort, wo du nicht bist, ist das Glück«.

Noch eine kleine Beobachtung fügt sich hier von selbst an. Da das Leben ist, wie es ist, darf bei den Griechen, und schon im Epos, vom bevorstehenden Tod alter Leute offen gesprochen werden, und das berühmte Gewebe der Penelope ist das Leichentuch für ihren Schwiegervater Laertes132. Wie unbefangen später in ganz heller historischer Zeit Pindar dem Fürsten Theron von Agrigent von seinem bald zu erwartenden[358] Tode etwas vorsingen läßt133, ist bekannt. Weiterhin, um dies hier vorweg zu erwähnen, haben z.B. die Athener dem noch lebenden Stoiker Zenon, weil er so lange als Vorbild der Tugend unter ihnen geweilt, außer einem goldenen Kranz auch noch ein Grabmal auf Staatskosten dekretiert134. Und nun überlege man, durch welche Konkurrenz vermeinter HöflichkeitenA29 etwas der Art in der neuern Welt untunlich und unsagbar geworden ist. Zunächst muß letztere ihren Zustand überhaupt löblich und dessen Dauer wünschenswert finden, sodann soll wahrscheinlich – denn den Grund wird man doch nicht offen betonen dürfen -supponiert werden, die Welt möchte durch den Tod jemandes einen gar zu großen Verlust erleiden. Die Griechen dagegen waren hierin naiv, so wie sie es im Wünschen waren.

Endlich aber hat das Unheil im Mythus der Griechen noch einen höchst eigentümlichen idealen Zweck. Die Götter, sagt Alkinoos135, haben den Untergang Ilions und der Danaer verfügt und Verderben beschieden den Menschen, damit dasselbe sei ein Gesang für Künftige. Die nämliche Empfindung, nur in ein anderes Naturreich übertragen, lebt in den Worten des Hermes136 an die Schildkröte, indem er sie tötet: Bei Lebzeiten hast du ein mühsames Wandeln, wenn du aber tot bist, möchtest du wohl sehr schön tönen! Deutsch lautet der Spruch:


Was unsterblich im Gesang soll leben,

Muß im Leben untergehen.


Allerdings von ihren eigenen mythischen Vorbildern, den Sängern der Urzeit wußten die Aöden, daß diese ebenfalls mit Leben und Wohlfahrt bezahlt hatten. Orpheus war von den Mänaden zerrissen, Thamyris von den im Wettstreit siegreichen Musen geblendet und seines Gesanges beraubt worden.


Von dieser Vorgeschichte des griechischen Pessimismus, wie sie sich im Mythus und in dessen Stimme, dem Epos, ausspricht, wenden wir uns zu den Gedanken der Griechen der historischen Zeit. Auf alle Parallelen mit dem nähern und fernern Orient und mit Ägypten wird auch hier gerne verzichtet und vollends auf die Frage, ob eine geistige Berührung dieser Völker mit den Griechen sich denken lasse; sodann handelt es sich hier nicht um allgemeine Erörterungen, sondern nur um Zusammenstellung[359] von Tatsachen und Aussagen. Wie weit der Mensch wirklich stimmfähig sei über sein und seiner Mitmenschen, zunächst seiner Volksgenossen Glück und Unglück, darüber soll hier nicht entschieden werden; die gewöhnliche Anschauung wird dabei beharren, daß, was einer für Glück und Unglück hält, es auch wirklich für ihn sei, und in diesem Sinne wird man müssen die Griechen zu Worte kommen lassen137.

Man hat es vor allem zu tun mit einem Volke, welches in höchstem Grade seine Leiden empfinden und derselben bewußt werden mußte. Im vollkommensten Gegensatz zu der aprioristischen Resignation großer asiatischer Völkergruppen und zu allem beschaulichen Quietismus bietet der Grieche dem Schicksal lauter verwundbare Seiten dar, und dasselbe kann ihn täglich und stündlich nicht nur leiblich, sondern auch seelisch verletzen. Völker leben in ihren Anfängen und oft noch bis in ziemlich hohe Kulturen hinein rassemäßig; der Grieche aber war früher ein individueller Mensch geworden als die übrigen und trug nun hiervon den Ruhm und das Unheil in unvermeidlicher Mischung. Schon im Epos entsenden die Väter des Achilleus und des Glaukos ihre Söhne in den Kampf vor Troja mit dem Mahnspruch: »immer der erste zu sein und vorzustreben den andern,« und nun wartet der Heroen nicht nurA30 der Kampf gegen die Feinde, sondern auch die Eifersucht der Genossen und zwischen den Anführern bereits tödliche Feindschaft. Es folgte das Zeitalter, da die Wettkämpfe, in der Heimat wie an den großen Festorten, die ganze Hellenenwelt in Bewegung setzten und mit dem Ruhm der Sieger erfüllten, während die sehr viel zahlreichern Zurückstehenden gewiß eine unendlich viel größere Summe des Jammers empfanden, als die Summe des Glückes jener war. Wohl darf man fragen: hing nicht das Hochgefühl dieser Agonalsieger, ganz ähnlich wie das der von irgend einem Erfolg gekrönten Griechen aller Zeiten, zu sehr vom Urteil anderer ab? und lebte nicht diesA31 ganze Volk überhaupt etwas zu viel in den Augen anderer? Jedenfalls aber befand man sich demgemäß. Und nun kam die Entwicklung der vorstrebenden Einzelkräfte in der Polis, und zwar in der demokratisch gewordenen, und hier würde man wohl tun, dem wirklichen[360] perikleischen Athen, nicht dem übereinkömmlich verklärten ins Angesicht zu schauen, wobei man z.B. mit den spätern Erlebnissen des Perikles selbst den zweckmäßigen Anfang machen könnte. Von da an war das öffentliche Wesen, so weit wir es bei den Geschichtschreibern und Rednern des V. und IV. Jahrhunderts verfolgen können, in den bekannten Händen, das Leben in der Polis aber das sozusagen einzig gestattete, Späherei und tödliche Anklage etwas Alltägliches; sollte man nun an die unermeßliche Zahl derer, welche litten, deshalb nicht denken dürfen, weil sie haben schweigen müssen? während die handgreiflichsten Tatsachen uns die Augen öffnen könnten, vor allem die Flucht so vieler Fähigen vor dem Staat, indem sie sich der offenkundigen Armut und der Familienlosigkeit weihten. Griechen aber, d.h. zur persönlichen Auszeichnung veranlagt, waren sie alle, und zum Teil Menschen von unendlich feiner und vollkommener Organisation, welche wahrlich nicht leicht auf Wirken und Wollen verzichteten. Und diese Polis, in welcher und wegen welcher man so vieles leiden mußte, dies eins und alles war von jeher, wenn sie von außen überwunden wurde, nicht bloß dem Raub und der Demütigung, sondern nach griechischem Kriegsrecht der Zerstörung, der Tötung der Männer, dem Verkauf der Weiber und Kinder ausgesetzt, und von unzähligen Griechenstädten sind später wirklich nur Ruinen vorhanden gewesen. Welche Summe von Jammer und Wut muß dies ausgemacht haben! gegenüber vom intensivsten Leben lauter völlige Zernichtung! Dies möge man sich gegenwärtig halten bei Anlaß all jener Parteikämpfe und Zerrüttungen, um derentwillen die Nation materiell zu einem Schatten wurde, bis sie den Römern in die Arme fiel.

Allerdings, was Beglückung durch den Geist gewähren kann138, das haben hier viele auserwählte Menschen in hoher Kunst und Dichtung, in Denken und Forschen genossen und durch den Abglanz ihres Wesens auch den übrigen vermittelt, soweit diese des Verständnisses fähig waren. Diese Kräfte sind bei den Griechen gewissermaßen immer optimistisch gewesen, d.h. es hat sich für Künstler, Dichter und Denker immer der Mühe gelohnt, dieser Welt, wie sie auch sein mochte, mit mächtigen Schöpfungen gegenüberzutreten. Wie düster sie persönlich vom Erdenleben gedacht haben mögen, ihre Energie verzichtet niemals darauf, freie und große Bilder von dem, was in ihnen lebt, ans Licht hervorzuschaffen. Und bisweilen erhebt sich der Gedanke und schwebt hoch und beglückend über Attika und ganz Griechenland, wenn das Weltganze sein[361] Objekt wird. Anaxagoras sprach es aus: das Geborenwerden sei dem Nichtgeborenwerden vorzuziehen, um der Betrachtung des Himmels und des Weltganzen willen. Einen intellektuellen Optimismus ähnlichen Inhalts proklamierte auch Diogenes139: für den Trefflichen sei jeder Tag ein Festtag, der ganze Kosmos ein Heiligtum, in welches wir bei der Geburt eintreten, mit Sonne, Mond, Gestirnen, Strömen frischen Wassers und den von der Erde genährten Gewächsen und Tieren; die Einweihung zu diesen Mysterien sei unser Leben, und dies solle deshalb ein wohlgemutes und freudiges sein, die meisten aber machten demselben Schande durch beständiges Klagen, Griesgram und Sorgen. Hier ist nur außer acht gelassen, daß die Welt nicht bloß aus Eindrücken der Natur besteht, sondern auch aus denjenigen des Menschenlebens, welches jeden umgibt und sich als die vorherrschende Quelle der Sorgen ausweist. Schon lange vor Diogenes hatte Äsop dies betont, wenn einige merkwürdige Verse wirklich von ihm sind140: »Wie soll einer dir entweichen, o Leben, ohne zu sterben? tausendfach ist dein Leid, und nicht leicht, davor zu fliehen noch es zu ertragen; wonnig ist, was an dir von Natur schön ist, Erde, Meer, Gestirne, die Kreisläufe von Mond und Sonne, alles übrige aber ist lauter Furcht und Schmerzen, und wenn einem ein Glücksfall widerfährt, so folgt immer wieder eine Nemesis darauf.« Es wäre auch sonderbar gewesen, wenn die Schönheit der Natur die Griechen nicht entzückt hätte, aber die Furchtbarkeit des Menschenlebens hat ihnen mehr zu empfinden und zu denken gegeben.


Von den sonstigen Ansichten der Philosophen kann im folgenden nur insoweit hie und da die Rede sein, als ihre Worte nicht von ihrem besondern System abhängen, sondern deutlich einer Seite des Volksbewußtseins entsprechen. Man gelangt nicht leicht zu richtigen Durchschnittsurteilen über griechisches Empfinden, wenn man das Denken der Philosophen zum Maßstab nimmt, dessen Wert für uns an einer ganz andern Stelle liegt und hier nur zu einem flüchtigen Überblick Anlaß gibt. Sokrates war ausdrücklich Optimist und sein Glaube an gute, schaffende und erhaltende Götter ein kaum verhüllter Monotheismus141. Plato, soweit er pythagoreisch empfindet, ist Pessimist; in seinen Utopien dagegen ist er notwendig optimistisch zu verstehen; außerdem mag man z.B. im Phädon nachlesen, wie sich das Angenehme (ἡδύ) und das Betrübende (λυπηρόν) gegenseitig bedingen. Bei Aristipps Hedonik kann man fragen, ob diese Lehre vom Genuß des Momentes nicht am ehesten aus einer völligen Verzweiflung an der Polis zu erklären ist, wobei sich[362] wirklich etwas dafür sagen ließ, daß man sich Vergangenheit und Zukunft aus dem Sinne schlage142. Hegesias der Zyrenaiker, von dessen Zuhörern manche, heißt es, sich das Leben nahmen, scheint dann das Äußerste erreicht zu haben, was von übler Nachrede gegen das Menschenleben geleistet worden. Die Lehre der Zyniker kann sich als Optimismus wie als Pessimismus äußern, die Stoa aber ist trotz ihrer Lehre von der »besten Welt« und deren Zweckmäßigkeit doch im tiefern Grunde pessimistisch. Beim Epikureismus kommt es darauf an, ob man die entschiedene Flucht vor der Berührung mit der Gesellschaft (λάϑε βιώσας) für Pessimismus nehmen will oder nicht. Halten wir uns nun an die Überlieferungen aus dem Volksbewußtsein.

Den Hoffnungen, welche von jeher das Leben aller Menschen und auch das der Griechen begleitet haben, wird, sobald das Nachdenken das Wort hat, als betörenden Wesen nicht viel Gutes nachgesagt. Doch hat der äschyleische Prometheus, indem er dieselben, und zwar als blinde, in die Menschen hineinpflanzte, wenigstens dem beständigen Hineinstarren in den bevorstehenden Tod ein Ende gemacht143.

Die ganze Erscheinung des griechischen Pessimismus erhält nun ihre volle Merkwürdigkeit durch den entschiedenen Optimismus des griechischen Temperaments, welches vom tiefsten Grunde aus ein schaffendes, plastisches, der Welt zugewandtes ist und außerdem – an der Oberfläche – die Verwertung und den Genuß des Augenblicks sehr zu schätzen weiß. Hier mag völlig außer Betracht bleiben die öffentliche Kurzweil und Ausgelassenheit bei Festen und dergleichen, deren auch ein trübe gestimmtes Volk auf kurze Zeiten fähig sein kann; den Griechen ist es nie eingefallen, das Leben überhaupt, oder gar um solcher Dinge willen, zu preisen, oder vollends den Göttern dafür als für ein Geschenk zu danken. Was ihnen sonst das Dasein an glücklichen Stimmungen, an beglückter Leidenschaft gewährte, läßt sich etwa ahnen, aber niemals abschätzen. Am ehesten noch wird das Symposion, und was daran hing, eine Abwehr des Pessimismus gewesen sein, und aus solchen Vereinigungen stammen die bald mehr poetisch schönen, bald mehr frivolen Aufrufe zur Freude144, welche zu uns herübertönen. Ζῆϑι!145 lebe! d.h. raffe dich auf zur Fröhlichkeit! womit etwa ein Wort über die Kürze der Jugend und die Hinfälligkeit des Glückes verbunden wird. Die rohere Aufforderung zum Genuß, [363] ede! bibe! lude! verlegte man etwa in ersonnene Grabschriften orientalischer Herrscher wie Ninos und Sardanapal; doch läßt sich auch wohl bei einem attischen Komiker146 ein wahres Preisen der Übertäubung hören. Mit der Zeit gab es einen ganzen Stil der Heiterkeit und Lachkunst, und in einer Darstellung der griechischen Geselligkeit wäre desselben umständlich zu gedenken; ein Komiker der Zeit des Sokrates, Philistion, mischte in seiner Poesie das »vielbejammernswerte Menschenleben mit Gelächter«, und er selber soll an unmäßigem Lachen gestorben sein147. Welche schwache Gewähr jedoch dergleichen für eine wahrhaft tröstliche Lebensanschauung ausmacht, braucht nicht weiter erörtert zu werden; immerhin haben die Griechen nicht nötig gehabt, bei den Gelagen wie die Ägypter ein Mumienmodell von Gast zu Gast herumtragen zu lassen als Aufforderung zum Trinken und zur Fröhlichkeit148, und dies kam auch in Ägypten nur bei den Reichen vor, denn der gemeine Mann konnte dort sehr ausgelassen sein ohne eine Aufmunterung dieser Art.

Außer der Fröhlichkeit wird auch anempfohlen, »εἰκῇ« zu leben, d.h. wie es kommt, auf das Geratewohl hin149, wobei man sich auf Hoffnung und Furcht nicht einließe. Es ist möglich, daß die relativ Glücklichen wirklich so gelebt haben.

In weit überwiegendem Maße aber tritt uns in Poesie und Prosa der Griechen der Pessimismus als eine volkstümliche Tatsache entgegen, und zwar gar nicht als Resultat der Reflexion, und vollends ohne alle die vielseitige Begründung, welche er in unserm Jahrhundert erfahren hat, vielmehr wird er von stimmungswegen insgemein recht kurz und barsch in die Welt hinausgerufen. Wie viele sich für ihre Person aus Klugheit als zufrieden oder wenigstens als gleichgültig gebärdeten, ist unmöglich zu wissen, man konnte sich aber entschädigen, indem man in den allgemeinen Klagechor einstimmte. Was wir da hören, ist eine durchgehende Verschätzung des Lebens; der Mensch ist zum Unglück geboren, Nichtsein oder Frühsterben das beste. »Leiden müssen wir, der Weise ist der, welcher das gesendete Schicksal am edelsten trägt«150. Daß eine mächtige Quote des Unglücks vom Gemüte des Menschen selber, von seiner unnützen, sorgenvollen, quälenden Beschäftigung mit der ihn vielleicht umgebenden Gefahr, besonders mit der Zukunft ausgeht, wird wohl etwa mit einem Wort (μέριμναι, φροντίδες) angedeutet; auch mitten in Erwartung[364] des Genusses fürchtete man etwas, das zwischen Lippe und Schale hineingeraten möchte151; aber die Sache ist vielleicht nirgends mit psychologischer Vollständigkeit ausgeführt152. Wir müssen uns begnügen mit einer Andeutung, wie sie die Sage gewährt, und nirgends ist die allgemeine unbestimmte Sorge vor Unglück und der vergebliche Wunsch, dasselbe den dunkeln Mächten durch ein schmerzliches Opfer abzukaufen, schöner dargestellt als in der Erzählung vom Ringe des Polykrates153. In einer frühern Gestalt der Erzählung war der Ring vielleicht ein Talisman gewesen; was der Grieche als Liebstes opfert, ist ein herrliches Kunstwerk.

Der Götter wird bei Anlaß des Pessimismus wenig gedacht, da sie Welt und Menschen nicht geschaffen haben154, und beim Menschenschicksal die alte Hauptansicht von der Herrschaft des »Verhängnisses«, der Moira, zu ihrem Rechte kommt. Auch die sonst so häufige Klage vom besondern Unglück der Guten und Glück der Bösen kann sich hier nur behutsam äußern, da auch letztere dem allgemeinen Schicksal verfallen sein müssen. Immerhin kommt unter den Beschwerden auch die vor155, daß schon der Anblick des Glückes der Bösen einem das Leben verleiden dürfe.

Bei diesem Anlaß wird auch wohl zuzugeben sein, daß die schlechte Meinung des Hellenen von der großen Mehrzahl seiner Mitmenschen und sogar seiner Landsleute insbesondere ein Stück seines Pessimismus ausgemacht habe, wenigstens flicht sie sich mit diesem schon frühe durcheinander. Daß das Geschlecht, welches auf das ideal gedachte mythische folgt, ein geringeres sein werde156, sagt schon Athene (in der Gestalt des Mentor): »wenige Söhne sind dem Vater gleich, die meisten sind geringer und selten einer besser als der Vater.« In der Schilderung der rechtliebenden und glücklichen Stadt in den »Werken und Tagen« des Hesiod (V. 234) ist es schon das Mögliche, wenn die Kinder nicht schlechter geraten als die Eltern; das allgemeine Bild der nachheroischen Menschheit aber, wie es in derselben Dichtung entworfen ist, als Lehre[365] von den fünf Menschengeschlechtern, führt bekanntlich aus dem ruhigsten goldenen Glück abwärts bis in das tiefste Nachtdunkel des Verderbens (vgl. bes. V. 173-200). In der Folgezeit tönt es dann von den verschiedensten Seiten, auch von den sieben Weisen her: die meisten Menschen taugen nichts (οἱ πλεῖστοι ἄνϑρωποι κακίους), und Bias, der das Wort ebenfalls zum Wahlspruch hatte, zog daraus die Folgerung: auch wen man gerne habe, den möge man gerne haben als einen künftig zu Hassenden157. Wer viel nachspürt, sagt Sophokles158, kommt immer auf die Schlechtigkeit der Menschen. In höherm, pathetischem Ausdruck lautet die Klage feierlicher: von dieser oder jener Tugend wird gesagt, sie habe die Erde verlassen, sei den Menschen entschwunden, entschwebt, zu den Göttern hinaufgegangen. Schon Hesiod klagt dies in betreff von Scham und Scheu159; Theognis (V. 1137, vgl. 647) von Treue, Mäßigung und den Chariten; Euripides von der Scham160; endlich in der Diadochenzeit Aratos von der Asträa, einer Umgestaltung der Dike161. Der alexandrinische Dichter versetzte die Göttin in den Tierkreis, wo sie fortan die Stelle der »Jungfrau« einnimmt, und an seine Fiktion hat dann die römische Poesie angeknüpft. Ovid beschließt seine Schilderung des furchtbaren letzten Weltalters mit den berühmten Versen:


Victa iacet pietas, et Virgo caede madentes

Ultima coelestum terras Astraea reliquit162.


Ertönte dergleichen in edler Dichtung, etwa in einem Chorgesang der Tragödie, so hörten es die Leute ohne Zweifel mit erbaulicher Wehmut an, fügten sich aber in solche betrübte Tatsachen als in etwas Unabänderliches, wobei jeder darüber trauern mochte, daß die andern so schlecht seien. Wollte jemand diese Erkenntnis zur allgemeinen Menschenfeindschaft erweitern und sich damit öffentlich als Original bekennen, wie (eben zur Zeit der großen Tragiker) Timon in Athen tat163, so war dies seine Sache; nur mußte er darauf gefaßt sein, daß die Anekdote alles, was man sonst von Menschenhassern erzählte oder sich einbildete, auf ihn übertragen werde.[366]

Diese Welt des Bösen aber war eine durchaus unbußfertige, und wenn es an das Ändern gegangen wäre, hätten schon die Götter bei sich den Anfang machen müssen. Wie wenig die Askese und Weltverneinung, d.h. der echte religiöse Pessimismus hier eindrang, wie vorübergehend die Wirkung der Pythagoreer und der Orphiker war, ist bekannt; wie weit aber die Sorge vor Strafen im Jenseits einzelne wirklich moralisch besserte, entzieht sich unserm Urteil. Immerhin möge man das Wort des Demokrit164 erwägen: »alle Menschen, im Gefühl des in ihrem Dasein waltenden Übelbefindens, schmachten ihre Lebenszeit über in Verwirrung und Furcht, indem sie sich noch falsche Einbildungen machen wegen dessen, was nach dem Tode folgt.« – Der Zynismus aber war durchaus keine Askese derjenigen Art, welche den Menschen von der Welt ablösen will; sein Ziel war nur, den einzelnen – mitten in der Welt – von deren Herrschaft über seinen Willen unabhängig zu machen.


Die Klage über das Elend der Menschen, wie sie sich aufdringlich und überall bei den Griechen hören läßt, ist ohne einige Wiederholungen nicht wohl zur Darstellung zu bringen; ein und derselbe Gedanke wird bald einfacher, bald reicher, mit allerlei Beziehungen und Vorstellungen gemischt, ausgesprochen. Man mag beginnen mit der Wahrnehmung von der Negativität des Glückes und der Positivität des Schmerzes, welche sich schon im IV. Jahrhundert ziemlich deutlich eingestellt165 hat: »Das Erfreuende, oberflächlich wie es ist, hat Flügel und immer einige Zumischung von Leiden, der Schmerz dagegen kommt ungemischt und ganz und als ein dauernder.« Oder es wird vom Glück geradezu abgesehen: »Ohne Jammer«, sagt Sophokles166, »ist niemand; wer dessen am wenigsten hat, ist der Glückliche«. Welt und Leben gelten nicht nur für gering (εὐτελής), sondern für schlimm und böse.

Die älteste eigentliche Begründung dieses Gefühls ist wohl, dem griechischen Sinne gemäß, diejenige, welche sich auf das Arbeitenmüssen, auf die Mühe im Leben bezieht, denn diese ist hier bereits ein Leiden. Schon bei Homer167 hat Zeus auf die Menschen bei der Geburt die Mühe (πονεῖν) als ein schweres Übel (κακότητα βαρεῖαν) gelegt. Agamemnon konstatiert dies bei Anlaß der Unbequemlichkeit, welche ihm und dem Menelaos daraus erwächst, daß sie zu einem nächtlichen Aufgebot ihre Leute einzeln aufrufen müssen. Bei Hesiod in den »Werken und Tagen«168 sind es dann die Götter überhaupt, welche den Menschen die Nahrung[367] (βίος) verborgen haben, »sonst könntest du mit einem Tage Arbeit für ein Jahr genug erwerben und Muße haben; du hingest dein Steuerruder über dem Rauchfang auf, und mit der Bemühung von Rind und Maultier wäre es am Ende.« Aber Zeus verbarg die Nahrung aus Grimm, weil Prometheus ihn betrogen; als nämlich das Feuer den Menschen (die es schon gehabt) entzogen worden war, brachte dieser es ihnen heimlich im hohlen Rohr zurück, worauf Zeus zur Vergeltung ein Übel sendet für alle kommenden Geschlechter, und zwar ein solches, das jeder anfangs für ein Glück hält. Es folgt die Schöpfung der Pandora, d.h. des Weibes überhaupt, welches der Mann fortan erhalten muß, »ein Wehe für den Betriebsamen, Erwerbsamen,« denn bisher hatten die Menschen gelebt »ohne Übel, Krankheit und schmerzliche Mühe.« In der Nation wuchs hierauf der Haß gegen alles »Banausische«, gegen alle Bemühung des Erwerbens in gleichem Maße mit dem dennoch vorhandenen Zwange dazu. Sklaven zur Arbeit anhalten konnte nur, wer imstande war Sklaven zu kaufen; jede abhängige Stellung aber, auch wenn dieselbe mit Gewinn und Genuß verbunden sein konnte, erbitterte den freien Griechen, und das Treiben der Polis tat das übrige, um die falsche Stellung der ehrlichen Arbeit stündlich fühlbar zu machen.

Hie und da finden sich nun umständliche Aufzählungen von Einzelplagen, z.B. im Distichon des Poseidippos169 und in jenem schon angeführten pseudoplatonischenA32 Dialog Axiochos, wo Sokrates dieselben als in einer Rede des Prodikos vorgekommen wiedererzählt170. Dies ist eine recht belehrende Schilderung des wesentlich athenischen Lebens von seinen Schattenseiten, und zwar von der Wiege an, aber (wie z.B. das Unglück des Seefahrers, des Landmanns usw.) an besondere Beschäftigungen geknüpft, welche sich auch vermeiden ließen und nicht notwendig dem allgemeinen Menschenschicksal anhängen; mit dem letztern aber haben es die entscheidenden Aussagen zu tun.

In der Mitte alles volkstümlich Griechischen, noch unberührt von der philosophischen Reflexion und von aller Rhetorik, aber gereift durch Beobachtung der Menschheit auch in fernen Ländern, steht Herodot als großer Häuptzeuge über den Unwert des Lebens zum Verhör. Welcher Geschichtschreiber eines neuern Volkes würde irgend den Trieb empfinden, sich über diese Sache auszusprechen, selbst wenn sich die Anlässe bieten? während Herodot dieselben aufsucht und sogar gerne ersinnt. Schon bei Anlaß seines Glaubens an den Neid der Götter wäre hiervon zu reden gewesen. Vor allem lehrt er die Wandelbarkeit des Glückes,[368] den herrschenden »Kreislauf der Erdendinge« (wie Krösos zu Kyros im Massagetenlande sagt), welcher in seinem Umschwung schon nicht duldet, daß beständig dieselben Menschen glücklich seien. Das berühmte Gespräch des Krösos mit Solon (I, 30 ff.) ist zwar nicht völlig von Herodot gedichtet; schon früher hatten Griechen einen Lyderkönig in betreff der Meinung vom Erdenglück dramatisiert, und in dem späten Valerius Maximus (VII, 1) besitzen wir hier von ohne Zweifel einen ältern Bericht. Hier ist es nicht Krösos, sondern Gyges, welcher die Frage stellt, ob ein anderer Mensch glücklicher sei als er, und er stellt sie nicht an einen griechischen Weisen, sondern an den pythischen Apollon; dieser nennt dann nicht mehrere, sondern nur einen, und zwar einen armen und zufriedenen Arkader, den alten Aglaos aus Psophis. Höchst ausgiebig war dann später das Schicksal des Krösos, und schon an seinen Glanz und dann an seinen Sturz werden die Griechen ihre Raisonnements reichlich geknüpft haben und zwar in Gestalt von Gesprächen. Bei Herodot ist nun alles beachtenswert; in Solons Erzählung von Tellos besteht das größte Lebensglück in den zwei Punkten, daß derselbe im Kampf für die Heimat hat fallen können, und daß von seiner Familie niemand vor ihm weggestorben ist; bei Anlaß der Brüder von Argos erfährt man bereits, ein früher Tod »sei für den Menschen das Beste«; weiterhin erörtert Solon, daß überhaupt von Glück zu reden nur dann möglich wäre, wenn man bei dem beständigen Wechsel, da von den 26250 Tagen eines normalen siebzigjährigen Menschenlebens keiner dem andern in den Erlebnissen völlig gleicht, Ausgang und Ende voraus wüßte; der Mensch aber ist lauter Zufall (πᾶν ἐστὶ ἄνϑρωπος συμφορή); denn vielen hat die Gottheit den Olbos nur gezeigt, um sie dann von Grund aus zu zernichten. – Viel tiefer noch greift das Gespräch des Xerxes mit Artaban (VII, 45 ff.). Der König, beim Anblick seiner Heere und Flotten zu Abydos, weint über die Kürze des Menschenlebens und erhält von dem weisen Oheim die Antwort: »Im Lauf unseres Lebens gibt es noch Schlimmeres; in diesem kurzen Dasein ist keiner so glücklich, daß es ihm nicht oft und viel nahe getreten wäre, lieber sterben als weiter leben zu wollen; das Leben, so kurz es ist, scheint durch die vielen Leiden und Krankheiten dennoch lang, und so ist der Tod bei dieser Mühseligkeit die wünschenswerteste Zuflucht für den Menschen«. Das weitere Gespräch ist militärische Beratung, dann folgt aber noch im Munde des Xerxes (Kap. 50) eine allgemeine Gegenrede der Energie: wer gar alles überlege, der handle überhaupt nicht mehr; besser alles wagen und die Hälfte der Unglücksfälle erdulden, als alles vorausfürchten und nichts erleiden. – Ein andermal, und zwar etwas rätselhaft mitten in einem Bericht über Verhandlungen zwischen Argos und Persien (VII, 152), meint Herodot: Das weiß ich, wenn alle Menschen die einem jeden eigentümlichen Übel auf einen[369] Haufen zusammentrügen, um mit den Mitmenschen zu tauschen, so würden sie, bei näherer Einsicht in das, was die andern drückt, gerne jeder wieder nach Hause tragen, was er mitgebracht hat. Bei Valerius Maximus (VII, 2) wird dasselbe Wort schon dem Solon zugeschrieben, von welchem sich ebendort auch die schöne Sage findet, wie er einen klagenden Freund auf die Akropolis führte und auf die Dächer von ganz Athen deutete mit den Worten: »Denke, welcher Jammer schon längst und heut und künftig hier überall gewohnt hat, wohnt und wohnen wird und klage nicht mehr über dein eigenes Leid!« Außerdem aber ist uns Solons Pessimismus unmittelbar in einem seiner Distichen171 überliefert: »Kein einziger Sterblicher ist glücklich; auf so viele die Sonne niederschaut, sind alle unglücklich (πονηροί).« Und Solon war einer der »Weisen« Griechenlands.

Solche allgemeine Übelreden vom Unwert des Lebens finden sich dann aus verschiedenen Zeiten zur Auswahl172. Der Sophist Antiphon verbittet sich, daß vom Leben als von etwas Großem und Erhabenem Worte gemacht würden; alles sei klein, schwach, kurzwährend und dafür mit großem Jammer gemischt. Von Aristoteles, der doch das Leben an sich als wünschenswert erklärt hatte, besitzt man die schauerlichen Worte: »Was ist der Mensch? ein rechtes Merkzeichen der Schwäche, eine Beute des Augenblickes, ein Spielzeug des Zufalls, ein Bild des Umschlagens (der Schicksale), bald mehr dem Neid, bald mehr Unglücksfällen anheimgegeben; der Rest ist Schleim und Galle (φλέγμα καὶ χολή)173.« – Die Tiere sind glücklicher und im Grunde klüger als die Menschen; der so hart geplagte Esel z.B. fügt wenigstens sich selber kein Übel zu – so Menander, und ganz ähnlich Philemon: die Tiere tragen nur, was die Natur ihnen auferlegt und brauchen weder Entscheide noch Entschlüsse, während wir Menschen in unserm unleidlichen Leben Gesetze erfunden haben und den Meinungen Sklavendienst leisten, und den Vorfahren und den Nachkommen; um unglücklich zu sein, erfinden wir beständig neuen Anlaß. – Derselbe Dichter anderswo: Sturm gibt es nicht allein zur See, sondern auch wenn man in einer Straßenhalle wandelt, und selbst daheim im Hause; Seefahrer bekommen nach dem Sturm einen rettenden Wind oder treffen einen Hafen; ich aber leide Sturm nicht nur einen Tag, sondern das Leben entlang, und der Schmerz hat beständig das Übergewicht. – Schon alt war die Lehre vom Neid der Götter gegen das menschliche Talent, und auch später meldet sich (bei Sotades) die Klage über das[370] besondere Unglück und schlimme Ende der Höherbegabten, auch über die eigentümliche Tücke des Schicksals, wirklichen und großen Vorteilen große Schäden beizugeben, der Schluß aber lautet: »ein einziger schmerzloser Tag ist schon ein großer Gewinn, denn was sind wir überhaupt und aus welchem Zeuge gemacht? besinne dich doch auf das, was Leben ist, denke, woraus du entstanden und wer du bist, und was du wiederum werden wirst.«

Leider ist uns jene ganze Gattung von Dichtungen, welche der Totenklage geweiht waren (ϑρῆνοι), bis auf wenige Bruchstücke verloren gegangen; aus einem schönen Fragment des Simonides174 aber ersehen wir, daß darin die Klage über das Leben nicht fehlte, dessen Kürze bei so vieler Bekümmernis bejammert wird. Diese bei Bestattungen gesungenen Chöre waren nur der letzte, künstlerisch sehr gereinigte Nachklang der außerordentlich lauten und selbst wilden Totenklage der frühern Griechen; hat nun etwa schon in dieser, neben dem Preise des Verstorbenen und der Trauer um ihn, der Jammer über das Dasein mitgeklungen?

Wir müssen noch etwas weiter sammeln, um die Auslese von Scheltworten über das Leben zu vervollständigen. Laut Pindar ist ja dasselbe nur »der Traum eines Schattens«175; »trügerisch hängt über den Menschen die Zeit und rollt mit sich dahin des Lebens Flut«176. Laut Sophokles177 ist der Mensch überhaupt nur ein Hauch und ein Schatten. In seinem »Aias« (V. 125) empfindet Odysseus das schreckliche Schicksal des Helden, womit Athene prahlerisch die Göttermacht hat beweisen wollen, wehmütig, als wäre es sein eigenes: »denn ich sehe, wir alle, so viele wir leben, sind nichts anderes als Scheinbilder und leichte Schatten.« Allein Sophokles, der Freund des Herodot, hat in einem berühmten Chorgesang der Greise von Kolonos178 der Klage über das Leben noch einen ganz andern Umfang verliehen:


Nicht geboren zu sein, o Mensch,

Ist das höchste, das größte Wort;

Doch, wofern du das Licht erblickst,

Acht' als Bestes, dahin zu gehn

Wieder, von wannen du kamst, im Flugschritt!

Denn betratst du der Jugend Feld,[371]

Das Torheiten umgaukeln, haust

Dort nicht jegliches Ungemach,

Stürmt nicht jeglicher Jammer drin?

Mord, Hader, Blutvergießen, Kampf,

Haß und Neid; und endlich wartet

Schmachbeladen, mürrisch, einsam,

Krank und schwach das Alter unser,

Das der Übel

Übel all' umlagern!


Zunächst würde man irren, wenn man glaubte, Sophokles zuerst habe das Nichtgeborensein für vorzüglicher erklärt als das Geborensein. Mehrere Tragödien des Euripides, in welchen dasselbe Wort (μὴ φῦναι) sich findet179, können möglicherweise älter sein als der »Ödipus in Kolonos«, ja in unbestimmbarer Zeit hat man schon dem Homer auf die Frage, was für die Menschen das Beste wäre, die Antwort180 in den Mund gelegt: »vor allem nicht geboren werden oder sobald als möglich die Pforten des Hades durchschreiten.« In jenem rätselhaften Mythus von einem Gespräche zwischen Midas und dem von ihm eingefangenen Silen, welches aus einer untergegangenen Schrift des Aristoteles in Plutarchs Trostschrift an Apollonios (Kap. 27) herübergenommen ist, frägt der phrygische König den Halbgott, was das Beste und Allerwünschenswerteste für den Menschen sei; nach langem Schweigen und auf vieles Drängen hin erfolgt die Antwort: »Hinfälliger Sprößling der Mühsal und des Unglückes, warum mich zwingen das zu sagen, was nicht zu wissen euch besser wäre? denn das Leben ist am ehesten frei von Trauer, wenn jeder sein Unheil nicht kennt; für die Menschen überhaupt aber ist vonA33 allem das Beste, nicht geboren zu werden, dann folgt sofort und als Nächstmögliches (zum Glücke) so bald nach der Geburt, als es nur geschehen kann, zu sterben.« Plutarch fügt noch von sich aus hinzu: »demselben Kapitel könnte jemand noch Unzähliges (μυρία ἐπὶ μυρίοις) dieser Art hinzufügen, es ist aber nicht nötig hierüber umständlich zu sein.« Bei andern Völkern ist das Verwünschendes Tages der Geburt ein nur sehr seltenes Wort des äußersten Jammers.

Daß Nichtsein besser als Sein und das Sterbenkönnen überhaupt eine Gnade der Götter sei und von ihnen als hohe Belohnung für edles Tun erteilt werde, findet sich mit einer Anzahl von Erzählungen belegt, welche zu einem wahren Gemeingut des griechischen Pessimismus wurden. Es sind jene Geschichten von Kleobis und Biton, den Söhnen der argivischen Herapriesterin, von Trophonios und Agamedes, den Erbauern des[372] Tempels von Delphi usw. Und noch wuchsen solche Ereignisse nach: Opfergesandte, welche von Theben zum libyschen Ammonium fuhren181, mußten dort für den großen Pindar dasjenige erbitten, »was im Menschenschicksal für einen (von den Göttern) Geliebten das Beste sei«, und im nämlichen Jahre starb er, allerdings als hochbejahrter Greis, während sonst eigentlich ein früher Tod das Erwünschte war. Dieser gilt als Glück, entweder weil das Leben im allgemeinen voller Übel ist, oder – nach einer andern, öfterA34 zugestandenen Schattierung des Gefühls – weil man es bisher erträglich oder gut gehabt hat und weiterhin nur Störung und Unglück fürchtet. Es sind, wie wir sehen werden, Leute freiwillig gestorben bloß wegen Zweifels über ihre weitern Schicksale, und wenn irgendein Zug beweist, daß bei den Griechen das Leben der Güter höchstes durchaus nicht war, so ist es dieser. Es versteht sich daneben von selbst, daß auch den Griechen die Liebe zum Leben von Natur angeboren war, und daß die meisten Menschen vor dem Tode sich fürchteten wie bei andern Völkern, aber dieser Furcht wurde offen gespottet, und das entgegengesetzte Gefühl brach sich beständig Bahn. Über den vermeintlichen permanenten Jubel des perikleischen Zeitalters z.B. würde man nicht ohne Nutzen zunächst Perikles selber in seiner Grabrede182 anhören; laut seinen Worten ist die dauernde Stimmung eine ernste und trübe (λυπηρόν), und diese muß durch täglichen Genuß von Kampfspielen, Opfern und anmutigen häuslichen Einrichtungen verscheucht (ἐκπλήσσειν) werden. Hundert Jahre später tröstet Hyperides183 Mitbürger und Angehörige der Opfer des lamischen Krieges mit den Worten: »Sterben und Nichtgeborenwerden mögen gleichwertig sein, unsere Gefallenen aber sind nun frei von Krankheiten, Kummer und all den andern Übeln, welche auf das Menschenleben daherstürmen.« Heute dürfte ganzA35 gewiß kein Staatsredner in der Lage des Hyperides solche Anschauungen aussprechen.

Neben derartigen Aussprüchen, welche man etwa bloß einmaligen oder subjektiven Stimmungen auf die Rechnung setzen könnte, besitzen wir jedoch noch die Dichter, und wenn die Tragiker durch den Mythus an das Vorherrschen des Pessimismus gebunden scheinen können, so verraten die Elegiker diese SinnesweiseA36 jedenfalls von freien Stücken. Theognis ist offenbar von derselben ganz durchdrungen; auch bei ihm[373] (V. 425) ist das Nichtgeborensein (μὴ φῦναι) weit das Beste, und dann folgt als nächstes, daß man sobald als möglich sterbe; weiterhin (V. 1013) vernehmen wir das Seligpreisen desjenigen, welcher wenigstens vor den schwersten Prüfungen sterben kann, zumal vor der Untreue der Freunde. Nicht das Menschenleben als solches, wohl aber das griechische Leben seiner Zeit beschuldigt er dann in jenem merkwürdigen Stück Elegie (V. 1137), welches mit der schon oben erwähnten Klage beginnt über das Entschweben der Treue, der Mäßigung und der Chariten; kein sicherer Eid mehr, keine Scheu vor den Göttern; ausgestorben ist das Geschlecht der Frommen; man kennt kein Recht mehr; und dennoch, so lange einer lebe und das Licht der Sonne schaue, solle er fromm sein gegen die Götter – und hieran schließt sich jenes sonst ganz ungriechische Lob der Hoffnung an, welcher man nebst allen Göttern Opfer darbringen solle, ihr aber zuerst und zuletzt.

Eine ganz besondere Stelle in den Klagen über das Erdenleben nimmt das Alter ein. Zwar haben manche berühmte Griechen ein hohes und dabei sehr kräftiges Alter erreicht, und in jenem Gespräch des Sokrates mit Kephalos zu Anfang von Platos »Staat« darf Kephalos behaupten, für gesittete und gut gestimmte Greise habe das Alter nur wenig Beschwerde mit sich. Aus dieser und einigen andern Aussagen hat Stobäos184 sogar eine kleine Sammlung von Sprüchen zum Lob des Alters zusammengebracht, nur eben vorwiegend aus Dramatikern, bei welchen, je nach der sprechenden Person, unvermeidlich hie und da Würde und Wert des Alters geltend gemacht werden mußten. In allen unabhängigen Stimmungen aber läßt sich ohne jeden Rückhalt der lauteste Jammer über das Alter vernehmen und dringt auch im Drama oft und viel durch. Hierbei ist zweierlei wohl zu unterscheiden: der Schrecken vor dem Alter an sich, wegen seiner Leiden und der offenbar geringen Achtung davor bei den spätern Griechen, – und die außerordentlich hohe Schätzung der Jugendzeit. Ein mächtiger Geist wie Sophokles mochte in jenem berühmten Chorgesang (im Ödipus zu Kolonos) auch der Jugend ihr reichesA37 Maß von gefährlicher Torheit und schrecklichen Erlebnissen zuweisen – weit die meisten Dichtungen verklären die Jugend und tönen dabei wie Ausrufe von Männern reifern Alters, welche auf ein vergangenes Glück zurückschauen. Die Jugend, darauf geht es hinaus, ist das einzige wahre Lebensalter des Griechen und alles übrige nur die zweifelhafteste Zugabe.

Bei keiner Nation ist auch so um die Grenzen dieser kostbaren Jugend gemarktet worden, um dieselben möglichst weit hinauszuschieben; nachdem[374] man παῖς (Knabe), μειράκιον (junger Mensch), νεανίσκος (Jüngling) gewesen, entschloß man sich endlich ἀνήρ (Mann) zu heißen, dann folgt πρεσβύτης (älterer Mann) und endlich γέρων (Greis)185. Für ἀνήρ, den Mann, gab es allerdings noch einen verbindlichern Ausdruck, ἀκμάζων, den Menschen im kräftigsten Lebensalter, und Aristoteles186 dehnt dasselbe in leiblicher Beziehung auf die Jahre vom 30. bis 35. aus, in »psychischer« sogar bis zum 49. Stellen wir bei diesem Anlaß auch fest, daß schon zur Zeit des peloponnesischen Krieges ergrauende Leute ihr Haar zu färben für gut fanden187, und daß später Agathokles, als er kahl wurde, deshalb einen Myrtenkranz trug188.

Für den Alleinwert der Jugend hat besonders die Elegie von Anfang an, seit Mimnermos189, Partei genommen. Zwar, wenn man es ohne Krankheit und ohne schwere Sorgen haben könnte, möchte der Poet von Kolophon wohl etwa das sechzigste Jahr erreichen, aber mit der Jugend sind eben doch auch ihre vollen Freuden dahin, und diese Jugend reicht nur »eine Elle weit«, sie dauert so lange als ein Traum, und gleich nachher wäre Sterben das Beste; denn, was da folgt, ist Erschütterung des Hauswesens, Armut, Ausbleiben von Nachkommen, Krankheit – genug: kein Mensch, dem Zeus nicht viele Übel sendet. Simonides von Amorgos190 schildert zuerst die Hoffnung der Jugend, welche meint, morgen oder übers Jahr müßte das Glück kommen, auf einmal aber sei dann ein frühes Alter da, oder der Tod an Krankheiten, im Krieg, zur See oder durch eigene Hand. Bei Theognis (V. 1007, 1017, 1069, 1131) gehen die herrliche Jugendblüte und der Adel des Strebens zusammen; ihn erschüttert der Anblick dieser Lieblichkeit und Schönheit, weil sie länger dauern sollte und doch wie ein Traum vorübergeht; wie töricht sind die Menschen, welche Gestorbene beweinen und nicht viel eher das Schwinden der Jugend!

Wo die Elegie aufhört, nimmt die Tragödie das Thema auf; Vätern und Müttern von jung Gestorbenen wird zu Gemüte geführt, was diese noch würden haben erleben können191. »Höre auf zu jammern, sieh rings um dich all das Unglück und rechne zu deinem Trost, wie viele Sterbliche in Ketten schmachten, wie viele, ihrer Kinder beraubt, ins hohe Alter hinein leben müssen, wie manche nach mächtigem Wohlergehen und Herrschaft zu nichts geworden sind; das sind die Dinge, auf[375] welche du hinschauen mußt!« – Später faßt Lucian192 in der ironischen Rede eines verstorbenen Sohnes an seinen Vater alles zusammen, was sich nur an solche Gedanken anknüpfen ließ, und der Schluß ist seiner in hohem Grade würdig. »Längst hätte ich«, spricht die Leiche, »über das, was ihr tut und sagt, laut auflachen mögen; mich hindert nur das Tuch und die Wolle, womit ihr mir die Kinnlade umwunden habt!«

Fast alle diese Aussagen mischen nun mit dem Preis der Jugend auch den Griechenjammer über das Alter, und zahlreiche weitere Klagen ließen sich noch hinzufügen193. Wem Dichterworte nicht bündig genug erscheinen sollten, der möge die horrible Parallele von Jugend und Alter bei Aristoteles194 nachlesen; hier handelt es sich nicht bloß um das verschiedene Schicksal der beiden Lebenszeiten, sondern um die menschliche Qualität der Jungen und der Greise, und erstere sind vorherrschend gutartig, während die letztern mit den schwärzesten Farben geschildert werden; freilich sie sind ja hoffnungslos wegen der vielen Erfahrung, und was da ist, das ist überwiegend schlecht, und was geschieht, läuft ins Schlimmere aus. Von alten Leuten sprach man auch sonst ohne besondern Respekt als von Kronossen, Japetossen, Tithonossen195, aber so herb wie hier werden sie kaum irgendwo behandelt. Bei Sophokles heißt es etwa vom Alter: »Der Verstand ist erloschen, das Tun unnütz, und dabei leere Sorgen196.« Bei Euripides sagt ein Greis selber: »wir Alten sind nichts anderes als eine Schar, ein Schein und gehen herum wie Nachbilder von Träumen, Verstand aber ist nicht mehr in uns, so einsichtig wir uns dünken197.« Und schon viel früher in einem homerischen Hymnus198 meint Aphrodite: »auch die Götter hassen das Alter.«

In jenem oben angeführten Gespräch mit Sokrates erzählt der greise Kephalos, was seine Gesellschaft von Altersgenossen für Klagen vorzubringen pflege: sie bejammern wesentlich die nunmehrige Unfähigkeit zu den Genüssen der Jugend, Liebschaften, Gelagen usw., und meinen, das sei überhaupt Leben gewesen und ihr jetziges keines mehr; einige klagen auch über verächtliche Behandlung von seiten der ihrigen. Kephalos dagegen hält es für »Frieden und Freiheit«, daß das Alter jener stürmischen Leidenschaften los und ledig sei, und auch Sophokles, mit welchem er hierüber gesprochen, habe sich glücklich geschätzt, einem[376] »wilden und wütenden Gebieter entwichen zu sein«. Aber auch den Greisen konnte noch die Lebensliebe nachgehen, und der hochbejahrte Epicharmos199, wenn er mit seinen alten Herrn in der »Lesche« zusammensaß und hören mußte, daß dem einen noch fünf Jahre, dem andern noch drei oder vier »genügen« würden, erlaubte sich, ihnen zu sagen, daß jeder Streit dieser Art Torheit sei: »wir alle miteinander sind von Schicksals wegen im Niedergang, und es wäre Zeit für uns, baldigst abzufahren, bevor wir noch eins der Greisenübel erleiden müssen.« Man wunderte sich, wenn sehr alte Leute überhaupt am Leben bleiben mochten, und der hundertjährige Gorgias hat einst auf eine unbescheidene Bemerkung dieser Art antworten müssen, sein Alter gebe ihm einstweilen nichts zu klagen200.

Bei einer Taxierung des Lebens, wie die bisher nachgewiesene, konnte es nicht ausbleiben, daß sogar ein logischer Schluß gegen das Kinderzeugen hie und da zum Ausdruck kam. Außer dem allgemein menschlichen Gefühl vom Werte der Familie gab es bei den Griechen besondere Gründe zugunsten derselben: es war das Verlangen, Nachkommen zu hinterlassen zu Vollziehung der Totenehren, ferner das Haus nicht verwaist, nicht ohne Verteidiger zu hinterlassen. Der euripideische Orestes (V. 62 ff.) bittet den Menelaos um Leben und Rettung, nicht für sich, sondern im Namen des toten Agamemnon, dessen Haus sonst verwaist blieb. Und als einmal vollends die Polis als Hauptzweck des griechischen Lebens galt, war und blieb sie nur möglich durch Erzeugung von Bürgern. Aber Thales erklärte, er bleibe unverehelicht, weil ihm Kinder zu lieb seien201, und Demokrit rät aus verschiedenen Gründen die Ehe ab, und nicht nur im Sinne der Unabhängigkeit des Philosophen; er empfiehlt dafür die Adoption, weil man da auswählen könne202.

Hierher gehört auch, was wir überA38 Aussetzung und Tötung der Kinder erfahren203. Als Sache der bei den Griechen und noch mehr bei den Römern so weit ausgedehnten väterlichen Gewalt wäre dieselbe über Neugeborene verhängt worden wesentlich aus Konvenienz des Vaters, welcher nicht zu viele Kinder ernähren wollte204. Vorläufig darf auch des Mythus und der so zahlreichen ausgesetzten und dennoch geretteten[377] Schicksalskinder gedacht werden, insofern noch später hie und da ein Kind wegen drohender Vorzeichen oder Weissagungen mag ausgesetzt oder getötet worden sein. Allein es ist eine große Wahrscheinlichkeit vorhanden, daß schon die allverbreitete pessimistische Ansicht des Lebens den Entschluß der Aussetzung oder Tötung allermindestens sehr erleichtert habe, d.h. daß ein Mitleid dabei mitwirkte. Es war eine Konsequenz derselben Überzeugung, welche auch den Selbstmord so sehr beförderte.

Für die Häufigkeit der Aussetzung auch bei den wohlhabenden Ständen spricht unwiderleglich das Wiedererkennen (ἀναγνώρισις) eines ausgesetzten Kindes als Hauptmotiv der Erfindung in der neuern Komödie. In dem nach Menander gearbeiteten Heautontimorumenos des Terenz (V. 626 ff.) rücken einander Mann und Frau später einen solchen Hergang sehr deutlich vor: jener hat die Geburt, wenn es ein Mädchen sei, töten wollen, diese das Kind zumA39 Aussetzen weggegeben, dem Publikum aber muß dergleichen völlig geläufig gewesen sein. Noch spät im Hirtenroman des Longus figuriert das Motiv als ein ganz verständliches.

Gesetzgebungen, welche dies Treiben verboten oder einschränkten oder dies wenigstens versuchten, werden offenbar als Ausnahmen erwähnt. So durfte man in Theben205, wie früher erwähnt, kein Kind aussetzen oder »in die Einöde werfen«; der Arme konnte das Neugeborne vor die Behörden bringen, welche es einem solchen überließen, der auch nur ein weniges dafür bezahlte206; dieser erzog es dann als Sklaven und mit dem Sklavendienst galt die Aufziehung als vergütet; was aber geschah, wenn kein Angebot vorhanden war, wird nicht gemeldet. In Ephesos sollte man wenigstens nur bei schwerer Hungersnot Kinder aussetzen dürfen207. Und nun höre man, was Dionys von Halikarnaß (II, 15) – gleichviel ob richtig oder nicht – vom ältesten Rom meldet, indem er offenbar hier wie sonst öfter seinen Griechen eine Lehre geben will: »Romulus machte seine Stadt volkreich u.a. durch das Gebot, alle männlichen Geburten aufzuziehen und von den Töchtern die erstgeborenen, überhaupt aber kein Kind vor dem dritten Jahre zu töten, ausgenommen wenn es verstümmelt oder eine Mißgeburt war; und auch dann sollte man es nur aussetzen, nachdem man es fünf Nachbarn gezeigt und deren Beistimmung erhalten hatte.«

Auch die alten Araber vor Mohammed hatten die meisten Mädchen getötet, und bei den häufigen Hungersnöten, welche das Nomadentum bedrohen, wirkte vielleicht auch das Bewußtsein mit, daß es die Mädchen[378] inskünftig besonders schlimm haben würden. Mißgebildete Kinder aber wurden wohl bei den meisten alten Völkern dem sofortigen Tode geweiht. Bei den Griechen jedoch mag fortwährend jedem Kinde, mit Ausnahme der Erstgeborenen, diese Gefahr gedroht haben, und wenn davon Jahrhunderte hindurch wenig oder nicht die Rede ist208, so hat man zu erwägen, wie geringen Anlaß sämtliche erhaltene Schriftsteller z.B. der hellenistischen Zeiten hatten, auf diesen Gegenstand zu kommen. Aus der frühern Kaiserzeit ist dann auf einmal bei Plutarch209 eine Nachricht vorhanden, welche auch auf die ganze Vergangenheit ein grelles Licht wirft: »Die Armen ziehen die Kinder nicht auf aus Besorgnis, dieselben möchten ein elenderes Leben führen als billig ist, geknechtet, ohne Erziehung, ohne alle Teilnahme am Schönen; denn die Armut halten sie für das äußerste aller Übel und bringen es nicht über sich, den Kindern diese große und schreckliche Krankheit mitzugeben.« Man kann nun fragen, in welcher Ausdehnung dies zu nehmen sei; gewiß sind nicht bloß die Armen von Chäroneia oder von Böotien gemeint, eher die von Griechenland überhaupt, und vielleicht erstreckte sich diese Übung sogar über weite Lande des damaligen römischen Reiches. Neben der Tatsache aber spricht hier noch einmal so deutlich als möglich die Denkweise des Pessimismus, wenn auch nur desjenigen einer bestimmten Klasse.

Innerhalb der einmal vorhandenen Familie aber wartet der Jammer der Trennung, die Todesfälle.210 Die Amme im Hippolytos des Euripides (V. 253 ff.) meint, die Verhältnisse zwischen Menschen sollten überhaupt immer nur locker und lose sein, damit nicht eines den vollen Schmerz um zweie zu tragen habe, und wenn sie dies auch nur im Sinne ihrer Anhänglichkeit an Phädra sagt, so ist doch damit gewiß ein Gefühl bezeichnet, welches auch innerhalb der Blutsverwandtschaft schmerzlich empfunden wurde. Bei diesem Anlaß hören wir noch, wie die Königin selbst (V. 377) in Betracht der Erdendinge fühlt: ihr gibt »in langen Nächten« nicht mehr das Ob, nur noch das Warum des allgemeinen Unglückes zu denken, und sie findet es zum Teil in den Menschen selbst.

Bedeutende Männer aber, wenn ihnen ihre Söhne vorweg starben, und sogar gewaltsamen Todes, sagten nur: Ich wußte, daß ich einen Sterblichen gezeugt hatte. Wir erfahren dies von Anaxagoras, Perikles, Xenophon, Demosthenes, König Antigonos u.a. völlig gleichlautend, und wenn die Aussage auch nur anekdotisch von einem auf die andern übertragen[379] wäre, so bewiese sie doch eine verbreitete, damals allgemein verständliche Sinnesweise. Gewöhnlich wird dies durch die bloße Seelenstärke erklärt, allein man hat es außerdem mit denkenden Menschen zu tun, welche den Unwert des Lebens so stark empfanden, daß sie ihren Söhnen das Glück des Nichtseins gönnten. Die besonders in der frühern Zeit sehr lauten und heftigen Totenklagen beweisen nicht einen Jammer um den Toten seinetwegen, sondern den Schmerz und Verlust der Überlebenden. Simonides von Amorgos211 sagt: »wenn wir klug wären, würden wir an einen Verstorbenen nicht länger als einen Tag denken.« Auf der Insel Keos212, von welcher bald weiteres zu melden sein wird, trauerten die Männer überhaupt nicht, weder durch Haarscheren noch durch besonderes Gewand; nur eine Mutter, wenn ihr ein junger Sohn starb, trauerte ein Jahr.

Im Hinblick auf die möglichen Wechselfälle des Lebens kam der zeitige Tod gewiß manchen Menschen leichter an, als heute beiA40 den neuern Völkern; man durfte sich ihn wünschen, bevor man irgendwie Habe und Gesundheit verliere213, und viele mögen in solchen Stimmungen das Leben freiwillig verlassen haben. Bei einem hohen Glücksfall aber sogleich sterben zu können, war ein herrliches Los, weil der sofortige Neid – der der Götter oder der Menschen – damit abgeschnitten war. Als Polykrite, die Heldin von Naxos214, nach der glücklichen Verteidigung der Heimat gegen die Milesier, unter dem Tor stehend, mit dem äußersten Jubel begrüßt wurde, konnte sie die Größe der Freude nicht ertragen und sank tot zusammen; nach einer andern Aussage wäre sie gerade zu erstickt unter den Bändern und Kränzen, die man ihr zuwarf; sie wurde an Ort und Stelle begraben, diese Stelle aber heißt »Grab des Neides«, denn die Möglichkeit desselben ist zugleich mit Polykrite begraben.

Abgesehen von ihrem eigenen Pessimismus glaubten die Griechen auch noch Kunde zu haben von demjenigen mehrerer Barbarenvölker. Wir versagen uns gerne die nähere Hinweisung auf orientalische Nationen und das dort spekulativ begründete Leiden der Welt, wenn etwa die Gottheit einen Fall getan hat, indem sie diese Welt erzeugte. Aus dem fernen Norden und Westen, von Kimbern, Keltiberern usw. kannte man wenigstens eine Schlachtenfreude, die dem nahen Tode entgegenjauchzte, während der Jammer dem Sterben auf dem Krankenbette vorbehalten blieb. Über nähere Völker aber mag man Herodot (V, 4, 5) anhören: die[380] thrakischen Trausen beweinen die Neugeborenen und begraben ihre Toten unter Jubel als Befreite und Glückliche; bei den Thrakern oberhalb Kreston wird nach dem Tode eines Mannes die geliebteste seiner Frauen ausgemittelt und durch einen ihrer Verwandten unter Seligpreisungen auf dem Grabe getötet215. Man bemerke wohl, es handelte sich nicht um ein Recht des verstorbenen Gatten, sonst hätte ein Verwandter von dieser Seite die Tötung vollziehen müssen, sondern um eine Beglückung der Gattin. Von einigen ganz wilden Völkern am Kaukasus216 glaubte man zu wissen, sie hätten völlig die Denkweise jener Verse aus dem Kresphontes des Euripides: der Geborene werde beweint wegen der Übel in die er eintritt, der Tote und von den Leiden Erlöste aber werde unter freudigem Glücklichpreisen aus dem Hause getragen.

Es mag ungewiß bleiben, ob die Griechen laut oder im Stillen die Römer zu den Barbaren rechneten. Die letztern selber schweigen lange über Wert oderA41 Unwert des Lebens, und sobald sie zu raisonnieren anfangen, sind sie schon halbe Griechen. Der geschraubte Protest, welchen Sallust (am Anfang seines Jugurtha) gegen die Klagen des Menschengeschlechts erläßt, beweist allermindestens, daß diese Klagen über Schwäche und Kurzlebigkeit des letztern und Herrschaft des Schicksals sehr allgemein waren217.

Die griechische Fabel setzte selbst bei Tieren einmal eine allgemeine Verschätzung des Lebens voraus218; den Hasen fällt es aufs Herz, daß sie so schwach und mutlos und nur zum Fliehen gut seien, und sie wollen sich alle in einem Gewässer ertränken; da springen vor ihnen eine Menge Frösche hinein, und nun kennen sie noch Schwächere und bleiben am Leben.


Dem Tode aber lohnte es sich der Mühe näher ins Angesicht zu sehen, wenn eine ganze geistvolle Nation vom Leben so übel dachte. Wir nähern uns der Betrachtung des Selbstmordes bei den Griechen, werden jedoch über diesen oft behandelten Gegenstand nur das Notwendige, auch einiges weniger Beachtete beibringen.[381]

Jedenfalls kam dabei stark in Betracht der Gedanke an das, was nach dem Tode folge. Wie verschieden und schwankend nun die Ansichten vom Jenseits waren, ist anderswo erörtert worden; der einzelne war völlig frei, davon zu halten, was er wollte; er konnte ein frommer und eifriger Opferer sein, ohne z.B. den homerischen Glauben an ein traurig indifferentes allgemeines Schattendasein zu überschreiten. Viele aber glaubten an Lohn und Strafe, und einzelneA42 Frevler lebten in tiefster Bangigkeit. Einige Äußerungen, welche die große Verschiedenheit der Meinungen beleuchten, dürfen hier nicht übergangen werden.

Demokrit war über alle Bedenken hinaus und rechnete die Furcht vor dem Jenseits, »dies ersonnene Mythengebilde«, das sich die Menschen auferlegen, einfach mit zum sonstigen Erdenelend219. Ob er das völlige Nichts erwartete, wissen wir nicht, viele aber waren ohne Zweifel dieser Meinung. Hören wir eine Grabschrift, in welcher220 der Verstorbene redet: »Unverschuldet wurde ich von den Eltern erzeugt, und jetzt gehe ich Unglücklicher zum Hades ... Ich war nichts und wurde geboren und wiederum werde ich nichts wie zuvor. Nichts und gar nichts ist das Menschengeschlecht. Freund, laß mir noch den Becher blinken und biete mir den Trank zur Stillung des Jammers, d.h. gieße den Wein auf mein Grab!«

Nun wird aber wiederum auf Euripides zu hören sein, als auf das Echo so vieler Meinungen und Reden, welche um ihn herum im Schwange waren. Mehrmals und offenbar sehr pathetisch hat er das Wort gewagt: »wer weiß ob das (irdische) Leben nicht eigentlich ein Sterben und das Sterben ein Leben ist221?« – wofür er in den »Fröschen« des Aristophanes zweimal verhöhnt wird. Ist aber für die Athener dieser von der Scena aus ertönende Spruch irgendwie verständlich gewesen, so muß es viele unter ihnen gegeben haben, welche nicht nur auf allen Wert dieser gepriesenen athenischen Existenz völlig verzichteten, sondern auch mit bessern Hoffnungen auf eine andere Welt hinblickten. Außerdem jedoch vernehmen wir im »Hippolytos« (V. 159 ff.) eine Rede der Amme, welche bereits an Hamlets berühmten Monolog erinnert; nachdem in der sonst gewohnten Weise vom allgemeinen Erdenjammer die Rede gewesen, heißt es weiter: was möglicherweise ersehnter sein könnte als dies Leben, werde uns verborgen durch eine rings umgebende Finsternis mit ihren Wolken; wir hätten nur eine unglückliche Liebe zum Diesseits, weil dieses auf der Erde strahle, während das andere Leben unbekannt und die Dinge unter[382] der Erde unerwiesen seien, wir aber von Phantasiegebilden geirrt würden222.

Mochten nun die Hoffnungen auf das Leben nach dem Tode groß, zweifelhaft oder nichtig sein, jedenfalls fehlt es an allen Aussagen darüber, ob man durch das eigenmächtige Entrinnen aus dem Leben sich zu schaden fürchtete. Oder erwarteten doch sehr viele das Nichts? und beweist etwa die große Häufigkeit der Selbstmorde, daß sich dies so verhielt? Unter allen Umständen beweist dieselbe die geringe Verbreitung des pythagoreischen und orphischen Seelenwanderungsglaubens gerade unter den bemerkenswerten und berühmten Menschen, denn mit der Metempsychose vertrug sich der Selbstmord absolut nicht. »Daß aber«, sagt Nägelsbach223, »der Selbstmord in der Volksmeinung als eine Sünde gegen die Götter betrachtet worden wäre, dafür vermag ich keine Zeugnisse anzuführen.« Natürlich; man hatte ja das Leben nicht von den Göttern.

Die Aufzählung der hauptsächlichsten Beweggründe sowohl bei den Selbstmorden des Mythus als bei den geschichtlichen findet sich bei demselben vorzüglichen Forscher, und über das Verhalten der Polis mag C.F. Hermann224 beraten werden. Das plumpe Pathos der Polis ist dasselbe wie bei ihren Kapitalstrafen überhaupt; nachdem sie Unzähligen und vielen von den Besten das Leben unerträglich gemacht hat, während die Auswanderung so viel als unmöglich ist, verhängt sie über Selbstmörder Atimie, Versagung des Begräbnisses, Abtrennung der rechten Hand von der Leiche und dergleichen mehr. Sie erzürnt sich in solchen Fällen auf dieselbe Manier, als wenn z.B. jemand sein Vermögen durchbringt, anstatt es sich von ihr abdringen zu lassen, stückweise oder durch Konfiskation. Immerhin aber hat es zwei Poleis gegeben, welche der einmal tatsächlich vorhandenen Übung des freiwilligen Todes eine gesetzliche Bahn zu schaffen suchten.

Unmittelbar vor dem attischen Vorgebirge liegt die Insel Keos225 mit ihrer damaligen Hauptstadt Julis, und die Athener hätten es leicht gehabt, uns über das dortige Verfahren genaueA43 Nachricht zu hinterlassen. Statt dessen ist in den erhaltenen Berichten offenbar die Sache bald so bald anders ausgemalt, wobei nur das eine konstant bleibt, daß alte Leute (man sagt, die Sechzigjährigen) freiwillig und mehrere zusammen zu sterben pflegten, und daß hierüber eine Ordnung waltete. Begründet[383] wird die Übung u.a. durch die geringe Nahrung, welche die Insel hervorbrachte, oder durch eine einmalige Not: einst nämlich von den Athenern belagert, hätten die Einwohner beschlossen, die ältesten Leute sollten sich das Leben nehmen, woraus dann, wie es scheint, jene Übung entstanden wäre, aber immerhin als eine freie, welche vom Gesetz nur sanktioniert war. In der Tat wird der gemeinsame Entschluß auch als ein freier bezeichnet, welchen alte Leute zu fassen pflegten, wenn sie fühlten, daß sie zu einem der Heimat nützlichen Tun nicht mehr tauglich und dem Kindischwerden nahe seien. Der Hergang selber, da man gemeinsam den Schierling oder den Mohnsaft trank, wurde anmutigerweise zu einer Art von Fest, und alle waren bekränzt226. Das Leben auf der Insel galt als sittenstreng, und die Leute blieben gesund und wurden beim natürlichen Lauf der Dinge sehr alt; statt nun noch Krankheit oder andere leibliche Unglücksfälle abzuwarten, werden eine Anzahl von Alten einen gemeinsamen Todestag abgeredet haben. Daß die Trauer um Tote auf Keos wenig bedeutete, wurde schon oben erwähnt.

Nicht eines jener gemeinsamen Feste, sondern den freiwilligen Tod einer einzelnen Greisin auf Keos schildert als Augenzeuge Valerius Maximus, welcher als Reisebegleiter des Sextus Pompeius, Urenkels des großen Pompeius, zur Zeit des Tiberius in Griechenland weilte. Sein Bericht ist für die ganze Frage vom Selbstmord bei den Griechen bedeutend. Eine angesehene Bürgerin, über neunzigjährig, hat öffentliche Rechenschaft über ihr Vorhaben, den Schierling zu nehmen, abgelegt und wünscht nun, daß ihr Tod durch die Anwesenheit des Sextus Pompeius beehrt (clarior) werden möchte; er kommt und sucht sie durch eine schöne Anrede von ihrem Vorhaben abzubringen, umsonst. Auf ihrem heute besonders zierlichen Ruhebette, auf den Ellbogen gestützt, dankt sie ihm zunächst dafür, daß es ihm nicht zu viel gewesen sei, sie zum Weiterleben zu ermahnen sowohl, als nun auch ihr Sterben mit anzusehen; es sei ihr immer gut gegangen, und nun möge sie nicht erst aus bloßer Lebensgier noch Unglück erfahren; ihre beiden Töchter und mehrere Enkel ermahnt sie zur Eintracht und verteilt denselben ihr Erbe, die Hausheiligtümer aber und ihren Schmuck gibt sie an die ältere Tochter; dann ergreift sie mit der Rechten mutig den Becher, spendet daraus dem Hermes, ruft ihn an: er möge sie sanften Ganges an einen guten Ort der Unterwelt bringen, und trinkt in gierigem ZugeA44 den Todestrank; dann meldet sie, wie allmählich ihre Glieder erstarren, und indem der Tod gegen das Herz vorschreitet,[384] verlangt sie von den Töchtern, ihr die Augen zuzudrücken. Auch die Römer kommt bei diesem Ende das Weinen an.

Derselbe Valerius Maximus enthält nun auch die Hauptkunde vom Verhalten der Stadt Massalia zu den freiwilligen Tötungen. Es scheint, daß hier noch unter den Römern die alte Kraft des phokäischen Geistes nicht völlig erloschen war, und nun vermochte man es, den Selbstmord deutlicher zu disziplinieren als auf Keos. In dem ernst gestimmten Massalia gab es schon bei den Todesfällen weder Trauer noch laute Klage; ein Opfer im Hause und ein Gastmahl der Angehörigen waren alles, denn das Leben wurde überhaupt nicht überschätzt. Denjenigen aber, welche dasselbe zu verlassen wünschten, wurde dies nicht leichthin gestattet, und sie mußten dem Rat der Sechshundert die Gründe angeben, dann aber verabreichte ihnen die Stadt selber den schnell tötenden Schierling. Als Grund galt sowohl Unglück als auch völlig beharrliches Glück, dessen möglichem Unbestande man sich entziehen wollte. Ohne Zweifel sind daneben ungefragtermaßen eigenmächtige Tötungen in Menge vorgekommen, allein hier war wenigstens ein öffentlich erklärter Wille vorhanden, an welchen man sich anschließen konnte.


Daß die wahre Größe darin liegen könne, selbst die schrecklichsten Lagen auszuhalten (τλῆναι) war auch den Griechen von jeher klar. Zu den mächtigsten Worten des Odysseus gehört sein Ausruf: duld' auch dieses, o Herz, schon Schlimmeres hast du erduldet! – und als die Gefährten während seines Schlafes entsetzlicherweise die Schläuche des Äolos geöffnet, hat er noch die Kraft, bei sich zu erwägen, ob er sich ins Meer versenken oder weiter leben wolle: »und ich duldete und harrte aus227;« er hüllt sich in sein Gewand und legt sich auf den Boden des Schiffes. Und doch hat Herakles, der größte aller, welche geduldet, seinen Leiden auf dem Holzstoß des Öta ein Ende gemacht – denn so faßte nun einmal der Grieche den Mythus auf, auch wenn derselbe ursprünglich das Ende des Sonnenjahres sollte bedeutet haben.

Welch ein Abstand aber von einem solchen Tode zu den leichten Anlässen, welche spätern Griechen zum Verlassen des Lebens genügten! Bei dem ohnehin allverbreiteten Pessimismus brauchte es nur eine besonders trübe zeitweilige Stimmung oder eine zufällige Aufregung der Phantasie, und der Entschluß war da. Wenn Leute gleichsam im Vorrat starben, aus Sorge, daß ihnen ein bisheriges Wohlergehen untreu werden möchte, so werden sie seit langen Zeiten den Gedanken in allen müßigen Stunden großgezogen haben; sonst aber gab es Anlässe des Augenblickes[385] genug, und wäre es auch nur ein Vermögensverlust gewesen, welcher den bisherigen Aufwand unmöglich machte. Man erzählte von drei durch Luxus verarmten vornehmen Athenern, welche einander gegenseitig den Schierling zutranken228 und aus dem Leben schieden »wie aus einem Symposion«. Ganz anders diejenigen, welche beim Tode geliebter Wesen sich das Leben nahmen, und aus Platos Phädon229 erfahren wir, daß dies häufig und in der frohen Aussicht auf das Wiedersehen im Hades geschah. Freilich konnte gerade die Lektüre des Phädon unbesonnene Leser ebensoweit bringen; ein gewisser Kleombrotos in Ambrakia tötete sich durch einen Sprung von der Mauer, weil er aus dem Buche nur soviel entnahm, daß es für die Seele überhaupt besser sei, vom Leibe zu scheiden230.

Wenn in neuern Zeiten bisweilen die Selbstmorde sich an einzelnen Orten wie durch Ansteckung verbreiten, so darf dies in Griechenstädten vollends nicht befremden. Eine solche Epidemie kam einst über die Mädchen von Milet231, man glaubte, durch kranke Beschaffenheit der Luft; sie sehnten sich auf einmal nach dem Tode, und viele erdrosselten sich heimlich; umsonst waren Worte und Tränen der Eltern und Mahnungen der Befreundeten; sie vereitelten jede Aufsicht der Wächter, bis auf den Vorschlag eines klugen Mannes ein öffentlicher Beschluß erging: die Erdrosselten müßten nackt über die Agora getragen werden, und darauf hörte die Sache alsbald auf.

Bei diesem Anlaß ist auch der leukadische Fels zu erwähnen, von welchem unglücklich Liebende ins Meer zu springen pflegten232. In welcher Gegend der steilen Insel Leukas (jetzt Santa Maura) der Sprungfels und wie hoch die Stelle über dem Wasser war, wird nicht gemeldet; die einen ertranken, andere, welche am Leben blieben, sollen sich dann von der Liebschaft geheilt befunden haben, so daß der Sprung wie eine Frage an das Schicksal erscheint. Einem gewissen Makes von Buthrotos soll das Experiment nicht weniger als viermal gelungen sein. Die Einwohner der Stadt Leukas, welchen diese Sachlage auf die LängeA45 unerwünscht sein mochte, stürzten dann alljährlich an einem Feste des Apollon einen bereitgehaltenen Verbrecher hinab, den man aber mit lebendigen Vögeln behangen haben soll, damit der Sturz weniger heftig sei, während unten[386] eine Anzahl Nachen zu seiner Rettung warteten, worauf man ihn aus der Gegend fortschaffte.

Unter den ernsten Gründen eines freiwilligen Todes233 wurde im Altertum, auch im römischen, allgemein und wohl ohne allen Widerspruch zugegeben jede unheilbare Krankheit. Das Hinausziehen eines solchen Lebens durch ärztliche Kunst wurde offen getadelt, und es ist der Mühe wert, hierüber Plato234 im Auszug anzuhören: »Kränkliche Leute solltenA46 überhaupt nicht leben und jedenfalls keine Kinder zeugen; Asklepios hat die Heilkunst gelehrt für die, welchen gegen eine einmalige Krankheit zu helfen ist, das aber unternahm er nicht, innerlich ganz verkrankte Leiber durch behutsames Abschöpfen und Aufgießen bei einem langen und jämmerlichen Leben zu erhalten, worauf deren Kinder aller Wahrscheinlichkeit nach wieder ähnliche erzeugen; einen solchen, glaubte er, solle man nicht ärztlich pflegen, da er weder sich selbst noch dem Staat etwas nütze sei ... und wäre er reicher als Midas.« Ein ähnliches Raisonnement bei Euripides235 schließt mit der offenen Zumutung: Solche, wenn sie der Welt nichts mehr nützten, sollten sich durch den Tod entfernen und den Jüngern aus dem Wege gehen236!

Für vollkommen berechtigt galt auch das Scheiden aus der Welt wegen hohen Alters, zumal wenn Krankheit oder Verstandesschwäche im Anzug war. Bei Anlaß der Philosophentode wird hiervon am passendsten zu handeln sein.

Ferner würde das Gefühl aller Völker es gut heißen müssen oder doch nicht tadeln dürfen, daß im Kriege überwundene Griechen, die nicht auf der Bresche hatten fallen können, sich bei Zeiten, sogar massenweise das Leben nahmen, nachdem sie vorher noch ihre Weiber und Kinder getötet. Bei einem Kriegsrecht, wie das der vielbewunderten hellenischen Poleis war: Tötung der überwundenen Männer und Verkauf von Weibern und Kindern in die Sklaverei – war dies eine völlig angemessene Handlungsweise, welche auch die allgemeine Anerkennung und selbst Bewunderung genoß. »Eines nur sage ich dir: gib dich nicht lebend und[387] freiwillig in Knechtschaft, so lange es dir noch offen steht, frei zu sterben« – so Euripides237, und daß Sklaverei ohnehin schlimmer sei als der Tod, sagen die Alten einstimmig. Wenn dem Sieger alles erlaubt ist, so ist für den Besiegten der Selbstmord ein unentbehrliches Recht, und man darf den zufälligen Inhabern einer entsetzlichen Übermacht nicht den Gefallen tun, auf das letzte Mittel der Rettung vor ihnen einen sittlichen Verruf zu legen.

Es gab ein erlauchtes und noch halb mythisches Vorbild für ein Verhalten in der äußersten Gefahr, welches unter dem Namen »phokische Verzweiflung« allbekannt war238. Im Kampf gegen die einst ins Land gedrungenen Thessalier vereinigten die Phokier, bevor sie alle zur Schlacht auszogen, ihre Weiber und Kinder samt ihrer besten Habe an einer Stelle und ließen auch die Weiber ihre Einwilligung geben zu dem, was nun beschlossen wurde: Holzmassen wurden ringsum aufgeschichtet und dreißig sichere Wächter bestellt, welche bei der Botschaft von einer Niederlage alles töten und verbrennen sollten; es kam dann nicht dazu, denn die Phokier siegten, und ein mächtiges Gedächtnisfest, welches regelmäßig der Artemis zu Ehren in Hyampolis gefeiert wurde, hielt die Erinnerung aufrecht. Aber andere wußten nun auch, wozu man in ähnlicher Lage bereit sein sollte. Als bei der Verteidigung der letzten Sikelerstadt Trinakia gegen die Syrakusier die Kämpfer gefallen waren, töteten sich die alten Leute, um nicht den Jammer der Übergabe zu erleben; die Sieger schleppten den Rest des Volkes in Sklaverei, zerstörten die Stadt und sandten das Beste von der Beute nach Delphi239. Hergänge ähnlicher Art sind völlig normal, und auch andere Völker des Altertums, wenn ihrer »Stadt« das letzte Schicksal nahte, handelten so. Von einem der Erben Alexanders, Perdikkas, hatte das halbbarbarische Isaura240 das Äußerste zu erwarten, weil man noch bei Lebzeiten des großen Königs einen Satrapen desselben getötet hatte; nachdem nun durch das makedonische Heer schon die meisten Verteidiger gefallen waren, erfolgte bei nächtlicher Weile eine einmütige Maßregel: Weiber, Kinder und alte Leute schloß man in die Häuser ein, zündete alles an und warf dann noch allen nutzbaren Besitz in die Flammen; hierauf wurde zum Staunen der Feinde noch wütend auf der Bresche weitergekämpft, bis Perdikkas abzog, und nun sprangen die letzten, siegreich gebliebenen Verteidiger in die noch lodernden Häuser und »begruben sich mit den Ihrigen«. Der[388] berühmte Untergang der Saguntiner (218 v. Chr.), als Hannibal in ihre Stadt eindrang, erfolgte in ähnlicher Gestalt; die Abkömmlinge von Zakynthos entzogen sich dem Punier durch den Flammentod. Bald darauf (200 v. Chr.) gab in der zerrütteten Hellenenwelt das hellespontische Abydos noch einmal ein Beispiel vom Äußersten, was eine griechische Gemeinde vermochte, gegenüber Philipp dem Jüngern von Makedonien241. Der umständliche, schauerliche Bericht endigt damit, daß die Hüter der Weiber und Kinder, statt dieselben, nachdem fast alle Verteidiger tot oder schwer verwundet waren, umzubringen, bei Philipp um Frieden bitten lassen; aber während dieser die Stadt besetzt, holen die Reste der Abydener das Versäumte nach, indem sie sich und die Weiber und Kinder erstechen, in die Flammen werfen, erwürgen, in die Zisternen stürzen und dann von den Dächern herab zu Tode springen; es hätte ihnen wie Verrat an den für die Heimat Gefallenen geschienen, weiterzuleben; ohne Rast, familienweise stürzten sie sich in den Tod; der König aber, als er darob Schrecken empfand, mußte sich sagen, daß er allein an allem schuld sei, weil er zu Anfang der Belagerung das Anerbieten der Bürger »abzuziehen, jeder bloß mit dem Kleid, welches er am Leibe trage« abgewiesen und unbedingte Unterwerfung verlangt hatte von einer Stadt, welche ihn nichts anging.

Einzelnen hochstehenden Familien von Fürsten oder Tyrannen konnte der gemeinsame Tod zur Notwendigkeit werden, wenn sie sich überwältigt sahen, indem namentlich den Mitgliedern von Tyrannenhäusern eine martervolle Ermordung bevorstand. Und auch gegenüber von gelindern Siegern mochte etwa ein ganzes Fürstenhaus nicht weiter leben. Fürst Nikokles von Paphos242 hatte sich gegenüber von Ptolemäos Lagi, welcher bereits Oberherr von Cypern war, heimlich mit Antigonos eingelassen, worauf zwei Vertraute von Ptolemäos ausgesandt wurden, um ihn zu töten. Dieselben ließen sich vom ägyptischen Kommandanten der Insel Mannschaft geben, umstellten die Burg des Nikokles und meldeten ihm, er möge aus dem Leben scheiden. Nach einem kurzen Versuch der Rechtfertigung tötete er sich, worauf seine Gemahlin ihre noch unvermählten Töchter tötete und auch ihre Schwägerinnen, die Schwestern des Nikokles, beredete, sich ebenfalls zu töten, obgleich Ptolemäos allen Frauen des Hauses Sicherheit versprochen hatte. Und als die Burg voll plötzlichen Mordes und Jammers war, schlossen die Brüder des Fürsten[389] die Pforten, zündeten das Gebäude an und töteten sich selbst. Heute hätten sich mit Ausnahme des Nikokles alle pensonieren lassen.

Später hat einst (nach 78 v. Chr.) ein pamphylischer Piratenhäuptling, Zeniketos, als Servilius Isauricus mit römischer Mannschaft ihn zu überwältigen im Begriffe war, in seiner weitschauenden Burg an der Felsküste des Taurus sich mit seinem ganzen Hause verbrannt243. Anders endete (64 v. Chr.) Mithridates – wenn man diesen noch zur hellenischen Welt zählen will – als ihm sein Sohn Pharnakes sein letztes Heer abtrünnig gemacht, im Palast zu Pantikapäon244; er vergiftete zuerst seine Weiber und die übrigen Söhne (man erfährt nicht, ob mit deren Willen) und trank dann den Rest aus; als dies nicht wirkte, hat ihm entweder ein getreuer Kelte auf seinA47 Bitten den Tod gegeben, oder er ist von einer eindringenden Schar des Pharnakes ermordet worden.

Nicht um eine Familie, sondern um eine zum Tode bereite Hofgesellschaft handelte es sich (31 v. Chr.) im Palast von Alexandrien in der Umgebung des Antonius und der Kleopatra245. Ihr Klub (σύνοδος) hatte bisher der »vom unerreichbaren Wandel« (ἀμιμητόβιοι) geheißen; nach der Rückkehr von Aktium trat an dessen Stelle derjenige der »Gemeinsamsterbenden« (συναποϑανούμενοι). Die Königin für ihre Person sammelte alle möglichen Gifte und versuchte sie an Verbrechern, und zwar auf den Grad der Schmerzlosigkeit hin; da erwies sich als das Zweckmäßigste der Natternbiß, denn die andern schnellen Gifte waren mit Schmerz verbunden, und die schmerzlosen wirkten zu langsam. Wie genau dann die einzelnen Vereinsmitglieder bei den erstaunlichen letzten Hergängen ihrer Pflicht nachkamen, weiß man nicht; sicher sind mit Kleopatra nur einige treue Dienerinnen gestorben.

Daß sonst griechische Frauen, um nicht in die Gewalt roher und unerbittlicher Feinde zu fallen, sich das Leben zu nehmen hätten, war von jeher eine allgemeine Überzeugung, und noch christliche Kirchenschriftsteller haben bekanntlich denjenigen Selbstmord in Schutz genommen, welcher vor der Schändung bewahrte. Die Todesart, welche man vorzog, war diejenige durch Erdrosselung oder durch eigentliches Aufhängen; Königin Olympias legte ihrer Stieftochter Eurydike Schierling, Schwert und Strick vor, und Eurydike wählte den letztern246; umsonst hatte bei Euripides247 Helena das Aufhängen als unedel und selbst für Sklaven unschicklich, das Erstechen (σφαγάς) als vornehm und schön bezeichnet.[390] Es scheint, daß in den Familien der Mächtigen die Töchter hierüber beizeiten eine deutliche Belehrung empfingen, am ehesten durch die Mutter. Im III. Jahrhundert v. Chr., beim Sturz eines Tyrannen von Elis248, hängte sich dessen Gemahlin; für ihre beiden Töchter war so viel erwirkt worden, daß sie sich ohne Schmach zu leiden ebenfalls selbst töten durften; die ältere löste ihren Gürtel, schlang sich denselben um den Hals, küßte die jüngere und forderte sie auf zuzusehen und es dann genau ebenso zu machen; als nun aber die jüngere darum flehte, zuerst sterben zu dürfen, lehrte die Schwester sie die Schlinge um den Hals legen, und als sie inne wurde, daß die jüngere tot war, hüllte sie dieselbe ein und bat dann für sich nur noch um geziemende Bestattung. Auch die anwesenden »Tyrannenfeinde« weinten alle beim Tode der beiden Mädchen.

Aus einer weit andern Lebenssphäre wird etwa um dieselbe Zeit die bereits S. 230 f. angeführte Geschichte von Drimakos, dem Anführer eines lange dauernden Aufstandes der Sklaven von Chios, berichtet, welcher, da er alt geworden war, und da auf seinen Kopf ein hoher Preis stand, von seinem Geliebten verlangte, daß dieser ihm den Kopf abschneide und das Geld damit verdiene, wie denn auch geschah.

Schon die Griechen haben umständlich darüber verhandelt, an welchem Punkt in großen, zumal politischen Gefahren das Recht, ja die Pflicht zum freiwilligen Tode beginne. Es kann Feigheit (δειλία) sein am Leben zu bleiben, und ebenso: zu sterben.

Wo irgend »Schmach« erlebt werden könnte, im weitesten Sinne des Wortes, da nimmt natürlich schon das Pathos für den Selbstmord Partei. In der »Helena« des Euripides erklärt Menelaos zweimal (V. 830, 981) und mit hohen Worten, welche gewiß in den Gemütern der Zuhörer wiederklangen, wie und auf welche Weise er eventuell zuerst die Gattin und dann sich selbst auf dem Grabmal des Proteus umbringen würde; es kommt dann allerdings nicht so weit, der Dichter hat sich nur den Anlaß zur Rührung und Aufregung nicht wollen entgehen lassen, aber Lebensliebe (φιλοψυχία) ist nun einmal ein Vorwurf, gegen welchen der Grieche sich und der Tragiker seine heroischen Personen zu verwahren pflegt. »Wer im Unglück (ἐν κακοῖσι) noch am Leben hängt, ist entweder feige oder stumpfen Sinnes,« heißt es bei Sophokles249. Insgemein wird den Dienenden und Sklaven die Liebe zum Leben als ein niedriger Zug zugetraut250, der sie von den Freien unterscheide. Agathokles stillt in Afrika einen wilden Lägeraufruhr, indem er den Soldaten, seinen »Kameraden«,[391] mit Selbstmord droht251: es sei nicht seine Art, aus Feigheit und Lebensliebe sich etwas Ungehöriges gefallen zu lassen – und sofort führt er sie zum Siege, während die Karthager schon hofften, sie würden zu ihnen überlaufen.

Nun kommen aber eigentliche Distinktionen über das Recht des Selbstmordes vor und wenigstens einmal im Munde eines berühmten Staatshauptes. Der letzte König Kleomenes von Sparta, als er und seine ganze griechische Partei bei Sellasia dem achäischen Bunde und dem Antigonos Doson unterlegen war (222 v. Chr.), sagte252 zu einem Gefährten, der ihn zum Sterben aufforderte, die Selbsttötung sei berechtigt, nicht wenn sie eine Flucht, sondern nur, wenn sie eine (politische) Handlung sei; man lebe und sterbe nicht bloß für sich selbst; wenn einmal keine Hoffnung mehr für das Vaterland vorhanden sei, dann möge man leicht sterben. Offenbar wollte er sich für einen möglichen Umschlag der hellenischenA48 Dinge aufbewahren, indem er sofort nach Ägypten fuhr; in Alexandrien erfolgte dann nach einiger Zeit, als unter Ptolemäos Philopator jede Hoffnung geschwunden war, das weltberühmte Ende des Kleomenes und seines ganzen Gefolges durch eigene Hand, auf offenem Platze; damit war vollzogen, was er noch daheim versprochen hatte: lebend oder sterbend zu tun, was Sparta zuträglich sei; sie fielen nicht in der Haft »wie gemästete Opfertiere«; der Wunsch des »würdigen Todes« (εὐϑανατῆσαι) war erfüllt. Ein eigentümlicher Stil begleitete die Tat bis ans Ende; auf Befehl des Kleomenes mußte sein Geliebter, Panteus, bei allen herumgehen und mit dem Dolche nachhelfen, wo einer noch lebte; als er auch seinem König, der noch mit dem Angesicht zuckte, diesen letzten Dienst erwiesen, umschlang er denselben und gab dann sich selbst den tödlichen Stich.

Ein halbes Jahrhundert später blieb der von den Römern überwundene König Perseus von Makedonien am Leben, ging im Triumphe mit und lebte in römischer Haft aus. Bei seinem sonstigen abscheulichen Charakter wird es untunlich bleiben, ihm wie dem Kleomenes eine patriotische Absicht beim Weiterleben zuzutrauen, und auch die Mitwelt hat ihn der gemeinen Lebensliebe beschuldigt. Schon der Sieger Ämilius Paulus253 warf ihm dieselbe spottend vor, als Perseus darum bitten wollte, nicht im Triumph aufgeführt zu werden. – Bei Anlaß dieses Perseuskrieges teilt uns außerdem Polybios254 seine Ansicht über den Berechtigungsgrad des freiwilligen Todes mit, soweit derselbe politisch tätige Menschen[392] betraf. Ein Teil von Epirus hatte mit Perseus gehalten auf Antreiben dreier Männer, welche dann, als das volle Unglück hereinbrach, sich würdig (γενναίως) den Tod gaben; diese müsse man loben, weil sie sich nicht wegwarfen und nicht verkannten, daß sie in eine ihres frühern Lebens nicht würdige Lage geraten waren. Dagegen taten diejenigen, welche in Achaia, Thessalien usw. sich nicht nachweisbar kompromittiert hatten, wohl daran, die Untersuchung über sich ergehen zu lassen und jede Hoffnung zu versuchen, denn es sei ein ebenso großer Beweis unwürdiger Denkart (ἀγεννείας), wenn man sich, ohne Schuldbewußtsein, vor der Zeit, aus bloßer Furcht vor politischen Gegnern oder Willkür von Mächtigen das Leben nehme, als wenn man der Lebensliebe über das SchicklicheA49 hinaus nachgebe. Hinwiederum nimmt es Polybios den beiden Hauptanhängern des Perseus auf Rhodos sehr übel, daß sie, obwohl völlig überwiesen und eine Verlegenheit für ihre Heimat, nicht den Mut hatten, sich aus der Welt (ἐκποδών) zu machen, sondern aus Lebensliebe zauderten, auch beim Verlust aller Aussichten; damit hätten sie bei den Nachkommen jeden Rest von Mitleid und Nachsicht verscherzt.

Wieder zwei Jahrzehnte später (146 v. Chr.), nach der allgemeinen Niederlage der Griechen durch die römischen Truppen im letzten achäischen Kriege255, brachten Verzweiflung und Wahnsinn zahllose Selbstmorde hervor; überall sprangen Leute in die Zisternen oder von Felsen herunter, so daß es auch die Sieger erbarmen konnte, welche den meisten davon gar nichts würden zuleide getan haben.


Über den oft besprochenen freiwilligen Tod bei den Philosophen dürfen wir hier kurz sein. Die Berichte sind ohnehin nicht immer zuverlässig, indem ja der Augenzeugen in der Regel nur wenige waren und solche, die vielleicht nicht gerne das Genaue meldeten; einiges, wie z.B. die verschiedenen Sagen vom Tode des Heraklit, sieht offenbar nach Erdichtung aus.

Wer der Seelenwanderungslehre anhing, durfte sein Leben nicht eigenwillig beschließen, und schon deshalb ist der Sprung des Empedokles in den Krater des Ätna ein Märchen. Laut der pythagoreischen Lehre256 sind die Seelen in die Leiber gebannt zur Strafe; der Selbstmord macht nicht frei vom »Kreis der Zeugung«; wer nicht im Leibe aushält, bis die Gottheit ihn erlöst, verfällt noch mehrerem und größerem Jammer, daher bei den Gläubigen das geduldige Abwarten des Todes im Alter. Sonst aber gehört die Befugnis des freiwilligen Todes zu all der übrigen Freiheit im Leben der Philosophen, und mit der Zeit wird sie sogar förmlich in ihre[393] Systeme aufgenommen. Der tatsächliche Selbstmord des Sokrates, durch Verschmähung der Flucht und absichtliche Erbitterung der Richter, wird bei Xenophon257 auf das deutlichste betont. Der fast hundertjährige Demokrit faßte den Vorsatz, Hungers zu sterben, da aber gerade das große Weiberfest der Thesmophorien bevorstand, baten ihn die Frauen im Hause um einen Aufschub, und er hielt sich noch einige Tage mit etwas Honig am Leben. Die Philosophen vollzogen den Schritt überhaupt fast nur bei sehr hohem, der Hilflosigkeit nahem Alter oder in unheilbarer Krankheit. Aristoteles war Gegner des Selbstmordes und ist nach überwiegenden Zeugnissen in Chalkis natürlichen Todes gestorben, obwohl seine Ansicht vom Leben und insbesondere die vom Alter, wie oben erwähnt, eine sehr düstere gewesen war. Das Verhalten der Zyniker lernt man nur durch Anekdoten kennen, welche zwar bezeichnend lauten, aber nicht notwendig wahr sind. Dem kranken Antisthenes bringt Diogenes einen Dolch, und daß jener sich gleichwohl nicht ersticht, wird ihm dann als »Lebensliebe« ausgelegt258. Einmal aber wurde Diogenes selber krank, und jemand kam und riet ihm zum freiwilligen Tode, bekam jedoch folgende Antwort: »für solche, welche wissen, wie man im Leben handeln und was man sprechen soll, ziemt es sich am Leben zu bleiben, du freilich könntest perfekt sterben«. – Doch ist Diogenes nachher neunzigjährig durch Anhalten des Atems gestorben259.

Von Hegesias dem Cyrenaiker und seiner Lehre des tiefsten Pessimismus, welche manche seiner Zuhörer in den Selbstmord getrieben haben soll, ist schon die Rede gewesen. Das Hauptaktenstück, ein Gespräch eines sich zu Tode Hungernden (ἀποκαρτερῶν) mit seinen Freunden, welche ihn am Leben erhalten wollen, ist nicht auf unsere Zeit gekommen. Menedemos, der Stifter der Schule von Eretria, tötete sich vierundsiebzigjährig am Hofe des Antigonos Gonatas durch siebentägiges Hungern, weil ihm der König die Befreiung (oder Demokratisierung) seiner Vaterstadt nicht gewährt hatte260.

Die Lehre des Epikur war, daß man bei unerträglichen Schmerzen das Leben verlassen dürfe wie ein Theater; er selbst ist zweiundsiebzigjährig nach zweiwöchentlicher, als unheilbar erkannter Krankheit in eine Wanne heißen Wassers gestiegen und, ungemischten Wein schlürfend, gestorben; seine letzten Äußerungen waren lauter Freude über die im Leben genossenen philosophischen Gespräche und Bitten an die Freunde, seiner Lehren eingedenk zu sein. – Die Stoa gestattete den Selbstmord in weitem[394] Umfang und bei Leiden aller Art, und dann eigentlich als Pflicht. Schon der Stifter der Schule, Zenon, als er sich in hohen Jahren wund gefallen, erdrosselte sich261; Kleanthes starb achtzigjährig den freiwilligen Hungertod, und noch eine Reihe von Stoikern oder stoisch Gesinnten bis tief in die Kaiserzeit endigten ihr Leben freiwillig262. Marc Aurel hielt den Tod überhaupt für ersehnenswert, und zwar im Hinblick auf die Menschen, von welchen er umgeben war, und welche er mit Sanftmut behandelte263; für den Selbstmord behält er sich nur im allgemeinen ein letztes Recht vor: »man darf das Leben verlassen, wenn die Leute uns nicht gestatten so weiter zu leben, als stände der Tod ohnehin nahe bevor; wenn Rauch (im Gemache) ist, gehe ich hinaus; wenn aber nichts der Art mich hinaustreibt, bleibe ich freiwillig264«.

Von namhaften Gelehrten ist Eratosthenes (195 v. Chr.) achtzigjährig den freiwilligen Hungertod gestorben wegen drohender Erblindung; Aristarch starb zweiundsiebzigjährig auf Zypern desselben Todes wegen Wassersucht265. Polemon von Laodikea am Lykos, Rhetor und Sophist zu Smyrna im II. Jahrhundert n. Chr., legte sich bei schwerer Gicht sechsundfünfzigjährig in sein Grab und starb auf die nämliche Weise; den jammernden Verwandten sagte er: gebt mir einen andern Leib und ich will weiter deklamieren266!

Der späteste namhafte Philosophenselbstmord (168 n. Chr.) war der des Zynikers Peregrinus Proteus, welcher sich zu Olympia während des Festes auf einem Scheiterhaufen verbrannte. Der an allen übrigen Zielen irre gewordene hellenische Ruhmsinn setzt hier sein eigenes Ende mit aller möglichen vorangehenden Reklame feierlich in Szene als herakleische Selbstapotheose267. Allerdings in einem Jahrhundert, welches ohnehin voll Klagen über die allgemeine Ruchlosigkeit war268 und (bei Lucian) den Hohn über die ganze Welt, über Götter und Menschen zu hören bekam. Es war hohe Zeit, daß neben dieser Gesellschaft eine andere heranwuchs, welche eine ebenso große Sterbewilligkeit in tausend Martyrien an den Tag legte, aber zugleich ein neues hohes Ziel des Lebens vor sich hatte.[395]


Fußnoten

1 Es gibt keine höhere Trefflichkeit als die, welche sich in Beziehung auf den Staat offenbart; so meint es Plutarch, comparatio Aristid. cum Catone, c. 3: ὅτι μὲν δὴ τῆς πολιτικῆς ἄνϑρωπος ἀρετῆς οὐ κτᾶται τελειοτέραν, ὁμολογούμενόν ἐστι. Wie dies näher zu verstehen, lehrt sein Zusatz: Die meisten betrachten als ein nicht unwichtiges Fach (μόριον) dieser Trefflichkeit die Ökonomik.

2 Hauptstelle Plato, de legibus I, p. 630 b. ff., wo außerdem auch über die Stufenreihe dieser Tugenden verhandelt wird, sowie über diejenige der wesentlichen Erdengüter.

3 Nicht erst Schopenhauer hat Kritik daran geübt, sondern schon Menedemos (Plutarch, de virtute mor. 2) und Ariston von Chios, sowie auch König Agesilaos (Plutarch, apophthegm. regum s.v. Agesil.). – Die Adjektiva zu den vier Tugenden gibt z.B. Plutarch, Demosth. 1: ἄνδρα δίκαιον καὶ αὐτάρκη καὶ νοῦν ἔχοντα καὶ μεγαλόψυχον.

4 Vgl. Herodot I, 32 mit Plut. Solon. 27.

5 Aristot. Rhet. I, 15, 8. – Rhetor. ad Alexandrum I, 4. Wogegen freilich andere, wie Archelaos (Westermann, Biogr., p. 412), meinten: τὸ δίκαιον καὶ αἰσχρὸν οὐ φύσει εἶναι ἀλλὰ νόμῳ. – Ähnlich Pyrrhon, der Skeptiker (ebd. p. 438): μηδὲν φύσει αἰσχρὸν ἢ καλὸν, ἀλλ᾽ ἔϑει καὶ νόμῳ.

6 So z.B. Isokrat. Areopag. § 31 ff., zu vergleichen mit Pseudo-Xenoph. de re p. Athen. passim.

7 Il. IX, 496 ff. – Dagegen ein Beispiel von unerbittlich verweigerter Verzeihung eines Sohnes gegen den Vater im Mythus von Tennes und Kyknos. Konon c. 28.

8 Συγγνώμη τιμωρίας κρείσσων, freilich erst bei Diog. Laert. I, 4, 3. – Pittakos, als er den Mörder seines Sohnes frei ließ, hatte gesagt: συγγνώμη μετανοίας κρείσσων.

9 Theognis 363. – Vgl. auch 341 ff.

10 Αἱ λίην ἰσχυραὶ τιμωρίαι, Herodot IV, 202. 205. Ein ähnliches Urteil bei Anlaß der Antigone Pausan. IX, 17, 4: αἱ ὑπερβολαὶ τῶν τιμωριῶν.

11 Herodot VIII, 105. 106.

12 Lysias, orat. XIII, 4 und besonders 42 (adversus Agoratum).

13 So Antigone in ihren Worten an den Vater, Soph. Oed. Kol. 1189 ff.

14 Älian V.H. XII, 49. Vgl. Band I, S. 88.

15 Siehe Rhetor. ad Alexandrum I, 14, 5 (dem Aristoteles zugeschrieben, wahrscheinlich Werk des Anaximenes von Lampsakos).

16 Bei Plato, de re publ. I, p. 335 d, soll der Gute und Gerechte überhaupt niemandem schaden (βλάπτειν); dies in einer ziemlich umständlichen Auseinandersetzung im Munde des Sokrates.

17 Marc. Aurel, εἰς ἑαυτόν, VI, 1: die beste Art der Rache ist, es nicht zu machen wie der Beleidiger. – VII, 15: siehe zu, daß du gegen Unmenschliche nicht so gestimmt werdest, wie diese (gegen die übrigen Menschen) sind. – VII, 22: die, welche vollends unwissentlich oder wider Willen geschadet haben, sollen wir lieben. – VII, 26: bei allen, die sich gegen uns verfehlen, sollen wir erwägen, was sie überhaupt für gut oder böse halten; dann werden wir uns weder wundern noch erzürnen, sondern jene bemitleiden. Im übrigen haben wir wie die Beleidiger doch nur eine kurze Spanne Lebenszeit vor uns. (Dies in mehrern Varianten).

18 Aristoph. Ranae. 51.

19 Spätern Literatoren darf man nicht leichthin glauben, wenn sie bei den berühmten alten Historikern über geflissentliche Unwahrheiten klagen und dieselben sogar auf gemeine Motive zurückführen. – Vgl. z.B. bei Marcellin, Vita Thucyd., Beschuldigungen dieser Art gegen Herodot, Timäos, Philistos und Xenophon, und im zweiten Leben des Thukydides (Westermann, Biogr., p. 201) auch gegen diesen.

20 Vgl. C.F. Hermann, Gottesdienstl. Altertümer § 22, sowie § 9, 6, § 21, 9.

21 Hesiod, opp. et dies 801. Wie der Meineid in der wirklichen Welt trotzdem grassierte [grassiert], vgl. 193.

22 Das Ritual bei Plut. Dion. 56.

23 Herodot VI, 68 f.

24 Pausan. II, 1, 4.

25 Pausan. V, 24, 2. Sogar Väter, Brüder und Übungslehrer der Wettkämpfer mußten über einem geopferten Eber einen besondern Eid leisten.

26 Babrios, fab. 2.

27 Il. XIV, 270 ff.

28 Lysias, orat. XII (adv. Eratosth. § 10). – Was bereits im Epos dem eventuell Eidbrüchigen samt Kindern und Gattin angewünscht worden war, s. Il. III, 297 ff., und dies geschieht bei den Vorbereitungen zu einem gottesgerichtlichen Zweikampf (zwischen Paris und Menelaos), welcher dann frivolerweise unterbleibt.

29 Herodot I, 153. – Eine Variante hiervon, dem Anacharsis in den Mund gelegt, bei Diog. Laert. I, 8, 5.

30 Aristoph., Ran. 101 f., wahrscheinlich mit Beziehung auf Eurip. Hippolyt. 611.

31 Pro Flacco, bes. IV (9. 10). V (11. 12).

32 Polyb. VI, 56.

33 Vgl. Band I, S. 242 f.

34 Bei Anlaß des Zuges des L. Verus gegen die Parther 162 n. Chr.

35 Vgl. bes. I, 23, 2 -I, 39, 4 – I, 42, 1 – I, 45, 1 und 4 (Lysander) – II, 6 – II, 19 – III, 2 – III, 9, 40 – IV, 2 (Philipp von Makedonien) – IV, 6, 1 – VI, 19 und 20 – VII, 23, 2 usw.

36 In der Rede der athenischen Gesandten zu Sparta I, 76, 2.

37 Isokr. περὶ ἀντιδόσ. § 217. – Auswahl von Aussagen bei Nägelsbach. – Hauptaussage Plato Sympos. p. 208 c. ff. in der Rede der Diotima.

38 Bei Plutarch, de curiositate, 6. – Etwas anderes Sokrates, vgl. Xenoph. Memorab. III, 9, 8.

39 Odyss. IX, 473. 501. 522.

40 Plut. Perikl. 33. – Über das Unglück, einer Bevölkerung mit lächerlich gedeutetem Namen anzugehören, vgl. Pausan. X, 38, 1. 2 bei Anlaß der ozolischen Lokrer.

41 Lucian, dial. meretr. X, 4.

42 Diog. Laert. I, 6, 4.

43 Lucian, Piscator 25.

44 Im ersten βίος des Aristoph. bei Westermann, Biogr. p. 155.

45 So der bekannte Hyperbolos, Plut. Alkib. 13.

46 Equites 128 ff.

47 Das Gesetz des im Jahre 442 v. Chr. gegründeten Thurioi erlaubte den Komödienspott bereits nur gegen Ehebrecher und Intriganten (πολυπράγμονας); erstere gab man wohl preis, um der locker gefügten Kolonie eine gesetzlich eheliche Bürgerschaft zu sichern.

48 Pseudo-Xenophon, de re p. Athen. II, 18.

49 Wogegen doch die bekannten Aussagen Älian V.H. II, 13. Man darf fragen, wie es Aristophanes überhaupt hätte anfangen sollen, um den Sokrates noch absichtlicher und heilloser in den Geruch der Asebie zu bringen, als er Nub. 226. 247. 367 ff. 397 ff. 423. 830 und im ganzen Schluß des Stückes getan hat.

50 Worüber deutlich Plato, Apolog. 18. 19.

51 Athen XII, 77.

52 Man war ἐγγελαστὴς τῶν ὁμιλούντων, Eurip. Hippolyt. 998.

53 Älian V.H.V. 8.

54 Athen. X, 17.

55 Plut. Timoleon 32: die Leute sind durch Worte mehr zu kränken als durch Taten, χαλεπώτερον γὰρ ὕβριν ἢ βλάβην φέρουσι.

56 Eurip. Medea 797. 1049. 1355. 1362.

57 Diog. Laert. II, 5. 6.

58 Plutarch, de adulatore 32, wo diese Seite der gesellschaftlichen Empfindlichkeit mit weitern Beispielen belegt wird.

59 Plato Apol. p. 33 c.

60 Diog. Laert. VI, 5. 7.

61 Bis zur Verstümmelung mit tödlichem Ausgang wäre es einst, offenbar wegen gerichtlicher Reden, gekommen, wenn dem Äschines zu glauben ist. Adv. Timarchum 168 (al. 172).

62 Φαῦλον καὶ οὐδενὸς ἄξιον. Lysias, orat. X, adv. Theomnest. § 2. Wozu die Einleitung Frohbergers, Ausgew. Reden des Lys. S. 350.

63 Schopenhauer, Parerga Band I, S. 399.

64 Die von Schopenhauer zitierte wichtige Auseinandersetzung des Musonios findet sich bei Stobäos, florileg. ed. Meineke, Vol. I, p. 303-305 in der Sammlung περὶ ἀνεξικακίας. Nur ist eben Musonios erst ein Stoiker vom Anfang der Kaiserzeit.

65 Plut. Themist. 11.

66 Ob Alkibiades den Komiker Eupolis hat ins Meer tauchen lassen aus Rache, mag dahingestellt bleiben.

67 Demosth. vita quarta bei Westermann, Biogr. p. 305 f. – Von Meidias soll Demosthenes 3000 Drachmen angenommen haben, ebd. p. 311 aus Suidas.

68 Man vgl. z.B. den Fall des Demades.

69 Thukyd. III, 37 ff.

70 Diodor XII, 12. 16. 17. 20. 21.

71 Mullach, fragm. philoss. I, p. 355. Num. 235.

72 Theognis 529. Er selber hatte über Verrat durch Freunde zu klagen, vgl. 575.

73 Odyss. III, 380.

74 Ilias IX, 713 u.a.a.O.

75 Odyss. XV, 407. – Vgl. den Wunsch der Penelope, Odyss. XVIII, 202.

76 Fragm. 13 bei Bergk, Anthol. lyr. p. 15. – Eine mehr materielle Definition von Olbos fragm. 23, p. 19: ὄλβιος ist, wer liebe Söhne, Rosse, Jagdhunde und auswärts einen Gastfreund hat. – Vgl. bei Herodot I, 32 den Unterschied zwischen ὄλβιος und dem bloßen εὐτυχής, der nur eine äußerlich glückliche Chance gehabt hat.

77 Eurip. Antiope, fragm. 32.

78 Ähnlich Isthm. IV (V), 13 (16): εἴ τις εὖ πάσχων λόγον ἐσϑλὸν ἀκούῃ.

79 Vgl. die schöne Stelle über die Gerechtigkeit bei Schopenhauer, die Welt als Wille usw. II, 694.

80 Aristot. Eth. Eud. I, 1 und Eth. Nicom. I, 8.

81 Sophokl. fragm. Creusa.

82 Hierüber die beiden Ethiken des Aristoteles. – Eth. Eudem. II, 1: εἴη δ᾽ ἂν ἡ εὐδαιμονία ζωῆς τελείας ἐνέργεια κατ᾽ ἀρετὴν τελείαν.

83 Von einem höhern Standpunkt aus wurde natürlich auch die Entbehrlichkeit des Ruhmes verfochten. Plut. Agis 2.

84 Bergk, Anthol. lyr., p. 490.

85 Ebd. p. 527.

86 Wörtlich: καλὸς δὲ πεινῶν ἐστιν αἰσχρὸν ϑηρίον, aus Anaxandridas bei Athen. XV, 50.

87 Bei Lucian, de lapsu in salutando, c. 6.

88 Sein schönstes Lob in der großen Elegie Solons, V. 7 ff.

89 Besonders nachdrücklich V. 173. 181, wo sterben besser ist als arm sein.

90 Euripid. Danae, fragm. 12, vgl. 15.

91 Danae, fragm. 7.

92 Bei Athen. II, 12.

93 Dieser Trost [Text] mit der Unsicherheit und Hinfälligkeit des Reichtums ist schon älter. Vgl. Solon, fragm. 15. Theognis V. 317 (sehr ähnlich lautend).

94 Bergk, Anthol. lyr., p. 482, fragm. 19 [Ende der achtziger Jahre geschrieben].

95 De legibus I, p. 631 b ff. II, p. 661 a ff.

96 Phädrus, p. 248 d ff., bei Anlaß der vakanten Seelen, welche in ein neues Erdenleben eintreten sollen.

97 Athen. XII, 6.

98 Diog. Laert. II, 18. 12.

99 Aristot. Polit. VII, 1.

100 Plutarch, de liberor. educ. 8.

101 Lucian, navigium, bes. Kap. 41 ff.

102 Aristot. Rhet. I, 6.

103 Hesiod, opp. et dies. 160.

104 Vgl. Hesiod, bei Pausan. IX, 36, 4.

105 Die vielleicht umständlichste Darstellung des ganzen atridischen Fluchgeflechtes seit Pelops erst bei Hygin, fab. 84-88. 98. 117. 119. 120-123.

106 Apollodor III, 15, 8. Vgl. das Schicksal des Palamedes.

107 Hygin, fab. 238-248.

108 Ilias XIX, 274. – Für das Folgende vgl. XVI, 646. 788 ff. 848.

109 Eurip. Orest. 1639 ff.

110 Ilias XVI, 143.

111 Ptol. Hephäst. IV. – Die Variante: Bei Achill auf Leuke Iphigenia als Göttin. Antonin. Liberal. 27.

112 Fragm. 36 bei Bergk, Anthol. lyr., p. 443.

113 Er ist der Feind aller Bösen, μισοπόνηρος.

114 Auch Augeias lohnt den Herakles nicht aus, weil dieser seine bekannte Arbeit nicht durch Anstrengung, sondern durch eine kluge Erfindung (σοφίᾳ) vollbracht habe, Pausan. V, 1, 7.

115 Odyss. XI, 121 in den Worten des Teiresias.

116 Vgl. die Auszüge aus der Telegonie, Epicor. fragm. – Plutarch, Quaest. Graec. 14. – Hygin, fab. 127. – Parthenios 3. – Ptol. Hephästion 4.

117 Diodor V, 59 und Apollodor, III, 2.

118 Soph. Oed. Kol. 1399 die Rede des Polyneikes.

119 Ilias VI, 447.

120 Wort des Apollon, Ilias XXIV, 49.

121 Apollon zu Poseidon, Ilias XXI, 462.

122 Ilias XVII, 446.

123 Die Rosse können nämlich auch sprechen, Ilias XIX, 404 ff.

124 Ilias XXIV, 527.

125 Pindar, Pyth. III, 81.

126 Odyss. VII, 196.

127 Homer, Hymn. Apoll. 186 ff.

128 Euripid. Hippol. 45.

129 So bei Athen. VI, 94-96 aus den Komikern.

130 Opp. et dies 106 ff., bes. 173 ff.

131 Als Beispiel mögen schon die Griechenphantasien über die Hyperboreer genügen. Vgl. Band I, S. 328 f.

132 Odyss. II, 97. Ob es nicht in der frühesten Gestalt der Sage ihr angebliches Brautgewand für eine neue Ehe war?

133 Pindar, Olymp. II.

134 Diog. Laert. VII, 11.

135 Odyss. VIII, 578. – Euripides legt höchst absurd dasselbe Wort der leidenden Hekabe in den Mund. Troad. 1243.

136 Homer, Hymn. Mercur. 37.

137 Ganze Sammlungen über die betreffenden Fragen im Florilegium des Johannes Stobäos. In der Ausgabe von Meineke enthält der III. Band S. 221 das Hauptkapitel περὶ τοῦ βίου, über das Leben, dessen Kürze, Geringfügigkeit, und Sorgenfülle. Im IV. Bande die Abschnitte: über das Unglück, über Unsicherheit des Wohlergehens, Lob und Tadel des Alters, über den Tod, Lob und Tadel des Todes, Vergleich von Leben und Tod, endlich ein Trostkapitel, παρηγορικά. – Vgl. Plutarch consolatio ad Apollonium, passim – und von den Consolationen des Seneca besonders die an Marcia.

138 Eine beiläufige Polemik gegen den Verzicht auf seelischen Besitz Plutarch Solon 7, als eigenes Raisonnement des Plutarch. Ein solcher Verzicht mochte übrigens nicht nur mit dem Gedanken an die Fraglichkeit der Zukunft, sondern auch mit der vielen Erkundung derselben zusammenhängen.

139 Plutarch, de tranquill. animi 20.

140 Bergk, Anthol. lyr., p. 24.

141 Xenoph. Memorab. I, 4, 9 ff., IV, 3, 1 ff.

142 Älian V.H. XIV, 6.

143 Äschyl. Prom. 248 ff. – So viel ich gefunden habe, redet nur Theognis, 1143 ff., einem Kultus der Hoffnung ernstlich das Wort – Hoffnungen, welche die Staaten ins Unglück führen, Euripid., Suppl. 479.

144 Vgl. u.a. Theognis 761 ff., 983 ff.

145 Zugleich die Buchstaben 7 bis 10 des griechischen Alphabetes. Vgl. den Scherz bei Lucian, Epigramm 17.

146 Athen. XI, 9 aus den »Tarentinern« des Alexis.

147 Suidas bei Westermann, Biogr., p. 172.

148 Herodot II, 78.

149 Sophokl. Oed. rex, 965 ff. die Worte der Iokaste.

150 Euripid. Aeol., fragm. 20. Eine längere optimistische Tirade legt Euripides, Suppl. 195 ff., dem Theseus in den Mund, läßt denselben aber 549 ff. wieder ganz anders reden.

151 Πολλὰ μεταξὺ πέλει κύλικος καὶ χείλεος ἀκροῦ. – Der wahrscheinlich hellenistische Mythus von der Cura bei Hygin, fab. 120.

152 Einiges betont erst Apuleius, de deo Socr. Opera, ed. Bipont. II, p. 226: Die Menschen wohnen auf der Erde .... levibus et anxiis mentibus, brutis et obnoxiis corporibus ... pervicaci audacia, pertinaci spe, casso labore, fortuna caduca ... volucri tempore, tarda sapientia, cita morte, querula vita..

153 Herodot III, 40.

154 Die Schöpfung der vier ersten Menschengeschlechter durch die Götter und Zeus bleibt eine große und schwer deutsame Ausnahme.

155 Euripid. Belletoph. fragm. 7.

156 Odyss. II, 276.

157 Φιλεῖν ὡς μισήσοντας Diog. Laert. I, 5, 5.

158 Zitat bei Plutarch de fraterno amore 8.

159 Αἰδὼς καὶ Νέμεσις opp. et dies 196 ff.

160 Medea 439.... αἰϑερία δ᾽ ἀνέπτα.

161 Phänom. 96-136.

162 Metam. I, 149. Virgils erneute Hoffnung: Iam redit et Virgo etc. Ekl. IV. – Sehr schwarz dann wieder Manilius zur Zeit des Tiber., Astron. II, 592 ff.

163 Timon allein »sah ein«, daß man nicht anders glücklich sein könne, als indem man die übrigen Menschen fliehe. Pausan. I, 30, 4.

164 Bei Stobäus, ed. Meineke, Vol. III, p. 232.

165 In dem pseudoplatonischen Dialog Axiochos, p. 366 a.

166 Sophokd., Μυσοί, fragm. 2.

167 Ilias X, 70.

168 V. 42 ff. – Vgl. Theogonie 569 ff. 591.

169 Stobäus, vol. III, p. 231.

170 Axioch., p. 366 bis 368. – Vgl. außerdem das Fragment des Teles bei Stobäus, vol. III, p. 234.

171 Bergk, Anthol. lyr., p. 18, fragm. 14.

172 Vgl. u.a. die Zitate bei Stobäus, vol. III, p. 221 ff. – Schon von Alkidamas, Schüler des Gorgias, gab es ein »Lob des Todes«, bestehend in einer Aufzählung der Übel des Menschenlebens. Cicero, Tuscul. quaest. I, 48.

173 Bei Stobäos, Mein. III, S. 231.

174 Bergk, Anthol. lyr., p. 445, fragm. 39. – Die Reste der ϑρῆνοι Pindars enthalten nichts der Art, sondern Bilder des selig heroischen Daseins und Gedanken der Metempsychose.

175 Pindar, Pyth. VIII, 95.

176 Isthm. VII, 13.

177 Aias Locrens. fragm.

178 Oed. Kol. 1211. Übersetzung von Minckwitz.

179 Euripid., fragm. incert. 100. 101. 102. Belleroph. fragm. 20.

180 Homeri et Hesiodi certamen c. 6.

181 Vgl. Pindars βίος bei Westermann, Biogr., p. 93. N.a. wurde in Delphi gefragt.

182 Thukyd. II, 38.

183 Hyperid., ed. Blaß, p. 67.

184 Ed. Meineke vol. IV, p. 68. 86.

185 Plutarch de Ei apud Delphos 18.

186 Aristot. Rhetor. II, 14.

187 Älian V.H. VII, 20.

188 Ebd. XI, 4.

189 Bergk, Anthol. lyr., p. 8.

190 Ebd. p. 193.

191 Eurip. Diktys, fragm. 1. Ähnlich Theseus, fragm. 5.

192 Lucian, de luctu 15-19.

193 Eurip., Suppl. 1108 der Schluß der Tirade des Iphis, welche auch sonst ein Hauptzeugnis des Pessimismus ist.

194 Aristot. Rhetor. II, 12. 13.

195 Eudoc. Violar. 920. Vgl. Aristoph. Nub. 998.

196 Sophokl., Scyriae fragm. 4.

197 Euripid. Äolos, fragm. 18.

198 Homer, Hymn. in Ven. 245.

199 Älian V.H. II, 34. Er starb neunzigjährig.

200 Valer. Max. VIII, 13, 2.

201 Διὰ φιλοτεκνίαν, Diog. Laert. I, 1, 4. Vgl. Plut. Solon 6.

202 Mullach, fragm. philos. Graec. I, p. 351 ff. – Gegen die Adoption spricht eine Person bei Euripides. Melanippe, fragm. 9.

203 Vgl. C.F. Hermann, Privataltertümer § 11.

204 Über den Brauch der hesiodeischen Landleute (Werke und Tage V. 374) mag sich jeder Leser seine eigenen Gedanken machen.

205 Älian V.H. II, 7. – Vgl. Band I, S. 78.

206 Es ist nicht der Mindestbietende gemeint.

207 Plutarch εἰς Ἡσίοδον ὑπομνήματα, § 28.

208 Vgl. jedoch die Aussagen des Polyb. (fragm. I. XXXVII, 4) über das Anwachsen von Familienlosigkeit und Kinderlosigkeit zu seiner Zeit.

209 De amore prolis. 5. – Vgl. die verarmten römischen Bürger schon zur Zeit der Gracchen, Plut. Tib. Gracch. 8.

210 Von den alten Persern erfahren wir, daß sie ihre Kinder nicht vor dem siebenten Jahre sehen wollten.

211 Bergk, Anthol. lyr., p. 194.

212 Bei Heraklid. Pont. irrtümlich: Kos.

213 Euripid. Philoktet fragm. 4.

214 Plutarch, de mulierum virtt. 17. – Vgl. Parthenios c. 9. – Wir erklären nicht ganz wie Plutarch.

215 Weitere Angaben über die Thraker bei Pompon. Mela II, 2.

216 Strabo XI, p. 520.

217 Cicero, Tuscul. quaest. I, 39: »Wenn ein kleiner Knabe stirbt, trägt man es gefaßt; den Tod eines Wiegenkindes beklagt man nicht einmal.« – Über Unwert und Schmerz des Daseins u.a. Plin. H.N. VII, 41. 44. (das Glück des Sulla). 46 (das Glück des Augustus). 51 die Hauptstellen. 54 mortes repentinae, hoc est: summa vitae felicitas. 56 Nichtigkeit der Fortdauer nach dem Tode.

218 Babrios, fab. 25.

219 Stobäos, ed. Meineke vol. III, p. 232.

220 Unter den Grabschriften der Anthologie Nr. 339.

221 Zitiert schon bei Plato Gorg., p. 492 e. – Vgl. die Fragmente des Euripides s.v. Polyidos und Phrixos.

222 Μύϑοις δ᾽ ἄλλως φερόμεσϑα. – Vgl. auch Phönix, fragm. 9.

223 Nachhom. Theologie, S. 394.

224 Privataltertümer § 61, 25 f.

225 Strabo X, p. 486. – Heraklid. Pont. (bei Anlaß von Kos, was jedoch, wie früher bemerkt, für Keos verschrieben ist). – Älian V.H. III, 37. – Plutarch, de mulierum virtt. 12. – Valer. Max. II, 1.

226 Ähnliches glaubte man von den Hyperboreern (Pompon. Mela III, 5, offenbar aus alter Quelle). Dieselben sprangen bekränzt von einem Fels ins Meer.

227 Odyss. X, 50. – Auch sonst frägt er nach Leuten, die etwas »erduldet« haben, Odyss. XIX, 344. – Ziemlich mächtig das τόλμα! bei Theognis 1029.

228 Älian V.H. IV, 23.

229 Phädon, p. 68 a.

230 Eudocia Violar. 589. – Cato las im Phädon, bevor er sich tötete. Dio Cass. XLIII, 11.

231 Plutarch, de mul. virtt. 11.

232 Hauptstellen Strabo X, p. 452 und Ptolem. Hephäst. VII (bei Westermann, Mythogr.).

233 Die im Mythus so zahlreichen Fälle des freiwilligen Sterbens für das Heil der Heimat auf einen Götterspruch hin gehören einer ganz andern Anschauung der Dinge an und werden als wirkliche und große Opfer gefeiert. Auch sind es fast immer Jünglinge oder Mädchen, welchen das Leben noch von Wert sein konnte.

234 De re publ. III, p. 407 d.

235 Zitiert bei Plutarch, Consol. ad. Apollon. 15. – Aus römischer Zeit besonders sprechend die Stellen bei Plin. epist. I, 12 und 22.

236 Daß man von Erblindeten den freiwilligen Tod erwartete, vgl. Euripid. Phönix, fragm. 9.

237 Euripid. Archelaos fragm. 28.

238 Plutarch, de mul. virtt. 2. – Pausan. X, 1, 3. – Diese ἀπόνοια ist es, welche wir nach der Schlacht von Ägos Potamoi bei den belagerten Athenern [den Athenern] vermissen.

239 Diodor XII, 29.

240 Ebd. XVIII, 22.

241 Polyb. XVI, 29-34. Livius XXXI, 17, – Von spätern Ereignissen gehört hierher der Untergang der Xanthier beim Angriff des Brutus, Dio Cass. XLVII, 34 und besonders Plut. Brut. 31, wo auch auf die frühere ähnliche Tat der Xanthier im Kampfe gegen die Perser hingewiesen wird.

242 Diodor XX, 21. Polyän. VIII.

243 Strabo XIV, p. 671.

244 Dio Cass. XXXVII, 13.

245 Plut. Ant. 71. Ausmalung vorbehalten!

246 Älian V.H. XIII, 36.

247 Euripid. Helena 297.

248 Plut. de mul virtt. 15. Die ganze Erzählung ist höchst bezeichnend für diese Zeiten.

249 Fragmenta incerta 36.

250 So z.B. dem Wächter, Antigone 439.

251 Diodor XX, 34.

252 Plut. Kleom. 31. Vgl. 29 und 37.

253 Plut. Ämil. 34.

254 Polyb. XXX, 7. 8.

255 Polyb. XL, 3.

256 Vgl. Euxitheos bei Athen. IV, 45.

257 Xenoph. Apol. Socr., bes. § 9, 14, 23. – Plato Kriton, p. 45-46 a.

258 Diog. Laert. VI, 1, 18. 19.

259 Wogegen die Aussage Älian V.H. VIII, 14 zurückstehen muß. – Metrokles erstickte sich in hohen Jahren. Diog. Laert. VI, 95.

260 Diog. Laert. II, 18, 17.

261 Laut Suidas, bei Westermann, Biogr., p. 421, starb er Hungers, indem er täglich weniger Speise zu sich nahm.

262 Seneca legt es, de providentia cap. 6, seinen Lesern ganz besonders nahe.

263 Εἰς ἑαυτόν, IX, 3. Vgl. X, 8.

264 Ebd. V, 29.

265 Suidas bei Westermann, Biogr., p. 361.

266 Ebd. p. 349.

267 Vgl. Pausan. VI, 8, 3 die des Athleten Timanthes.

268 Vgl. u.a. Pausan. VIII, 2, 2.


Anmerkungen: A1 Oeri: dann. A2 Oeri: Angriffe. A3 Oeri: aber. A4 Oeri: Völkern geübten. A5 Oeri: erwache. A6 Oeri: reiche. A7 Oeri: bereits abgehärtet. A8 Oeri: Griechenland. A9 Oeri: distinguiert. A10 Oeri: achte. A11 Oeri: dies. A12 Oeri: wieder ähnliche. A13 Oeri: Anschauungen. A14 Oeri: der. A15 Oeri: worden: Gesundheit. A16 Oeri: erneuter. A17 Oeri: Zeit. A18 Oeri: Hofe. A19 Oeri: den drei Tragikern. A20 Oeri: ausgesuchtesten. A21 Oeri: manchem. A22 Oeri: Gemüter Stimmung. A23 Oeri: bildete. A24 Oeri: weil die Nation. A25 Oeri: enthüllten. A26 Oeri: gewaltigen. A27 Oeri: damals schon. A28 Oeri: niedrigsten. A29 Oeri: Höflichkeit. A30 Oeri: bloß. A31 Oeri: das. A32 Oeri: platonischen. A33 Oeri: vor. A34 Oeri: oft. A35 Oeri: dürfte gewiß. A36 Oeri: Sinnesart. A37 Oeri: reichliches. A38 Oeri: über die. A39 Oeri: diese zum. A40 Oeri: als bei. A41 Oeri: und. A42 Oeri: einige. A43 Oeri: genauere. A44 Oeri: gierigen Zügen. A45 Oeri: Sachlage unerwünscht. A46 Oeri: sollen. A47 Oeri: seine. A48 Oeri: öffentlichen. A49 Oeri: Schicksal.

Quelle:
Jakob Burckhardt: Gesammelte Werke. Darmstadt 1956, Band 6.
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