Drittes Kapitel.

Der Verfall der ursprünglichen germanisch-romanischen Kriegsverfassung.

[442] Die Reiche der Vandalen und Ostgoten haben keinen langen Bestand gehabt; daß das Reich Geiserichs dem bloßen Zugreifen der Oströmer erlag, während die Erben Theoderichs wenigstens achtzehn Jahre lang gekämpft haben, wird daher führen, daß die Vandalen bereits ein halbes Jahrhundert länger in den neuen Verhältnissen lebten, ihre nordische Kriesgskraft der Sonne der Zivilisation ausgesetzt hatten. Daß die Westgoten, ebenfalls schon sehr bedroht, endlich doch die Krisis überstanden und ihr Reich und ihre Selbständigkeit behauptete, werden sie mehr ihrer geographischen Lage, als innerer größerer Kraft zu verdanken haben. Als aber nach 150 Jahren ein neuer starker Feind, der Islam, nahte, sind sie einem einzigen Schlage erlegen und sofort völlig zusammengebrochen.

Die Quellen setzen uns instand, den Verfall ihrer Kriegsverfassung zu verfolgen; was wir da sehen, braucht aber nicht als etwas spezifisch Westgotisches angesehen zu werden, sondern ist der natürliche und notwendige Lauf der Entwicklung, der allen germa nisch-romanischen Staaten hätte gemeinsam sein müssen, wenn nicht die einen schon vorher zugrunde gegangen, das andere, noch übrig bleibende, das Frankenreich, eine andere, ganz neue staatsrechtliche Form erzeugt hätte.

Die Zersetzungs-Erscheinungen zeigen sich schon sehr bald nach der Ansiedlung und sind schon oben bei dieser im ersten Kapitel berührt worden. Die über das weite Land zerstreuten Goten sind nicht zum Heeresdienst zusammenzubringen; der König, die Herzöge und Grafen, die Großgrundbesitzer, endlich auch die hohen[442] Geistlichen halten sich eigene Kriegsleute, die Buccellarier. Eine Zeitlang geht Beides nebeneinander her: das allgemeine Volksaufgebot der Goten und die privaten Söldner der Großen; wie sehr jenes aber herabgesunken ist, erkennt man dann, daß der alte Tausendschaftsführer, der Thiuphad, jetzt zu den Personen niederen Standes gehört, dann im Gesetz Stockprügel angedroht werden, wenn er seinen Dienst nicht richtig versieht. Viele Goten werden unkriegerisch; dafür treten Römer, unter denen es natürlich auch immer wieder kriegsgeeignete Gesellen gibt, ein in die Kriegerschaft.

Über den Fortgang dieser Entwicklung sind wir unterrichtet durch Reformversuche, die noch kurz vor dem Untergang unternommen sind und zu Gesetzen geführt haben unter den Königen Wamba (672 bis 680) und Erwig (680 bis 687), die uns erhalten sind.

Das Gesetz Wambas vom Jahre 673 beginnt mit beweglichen Klagen, daß bei einem Einfall der Feinde so viele sich der Pflicht der Vaterlandsverteidigung entziehen und keiner dem andern helfe. Von jetzt an solle aber jedermann, Geistlicher wie Laie, sobald er angerufen würde, bis zu 100 Meilen (150 Kilometer) Entfernung, mit seiner Mannschaft (virtus) helfen. Wer es nicht tue, dem werde die härteste Strafe, Verbannung, Ehrlosigkeit, Schadenersatz, Vermögenskonfiskation angedroht.

In dem Gesetz Erwigs vom Jahre 681 wird ebenfalls begonnen mit Klagen über die Leute, die lieber reich sein wollen als stark, mehr für ihr Vermögen sorgen als für ihre Übung in den Waffen, und sich einbilden, sie könnten die Früchte ihrer Arbeit genießen, wenn sie aufhören, siegreich zu sein. Darum soll das Gesetz diejenigen zwingen, die sich durch den eigenen Vorteil nicht leiten lassen, und jedermann soll dem Aufgebot zum Kriege Folge leisten, wann und wo es sei. Wer das nicht tue, verfalle, wenn ein vornehmer Mann, dem Urteil des Königs; sein ganzes Vermögen könne ihm genommen, die Verbannung über ihn verhängt werden. Dem gemeinen Mann aber, vom Thiufas abwärts, werden 200 Prügel angedroht; dazu soll er zum Schimpf kahl geschoren werden und ein Pfund Gold Strafe zahlen, oder, wenn er soviel nicht hat, verknechtet werden. Der[443] Aufgebotene soll nicht nur für seine Person kommen, sondern auch den zehnten278 Teil seiner Knechte gut bewaffnet mitbringen. Stellt sich heraus, daß er weniger als den vorgeschriebenen zehnten Teil hat, so verfallen die fehlenden dem König, der sie verschenken kann, an wen er will. Die königlichen Beamten werden noch besonders darauf hingewiesen, daß auch sie mit den Strafen dieses Gesetzes bedroht seien, und für Bestechung wird Strafe festgesetzt.

In beiden Gesetzen wird der Fall der Entschuldigung durch Krankheit vorgesehen; die Krankheit soll durch einen geeigneten Zeugen festgestellt, und wenn der Herr wirklich nicht selbst ausziehen kann, doch die Mannschaft geschickt werden. Ein späterer Codex hat hier noch den wohl späteren, sehr charakteristischen Zusatz, daß die Krankheit durch einen Inspektor des Diözesan-Bischofs eidlich bezeugt sein müsse, sonst würde man sie nicht glauben.

Der hauptsächlichste Unterschied zwischen diesen beiden Gesetzen ist, daß das erste sich nur auf den Fall der Landesverteidigung, sei es gegen einen äußeren Feind, sei es gelegentlich einer Empörung, bezieht. Das zweite mildert das erste insofern, als es die Strafe der Ehrlosigkeit und der Zeugnisunfähigkeit, die das erste ausspricht, wieder aufhebt und zurücknimmt, dafür aber nicht bloß das Aufgebot zu unmittelbarer Landesverteidigung, sondern das Aufgebot überhaupt ins Auge faßt und regeln will.

Dahn279 sieht die Gesetze als eine wirkliche Heeresreform an, deren wesentlichster Inhalt neben der Strafverschärfung und Kontrolle in der Ausdehnung der Wehrpflicht auf die Unfreien bestehe. Das ist dem Wortlaut nach richtig; der Sache nach bedeutet die völlig unorganisierte Ausdehnung der Verpflichtung auf unabsehbare Massen den Bankerott der Gesetzgebung.

Dem Wortlaut nach scheinen sich die Gesetze zuweilen an das ganze Volk zu wenden: ungeheure Massen von Männern hätten danach zusammenkommen müssen. Dann aber zeigt wieder die Vorschrift über die mitzunehmende Mannschaft und die Knechte, daß der Gesetzgeber an die großen Massen gar nicht gedacht,[444] sondern wesentlich nur große Besitzer im Auge hat. Wer auch ausziehe, heißt es, sei er Herzog, Graf, Garding (d.h. Gefolgsmann des Königs), Gote oder Romane, Freier oder Freigelassener oder Königsknecht, der soll den zehnten Teil seiner Knechte mitbringen. Wozu hätte man der Menge der bewaffneten Knechte bedurft, wenn man wirklich auch nur auf einen respektablen Teil des Volkes gerechnet hätte? Ebendahin gehört auch die Ausdehnung der Waffenpflicht auf die Geistlichen: sie sollen nicht etwa selbst kämpfen, sondern ihre Mannschaft stellen.

Der Zustand war offenbar der, daß der ursprüngliche Kriegerstand der Goten sich im Laufe der 250 Jahre eingebürgert und seine kriegerischen Neigungen abgeschliffen und eingebüßt hatte. In der Atmosphäre der Zivilisation schmolz mit der Barbarei auch die kriegerische Kraft.

Die Vorstellung, daß ein Kriegerstand vorhanden sei, existiert noch, aber sie ist nicht mehr realisierbar. In unbestimmter Weise schiebt sich an seine Stelle ein Großgrundbesitzertum, das sich riesige Knechte hält. Indem der Gesetzgeber sich scheinbar und dem Wortlaute nach an eine Volksmenge wendet, die weder geneigt noch befähigt ist, Schlachten zu schlagen, appelliert er in Wirklichkeit an den guten Willen einer Aristokratie. Von irgend einem Organismus, das Heer im Felde zu unterhalten, ist nicht die Rede. In der sich aufdrängenden Erkenntnis, daß der alte Gotenkrieger ausgestorben, und daß der einzelne Bürger oder Bauer nicht imstande ist, plötzlich in weite Fernen ins Feld zu ziehen, befiehlt man den großen Herren, Geistlichen wie Laien, Mannschaften zu stellen und ihre Knechte mitzunehmen. Diese Besitzer wären wenigstens in der Lage gewesen, ihre Leute auszustatten und zu verpflegen, aber beliebige Untertanen und Knechte sind noch keine brauchbaren Krieger. Selbst wenn es denkbar wäre, daß die Strenge des Gesetzes und eine überaus energische Verwaltung die Zahl der Männer wirklich zusammenbrächte, die Brauchbarkeit der Waffen und das Quantum der mitgebrachten Verpflegung kontrollierte, so fehlte doch die Hauptsache: die Garantie der kriegerischen Tüchtigkeit.

Als richtiges Zeichen der Schwäche, sucht man den Mangel jeder brauchbaren Organisation und jeder wirklichen Wehrverfassung[445] zu ersetzen durch einen Schwall von patriotischen und moralischen Redewendungen und durch eine Häufung von Strafandrohungen, die um so weniger wirksam sein konnten, als gerade ihre Ungeheuerlichkeit verbürgte, daß sie nicht ausgeführt werden würden.

Gewiß war die kriegerische Kraft in den Enkeln Frithigerns und Alarichs nicht völlig erloschen, so wenig wie sie auch unter den Romanen je völlig ausgestorben war. Es wurden ja fortwährend Kriege geführt, innere wie äußere. Jenes Institut der Buccellarier, kriegerischer Gefolge, die die einzelnen Großen sich hielten, muß immer noch fortgedauert haben, aber eine wirkliche, kräftig funktionierende Landeswehrverfassung ist nicht mehr vorhanden.

Kein Wunder, daß dreißig Jahre nach Erlaß dieses Gesetzes das Westgotenreich fiel, wie einst das der Vandalen, durch einen einzigen Schlag.


Quelle:
Hans Delbrück: Geschichte der Kriegskunst im Rahmen der politischen Geschichte. Berlin 1921, Teil 2, S. 442-446.
Lizenz:

Buchempfehlung

Anonym

Li Gi - Das Buch der Riten, Sitten und Gebräuche

Li Gi - Das Buch der Riten, Sitten und Gebräuche

Die vorliegende Übersetzung gibt den wesentlichen Inhalt zweier chinesischer Sammelwerke aus dem ersten vorchristlichen Jahrhundert wieder, die Aufzeichnungen über die Sitten der beiden Vettern Dai De und Dai Schen. In diesen Sammlungen ist der Niederschlag der konfuzianischen Lehre in den Jahrhunderten nach des Meisters Tod enthalten.

278 Seiten, 13.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für den zweiten Band eine weitere Sammlung von zehn romantischen Meistererzählungen zusammengestellt.

428 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon