1708.

[368] Marlboroughs Sieg bei Ramillies 1706, in einer großartigen Verfolgung ausgenutzt, hatte Belgien in die Hand der Seemächte gegeben. Aber 1707 hatte keine weitere Verschiebung gebracht und 1708 gewannen die Franzosen mit Hilfe der Einwohner, die gegen die holländische Verwaltung erbittert waren, Brügge und Genf zurück. Auch ein Sieg, den Marlborough in einem glücklichen Anfall (11. Juli 1708) bei Oudenaarde erfocht416, änderte nicht viel. Zwar schlug der englische Feldherr jetzt vor, in das Innere Frankreichs einzudringen, was sogar als die Absicht eines Angriffs auf Paris ausgelegt worden ist, aber schon Eugen erklärte sich dagegen, die Holländer wären dafür auf keinen Fall zu haben gewesen, und Marlborough in demselben Brief an seinen Freund,[368] Lord Godolphin, worin er das mitteilt (26. Juli)417, malt aus, wie aussichtslos ein Vorgehen auf Paris sein würde: die Landeseinwohner würden sich mit ihren Habseligkeiten in die festen Plätze flüchten, man würde in eine Wüste kommen und in schachbrettförmig aufgebaute Festungsreihen geraten. »Könnte ich nur das feindliche Heer zum Raufen hervorlocken!« Der Hauptvorteil des Sieges von Oudenaarde sei die moralische Erschütterung des feindlichen Heeres gewesen.

Trotz ihrer Niederlage behaupteten also die Franzosen Flandern und hielten sich in Brügge und Gent, und die Alliierten, außer Stande, sie dort in ihren Befestigungen anzugreifen, beschlossen, Lille zu belagern, ließen also die französische Hauptarmee, so zu sagen, hinter sich. Bis tief in den Winter zog sich die Belagerung der Stadt, und nach dem Falle der Stadt noch der Zitadelle hin. Die gewaltige französische Armee kam angerückt, marschierte rings um die Belagerer herum, um eine Angriffsstelle zu finden, fand aber schließlich die Verschanzungen, durch die sich die Belagerer gedeckt hatten, die Zirkumvallationslinie, unangreifbar. Auch die wiederholten Versuche, durch Abfangen der Zufuhrtransporte die Aufhebung der Belagerung zu erzwingen, mißglückten, und als Lille gefallen war, gewannen die Alliierten auch Flandern mit Gent und Brügge zurück.

Der Akzent des Feldzuges liegt durchaus auf der glücklich durchgeführten Belagerung, nicht der voraufgehenden Feldschlacht, die ganz falsch eingeschätzt ist, wenn man an ihr hervorhebt, daß sie mit verkehrter Front geschlagen sei, also auf eine unbedingte Entscheidung angelegt gewesen sei. Obgleich unzweifelhafter Sieger und obgleich noch die Armee des Prinzen Eugen im Anzuge und schon nahe war; obgleich er auch gern noch einmal geschlagen hätte, fühlte Marlborough sich weder sofort noch später fähig, eine Entscheidung unter allen Umständen zu erzwingen und den taktischen Erfolg zur Vernichtung der feindlichen Armee auszunutzen. Wir haben es mit einem Feldzug der Ermattungsstrategie im großen Stil, mit höchstem Aufgebot der Kräfte auf beiden Seiten zu tun. Die Alliierten gewannen ihn wieder durch die Führung, die Einigkeit zwischen Marlborough und Eugen auf der einen Seite, die Uneinigkeit[369] der französischen Feldherren, des Thronerben, des jungen Herzogs von Burgund, dem der Marschall Vendome an die Seite gesetzt war, zu denen dann als dritter, wiederum selbständiger Führer, noch der Herzog von Berwick trat. So mußte immer wieder die Entscheidung des Königs eingeholt werden, ja dieser verlangte ausdrücklich, daß »kein wichtiger Entschluß gefaßt« werde, ohne seine Befehle einzuholen. Das setzt eine Langsamkeit der Entwickelung voraus und erzwingt selber wieder eine solche Langsamkeit, daß sie die Herausforderung großer Entscheidungen nahezu ausschließt und so den Alliierten die Durchführung ihrer Belagerung trotz der Nähe der sie umlauernden feindlichen Hauptarmee ermöglichte. Nicht Schlachten, sondern Stellungen und Feldbefestigungen entscheiden, ohne daß es zum Kampfe kommt.


Quelle:
Hans Delbrück: Geschichte der Kriegskunst im Rahmen der politischen Geschichte. Berlin 1920, Teil 4, S. 368-370.
Lizenz: