Allgemeine Wehrpflicht. Leudes


Allgemeine Wehrpflicht. Leudes.

[425] Die Konstruktion von WAITZ, daß die Wehrpflicht im Frankenreiche einen dinglichen Charakter gehabt und am Grundbesitz gehaftet habe, ist von ROTH in den beiden Werken »Geschichte des Benifizialwesens« (1850) und »Feudalität und Untertanenverband« (1863) widerlegt. Vgl. BRUNNER, D. Rechtsgeschl, II, 203 und RICH. SCHRÖDER, Lehrbuch d. D. Rechtsgesch., S. 151. Aber die, auch von der späteren Forschung akzeptierte Auffassung Roths, daß die allgemeine Pflicht nicht bloß als ein prinzipielles Recht aufgefaßt, sondern auch praktisch gehandhabt worden sei, ist aus den oben ausgeführten militärischen wie statistischen Gründen nicht haltbar. ROTH, Bef W., S. 200 und 202, geht tatsächlich so weit zu meinen, daß wenigstens bei inneren Fehden der Könige untereinander »das allgemeine Aufgebaut nicht nur rechtlich, sondern auch faktisch in Anspruch genommen wurde«. Rechnet man auf das Teilgebiet eines Königs, das hier in Betracht kommt, 3000 Quadratmeilen und auf die Quadratmeile nur 100 kriegsfähige Männer, so ergäbe das schon Heere von 300000 Mann und bei 150 kriegsfähigen Männern, was der Wirklichkeit noch näher kommen dürfte, 450000 Mann. Reduziert man nun aber auch das faktische Aufgebot noch so sehr, so daß Zahlen von vorstellbarer Möglichkeit herauskommen – ein Aufgebot von Grundbesitzern oder sonstigen Vermöglichen[425] Leuten ohne jede militärische Erziehung bleibt immer eine militärische Unmöglichkeit. Da es an den disziplinierten Körpern eines stehenden Heeres fehlt, so ist es militärisch schlechthin notwendig, zunächst in den romanischen Gebieten einen Stand von Kriegern anzunehmen, in dem sich die kriegerischen Eigenschaften fortbilden und fortpflanzen, und diese Annahme ist denn auch mit den Quellenzeugnissen nicht nur vereinbar, sondern läßt sich auch aus ihnen, sobald man einmal die richtige Interpretation gefunden hat, direkt herauslesen.

Gregor von Tours erzählt uns V, 27 und VII, 42, wie Angehörige seiner Kirche in Strafe genommen worden seien, weil sie dem Befehl, auszurücken, nicht Folge geleistet. V, 27 lautet: »Chilpericus de pauperibus et junioribus ecclesiae vel basilicae bannos jussit exigi pro eo quod in exercito non ambulassent. Non enim erat consuetudo, ut hi ullam exsolverent publicam functionem«. VII, 42 lautet: »edictum a judicibus datum, ut qui in hac expeditione tardi fuerant, damnarentur. Biturigum quoque comes misit pueros suos, ut in domo S. Martini, quae in hoc termino sita est, hujusmodi homines spoliare deberent. Sed agens domus illius resistere fortiter coepit, dicens: S. martini homines ii sunt; nihil quicquam inferatis injuriae; quia non habuerunt consuetudinem, in talibus causis abire. At illi dixerunt: Nihil nobis et Martino tuo, quem semper in causis inaniter profers, sed et tu et ipso pretia dissolvetis, pro eo quod regis imperium neglexistis. Et haec dicens ingressus est atrium domus«.

Aus diesen beiden Stellen hat ROTH, S. 186, die allgemeine Wehrpflicht gefolgert. Ausfluß einer besonderen Dienstpflicht der Kirchen kann das Aufgebot nicht gewesen sein; dem widerspricht der Wortlaut, und auch sonst ist eine derartige Dienstpflicht der Kirchen mit den Quellen nicht vereinbar. Auch um den Ausnahmefall des allgemeinen Aufgebots gegen Invasion handelt es sich nicht, denn das eine Aufgebot bezieht sich auf einen Angriffskrieg gegen die Britannen. Also haben wir hier, schließt Roth, die allgemeine Heerpflicht aller Freien, ohne Unterschied der Nationalität, »denn wer wird in den pauperes ecclesiae nur Franken oder gar Leudes sehen wollen?« So lange man sich unter den Leudes entweder Gefolgsmänner oder Gutsbesitzer vorstellte, war das allerdings nicht wohl möglich, aber so wie wir jetzt die Leudes charakterisiert haben, steht durchaus nichts mehr im Wege. Es ist von vornherein zu vermuten, daß die Kirche von Tours zu ihrem eigenen Schutz eine Anzahl Franken und Streitäxten in ihren Dienst genommen habe. Durch diesen Dienst waren sie aber nach Ansicht des Königs und seines Grafen ihrer Aufgebotspflicht nicht enthoben und sollten herangezogen werden. In keiner Weise gehört es zum Begriff der Leudes, daß sie mit Eigentum ausgestattet seien, und auch die Kirche von Tours hatte ihren Privatkriegern wohl vermutlich eine gute Besoldung und Verpflegung, aber keinen Grundbesitz versprochen und gegeben. Der Chronist des heiligen Martin konnte sie also sehr wohl als »pauperes«[426] bezeichnen und mag auch darin recht haben, daß es schon nicht mehr »Gewohnheit« gewesen sei, sie zu auswärtigen Kriegern einzuberufen.

WAITZ, D. V. II, 527, führt andere Stellen aus Gregor an, aus denen hervorgeht, daß der Autor unter »pauperes« nur Leute geringen Standes, keineswegs Almosenempfänger, versteht; in einer Erzählung Gregor X, 9, sind sie sogar im Besitz von Pferden.


Quelle:
Hans Delbrück: Geschichte der Kriegskunst im Rahmen der politischen Geschichte. Berlin 1921, Teil 2, S. 425-427.
Lizenz: