9. Die letzten Lebensjahre.

[65] Die steigende Anerkennung und Verehrung, deren sich Graetz aus den Kreisen seiner zahlreichen Leser und Bewunderer, aus der wachsenden Zahl seiner aufblühenden Schüler und Freunde zu erfreuen hatte, war nicht ganz ohne Trübung geblieben. 1879 wurde der leicht entzündliche Judenhaß in Deutschland als antisemitische Bewegung wieder entfesselt, um ein sicher wirkendes politisches Agitationsmittel zur Verfügung zu haben. Heinrich von Treitschke, ein mehr patriotisch erglühter, als Wort und Wahrheit sorgsam wägender Historiker, ein Publizist von eindringlich rednerischem Pathos und glänzender Stilbegabung, trat bald als Rufer im Streit dabei hervor. Er skandalisierte sich über den Geist der Überhebung, der neuerdings in jüdischen Kreisen erwacht sein und eine Gefahr für das deutsche Reich bedeuten sollte, und exemplifizierte dabei auf Graetz, der in seiner Polemik gegen das Christentum angeblich kein Maß halte und über die deutsche Nation in seiner Geschichte sich ganz respektlos äußere.39 Graetz erwiderte und Treitschke widmete ihm einen Artikel,40 in welchem er seine [65] Behauptung unter Beweis zu stellen suchte, wobei er die angeführten Stellen meistenteils aus dem Zusammenhang löste und es an Sophismen nicht fehlen ließ. Die Führer der jüdischen Intelligenz in Berlin mochten die Tragweite dieser Bewegung unterschätzt haben, keinesfalls waren sie über die Mittel sich klar, um der immer höher anschwellenden Flut zu begegnen; die Ausfälle Treitschkes wollte man jedoch nicht unerwidert lassen, weil man in ihnen mehr als bloß die Auslassungen eines Professors zu vermuten Grund hatte. Daraufhin ließ der als nationalökonomischer Schriftsteller bekannte, als lauterer und edler Charakter hochgeschätzte H. B. Oppenheim sich verleiten, auf die herausfordernden Inkriminationen Treitschkes ohne weitere Prüfung Graetz', dessen Schriften er eingestandenermaßen gar nicht recht gelesen hatte, über Bord zu werfen und ihn »als einen taktlosen und zelotisch einseitigen Mann, dessen große Gelehrsamkeit durch die Absurdität seiner Nutzanwendungen um ihren ganzen Segen gebracht wird«, abzutun.41 Diese eigentümliche Verteidigungsweise des Judentums hatte einen geradezu tragikomischen Eindruck gemacht und hatte zwar niemanden tief aufgeregt, aber sie erwies sich als symptomatisch für die Gesinnung und Denkweise der geistigen Notabilitäten der damaligen Berliner Judenschaft.

Eine Verkennung und Unterschätzung der Bedeutung, die Graetz als Historiker unstreitig gewonnen hatte, trat dann auch in bedauerlichem Maße zu Tage, als bei der Bildung der vom deutsch-israelitischen Gemeindebund ins Leben gerufenen historischen Kommission zur Herausgabe von Quellen der Geschichte der Juden in Deutschland (1885) gerade Graetz übergangen und völlig ignoriert wurde. Den verdientesten Historiker, den das Judentum zur Zeit aufzuweisen hatte, durfte man nicht schlechtweg ausschließen; man durfte nicht vergessen, daß Graetz auf diesem Arbeitsfeld jedenfalls am meisten heimisch war, und daß er besser und genauer als jeder andere alle Probleme und Desiderien, die in Betracht kamen, kannte. Wenn auch die Kommission aus hochangesehenen Gelehrten zusammengesetzt war, so gab es in ihr doch keinen, der die für diese Zwecke unentbehrliche Kenntnis des jüdischen Schrifttums in dem Maße und in dem Umfange wie Graetz besaß, und keinen, der die Beherrschung dieses Arbeitsgebietes durch[66] namhafte Arbeiten so nachweisen konnte, wie Graetz. Die Ergebnisse der durch die Kommission veranlaßten Arbeiten stehen denn auch in keinem Verhältnis zu den großen Erwartungen, die man anfangs an sie geknüpft hatte.

Was von Berlin aus oder anderwärts an Rücksichtslosigkeit gegen Graetz gesündigt wurde, griff ihm keineswegs tief ins Herz und wurde vollends durch London ausgeglichen, als er von dort im Sommer 1887 die ehrenvolle Einladung erhielt, die englisch-jüdische Ausstellung historischer Sehenswürdigkeiten mit einer Vorlesung zu eröffnen. Die Ehrungen, die ihm in der englischen Hauptstadt bereitet wurden, die Menschen, die er kennen lernte, die Eindrücke, die er empfing, all dies hat seine Seele wohltuend erfrischt und hoffnungsvoll gestimmt, gehörte zu seinen schönsten und glücklichsten Erlebnissen und bestärkte ihn in der schon früher öfters von ihm ausgesprochenen Hoffnung, daß von England und Amerika dem Judentum neues Heil erblühen werde. Als er am 31. Oktober 1887 das siebzigste Lebensjahr erreicht hatte, beeilten sich nicht bloß seine Schüler und Freunde, ihm den Jubeltag zu einer großartigen Ovation zu gestalten, aus allen Erdteilen und Himmelsstrichen liefen Huldigungen ein, eine überwältigende Flut von Adressen, Ehrengaben, Glückwünschen und Gedichten aus den verschiedensten Ländern bewies, wie allgemein seine Würdigung und Verehrung in der gesamten gebildeten Judenschaft durchgegriffen hatte. Als eine besonders erfreuliche Überraschung hat es ihn mit stolzer Genugtuung erfüllt, als die spanische Akademie zu Madrid ihn, den Juden, der in seiner Geschichtsdarstellung mit der spanischen Nation gar nicht glimpflich ins Gericht gegangen war, am 27. Oktober 1888 zu ihrem Ehrenmitglied in der historischen Abteilung ernannte.

Wunderbar war bis zuletzt die Frische und Elastizität seines Körpers und Geistes, an welcher die Jahre fast spurlos vorüberzugehen schienen und ebenso erstaunlich seine unverwüstliche, außerordentliche Arbeitskraft, wie seine schriftstellerische Fruchtbarkeit. Selbst als er bereits seine volle Kraft auf die exegetischen Arbeiten konzentriert hatte, ermüdete er nicht, die überall zerstreuten, in allen Kultursprachen auftauchenden Forschungen, welche der jüdischen Wissenschaft galten oder irgend welche, sei es noch so entfernte, Beziehungen zu ihr aufwiesen, mit gespannter Aufmerksamkeit zu verfolgen, [67] dieselben auf ihre Resultate sorgfältig zu prüfen und die gewonnenen Ergebnisse immerdar zur Bereicherung und Berichtigung einer neuen Auflage seiner Geschichte zu verwerten oder, wenn es ihm genügend wichtig dünkte, in einem besonderen Aufsatze niederzulegen. Denn außer seinen geschichtlichen und exegetischen Werken, welche schon durch ihre stattliche Zahl wie durch ihren äußeren Umfang überaus bedeutsam erscheinen, hat er nebenhin zahllose Abhandlungen und Programmarbeiten über die verschiedensten Themata veröffentlicht. Unter den Aufsätzen gibt es wahre Perlen, Muster von stilistischer Klarheit und gründlicher Gelehrsamkeit, in manchen kommen allerdings gewagte Behauptungen zum Vorschein; als eine derartige Aufstellung, an der er stets festhielt, sei hier beispielsweise aufgeführt, daß die Massorah von den Karäern herrühre und aus ihrem Schrifttum zu uns herübergedrungen sei; eine Hypothese, über welche man sich mehr emphatisch entrüstet hatte, als daß man sie durchschlagend widerlegte, und für welche manches verdächtige Anzeichen spricht. Von seinen Programmschriften seien als besonders wertvoll hervorgehoben: »Die westgothische Gesetzgebung in betreff der Juden« zum Jahresbericht des jüdisch-theologischen Seminars 1858, »Frank und die Frankisten« zu 1868, »Das Königreich Messena und seine jüdische Bevölkerung« zu 1879. In der Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums, deren Redaktion er, wie bereits angegeben, von 1869 bis Ende 1887 führte, stammt der größte Teil der darin enthaltenen Aufsätze von seiner Feder her.

Er verstand es eben merkwürdig, seine Zeit ganz und gar auszukaufen. Jeder Morgen fand ihn schon um 5 Uhr vor seinem Schreibtisch, und bis 9 Uhr beschäftigte er sich ununterbrochen mit schriftstellerischen Arbeiten; nach 9 Uhr pflegte er seine Vorlesungen aufzunehmen. Er unterhielt eine ausgedehnte Korrespondenz, fand für alles Muße und gab sich gern den harmlosen Freuden heiterer Geselligkeit hin. Freilich suchte er erst spät sein Nachtlager auf und bedurfte überhaupt nur wenig Schlaf. Die kerngesunde, fast unbezähmbare Kraft seines Nervensystems gebot über eine körperliche Konstitution, welche die materielle Grundlage für eine außergewöhnliche Leistungsfähigkeit in vollstem Maße in sich barg. Von Statur mittelgroß, die Haltung etwas vornüber geneigt, besaß er eine [68] gute Muskulatur, welche fettarm und mager, aber sehnig und von einem starken Knochenbau getragen war. Der Kopf, obschon im Gesicht durch Pockennarben etwas beeinträchtigt, machte einen aparten und bedeutenden Eindruck. Die brettartige Stirne trat kantig hervor, über ihr lag nicht gerade dicht jedoch auch nicht spärlich, weiches, kastanienbraunes Haar, das später ergraute. Die graubraunen Augen lugten scharf und spähend aus und verrieten Lebensfreude, eine schmalflügelige, scharf und spitz ausgeprägte und nicht eben kleine Nase gab dem ovalen, starkknochigen Gesicht einen charakteristischen, fühlerartig forschenden Ausdruck, um seine Lippen schien es zumeist wie Wehmut zu spielen, zuweilen aber lagerte über denselben eine Wolke von Spott, Ironie und Angriffslust, als wenn jeden Augenblick sarkastische Worte heraussprühen wollten. In der Tat brachen manchmal spitze Sarkasmen über das Gehege seiner Zähne hervor, im allgemeinen indes blieb die mündliche Unterhaltung weit hinter den Erwartungen zurück, welche seine Feder erregt hatte. Zu glücklicher Stunde war er in jüngeren Jahren für den häuslich vertrauten Kreis voll scherzhafter Worte und lustiger Einfälle, immer aber beseelte ihn eine unbesiegbare Lebenslust und ein glücklicher Optimismus. Inniger Familiensinn beherrschte ihn. Gegen seine Frau bewies er jederzeit eine Zartheit und Aufmerksamkeit, als ständen sie in den Flitterwochen, gegen seine Tochter übte er eine vollendete Ritterlichkeit, gegen seine Söhne war er von hingebender Nachsicht und Opferfähigkeit, sein Verhalten dem greisen Vater gegenüber erinnerte geradezu an die talmudisch-antike Pietät. Mit großer Vorliebe pflegte er seine freundschaftlichen Verhältnisse. Für einen Freund, wie überhaupt für jede Sache, die seine Sympathie besaß, war er jederzeit bereit, voll und ganz einzustehen. Aus Palästina hatte er, von den dortigen Übelständen tief bewegt, den Plan zur Erziehung jüdischer Waisen in Jerusalem auf deutscher Grundlage mitgebracht; zusammen mit seinen Reisegenossen stiftete er einen Verein und bot alles auf, um hierfür einen festen, wenn auch kleinen Grundfonds zu beschaffen. Zu diesem Zwecke unternahm er allerlei Reisen, hielt, so sehr ihm derartiges anfangs widerstrebte, in vielen Städten Vorträge und ging sogar auf eine Einladung nach Galizien, wo er allerdings mit großem Jubel empfangen und mit schmeichelhaften Huldigungen überhäuft wurde. Von [69] solchem Erfolge gehoben, ruhte er nicht eher, bis diesem Verein der noch heute segensreich wirkt, eine gesicherte, wenn auch bescheidene Unterlage bereitet war.

Rüstig und frisch, wie er sich fühlte, hatte er in sei nen letzten Lebensjahren sich noch eine große Aufgabe gestellt, in der er das Fazit seiner bibelkritischen und exegetischen Studien ziehen wollte, für deren Ausführung er von der Gegenwart keinen Dank erwartete, sondern auf die Anerkennung einer späteren Zukunft rechnete. Alle sonstigen Nebenbeschäftigungen ließ er aus diesem Grunde zurücktreten, er stellte sogar 1888 die Herausgabe der »Monatsschrift« ein, da keiner seiner Schüler damals die Redaktion zu übernehmen geneigt war, und ging mit seinem gewohnten Eifer und Ungestüm ans Werk. Um die Resultate seiner langjährigen biblischen Textforderungen in klarer Übersicht zu geben, wollte er einen Abdruck der ganzen hebräischen Bibel mit emendiertem Wortlaut und mit kurzen, die Emendationen des Textes begründenden Anmerkungen veranstalten. 1891 hatte er sämtliche Vorarbeiten hierzu beendet und ging mit dem Druck vor. Wie sehr ihm dieses Lebenswerk am Herzen lag, geht aus dem Prospekt hervor, in dem er sich gegen seine sonstige Gewohnheit mit der Bitte an seine Freunde wandte, sein Bemühen zu unterstützen. »Auf der Neige meines Lebens« – so heißt es daselbst – »habe ich das mühevolle Werk unternommen, die Emendationen des Textes der heiligen Schrift übersichtlich zusammenzustellen, deren Zulässigkeit und Berechtigung nicht nur, sondern auch deren Notwendigkeit der Ihnen gleichzeitig zugehende Prospekt auseinandersetzt ... Ich ersuche Sie, mein Bemühen zu unterstützen ... damit das von mir übernommene Risiko nicht meine Verhältnisse allzusehr übersteige«. Dieser Prospekt erschien im Juli 1891 und war das letzte, was seine rastlose Feder dem Druck übergab. Wiewohl die vorgerückten Jahre ihm eigentliche Beschwerden nicht verursachten, er sich für gesund hielt und sich jedenfalls durchaus kräftig fühlte, war er dennoch vom Alter, ihm unbewußt, ins Innerste getroffen worden; denn sein Herz war schwer angegriffen und erregte die Besorgnis der Ärzte. Wie alljährlich war er, um kleine körperliche Indispositionen zu beseitigen, nach Karlsbad gegangen und hatte vor, von dort einen Abstecher nach München zu machen, um den ältesten seiner Söhne, der eine außerordentliche Professur der Physik [70] an der Münchener Universität inne hatte, zu besuchen und dann mit dessen Familie noch einige Zeit im Bade Reichenhall der Ruhe zu pflegen. Kurz vor der geplanten Abreise nach München befiel ihn in Karlsbad, wo er sich nicht schonte, eine tiefe Ohnmacht, so daß die Ärzte seine Frau dringend zur Rückreise nach Breslau mahnten. Er jedoch hielt diese Vorsicht für übertrieben, erklärte sich wohl schießlich zur Heimkehr bereit, nur die Reise nach München wollte er nicht aufgeben. Daselbst angekommen, wurde er in der Behausung seines Sohnes am Abend vom 6. auf den 7. September von einer heftigen Kolik angefallen. Dieselbe wurde vom Arzt durch Opium beruhigt, so daß er bald hernach zu Schlaf kam. Als seine Frau früh am Morgen sein Befinden beobachten wollte, fand sie ihn leblos im Bette vor, ein Herzschlag hatte in der Nacht zum 7. September 1891 seinem arbeitsvollen und erfolgreichen Leben ein immer noch allzu frühes Ziel gesetzt. Die Leiche wurde nach Breslau übergeführt und drei Tage später auf dem dortigen Friedhofe unter zahlreicher Beteiligung seiner Schüler und allgemeiner Teilnahme zur letzten Ruhe bestattet.

Die Gattin, welche nur noch dem Andenken ihres hochgefeierten Mannes lebte42, hat es als eine Ehrenschuld angesehen, sein letztes Lebenswerk, das im Manuskript fast fertig vorlag, von dem erst einige wenige Bogen durch die Presse gegangen waren, zu Ende zu führen. Professor W. Bacher zu Budapest, ein Schüler von Graetz, der sich durch seine Editionen und Studien zur Geschichte der hebräischen Grammatik und Exegese einen angesehenen Namen erworben, hatte die Redaktion übernommen; derselbe war überdies gezwungen, ein beträchtliches Stück aus den Propheten, welches durch einen unglücklichen Zufall abhanden gekommen war, aus anderweitigen Notizen zu ergänzen. Ein solcher Unstern waltete über [71] diesem textkritischen Bibelwerk, auf welches der verewigte Verfasser gar hohen Wert gelegt; ohne daß er wie sonst während des Druckes beständig die nachbessernde Hand anlegen konnte, mußte das Buch als ein unvollständiges, weil nachgelassenes, erscheinen unter dem Titel: Emendationes in plerosque Sacrae Scripturae Veteris Testamenti libros secundum veterum versiones nec non auxiliis criticis caeteris adhibitis. Ex relicto defuncti auctoris manuscripto edidit Guil. Bacher. 3 Th. Breslau 1892 bis 1894. Der hebräische Wortlaut der Bibel wird freilich kühn und subjektiv behandelt, immerhin bleibt erst einer spätern Zukunft die richtige Würdigung vorbehalten, wie weit die kritische Sichtung des Bibeltextes durch seine Forschungen auch wirklich gefördert worden; denn darüber kann kein Zweifel bestehen, Graetz war ebenso wie auf historischem, auch auf exegetischem Gebiete ein Meister, dessen Anregungen selbst dort, wo er irrt, immer noch wertvoll bleiben.

Einst wird die Zeit kommen, wo man uns um das Große und Herrliche beneiden wird, dessen wir uns von Angesicht zu Angesicht erfreuen durften. Man wird freilich nicht an den Schmerz und die Trauer denken, womit wir es unvermutet und unvermittelt aus unserer Mitte haben scheiden sehen. Noch weniger wird man die Selbstvorwürfe ahnen, die sich nachträglich bei uns eingestellt, daß wir häufig ein schärferes Auge für die kleinen Schwächen und Unzulänglichkeiten hatten, welche jeder menschlichen Existenz anhaften, als daß wir ein williges und verständnisvolles Ohr für die Anregungen, Intuitionen und Aufschlüsse zeigten, die uns jederzeit wie aus einem immer stärker sprudelnden Quell zur Verfügung standen. Die schönsten Blüten jedoch, die sein Geist getragen, die besten Früchte, die sein Leben gereift, sind in seinen Schriften niedergelegt, jedem zugänglich und jedem verständlich, der lesen will. Ein Prophet in seiner Art, hat er den Schleier der jüdischen Vergangenheit gelüftet und ihrer Stimme für alle Zukunft lebendigen Klang und neue Frische wiedergegeben. Indem er ohne Menschenfurcht und ohne Lohnsucht nur der historischen Gerechtigkeit und Wahrheit zu dienen strebte, hat er den Ruhm Zions verkündet und wie mit einer Wünschelrute den Quellengrund aufgeschlossen, aus dem für die Bekenner des einzig-einigen Gottes stets Trost und Labung, Hoffnung und Erhebung in reicher Fülle hervorströmen wird.


Fußnoten

1 Was hier unter Anführungszeichen gegeben wird, ist der Originaleingabe wörtlich entnommen. Geheimes Staatsarchiv Berlin, General-Direktorium Südpreußen, Ortschaften Nr. 964, Vol. II.


2 Staatsarchiv Posen, Wollstein C. 13.


3 Das Werkchen ist fein säuberlich abgeschrieben in seinem Nachlaß vorgefunden worden; er hatte es, wie er angiebt, am Mittwoch den 27. Elul (15. September) 1830 in Zerkow begonnen und in Wollstein, etwa 15 Jahre alt, vollendet.


4 Wahrscheinlich םיבותכה ןמ בויא רפס von Simcha Arje ben Efraim Fischel, Lemberg 1833.


5 Diese Biographien sind nicht gedruckt worden, und auch die Handschrift war nicht aufzufinden.


6 Talmudische Werke des R. Isaak Alfassi.


7 Ein großer, schwerer, mit irgend welchem Zierrat am Griff geschmückter Stock wurde in Polen wie ein Emblem des Rabbinats getragen und gebraucht.


8 Giganten oder Heroen. Graetz spielt hier mit dem Worte.


9 Ein Philologe von Ruf, der in der lateinischen Lexikographie Bedeutendes geleistet.


10 Als sein erstes literarisches Auftreten kann wohl ein Artikel bezeichnet werden im Hauptblatt des Orients, Jahrg. 1843, S. 391 ff. über die damals schwebende Streitfrage »Über die Heiligkeit der jüdischen Begräbnisplätze«, anonym und von Breslau 22. Nov. datiert. Das Scharmützeln gegen Geiger beginnt im Hauptblatt des Orients, Jahrg. 1844, S. 21.


11 »Das Buch der Schöpfung«, das eine halbphilosophische, halbmystische Weltanschauung entwickelt.


12 Ursprünglich war hierzu der 15. Oktober angesetzt; es wurde aber von vielen Seiten der September als der geeignetste Monat bezeichnet.


13 Dazu bedurfte es indes einer behördlichen Genehmigung, welche nur infolge eines amtlichen Lehrerzeugnisses erteilt werden konnte. Daraufhin besuchte Graetz als Hospitant eine Zeitlang das katholische Schullehrerseminar zu Breslau und erhielt am 4. November 1847 nach abgelegter Rektoratsprüfung ein Zeugnis, welches ihm die Fähigkeit zuspricht, an einer Elementarschule zu unterrichten und eine solche als Rektor zu leiten. Es war das einzige amtliche Prüfungszeugnis, das Graetz überhaupt aufzuweisen hatte.

14 Derselbe Friedmann zeichnet in Gemeinschaft mit Graetz einen Aufsatz, der 1848 in den theologischen Jahrbüchern von Bauer und Zeller, Bd. VII, S. 338 erschienen ist: »Über die angebliche Fortdauer des jüdischen Opferkultus nach der Zerstörung des zweiten Tempels«. Wie weit der Anteil Friedmanns dabei reicht, ist nicht ersichtlich. Die Einleitung zeigt ganz deutlich die Art und den Stilcharakter von Graetz, der diese Arbeit als die seinige anzusehen pflegte. Es ist übrigens die einzige Veröffentlichung, die in den Jahren von 1846 bis 1851 von ihm ausgegangen war.


15 Nach persönlichen Mitteilungen von Graetz an den Schreiber dieses.


16 Graetz äußert sich darüber in seinem curriculum vitae (bei den Akten des Kuratoriums der Kgl. Kommerzienrat Fränckelschen Stiftungen, »den Seminarlehrer Graetz betreff.«) folgendermaßen: »Im Jahre 1849 folgte ich dem Rufe, der von dem mährischen Landrabbiner an mich erging, mich bei der Gründung eines Rabbinerseminars für die mährischen und österreichisch-schlesischen Gemeinden zu beteiligen und an demselben als Lehrer zu wirken. Doch kam dieses Institut nicht zustande; die schwankenden Verhältnisse des österreichischen Staates überhaupt und die einem ewigen Provisorium anheimgefallene Stellung der Israeliten im Kaiserstaate zogen die Verhandlungen über die Verwirklichung eines derartigen Seminars in die Länge. Ich sah mich infolgedessen in die Notwendigkeit versetzt, provisorisch die Leitung einer öffentlichen israelitischen Schule in Lundenburg bei Wien zu übernehmen«.


17 Die Trauung in Krotoschin vollzog Hirsch Fassel, Rabbiner von Proßnitz in Mähren, mindestens hielt er dabei die Trauungsrede. Er weilte damals in Breslau, woselbst man mit ihm wegen einer Anstellung als Rabbiner neben Geiger verhandelte. Doch führten die Verhandlungen zu keinem Resultat.


18 Vgl. Das jüdisch-theologische Seminar Fränckelsche Stiftung zu Breslau, am Tage seines 25 jährigen Bestehens, den 10. August 1879, S. 5.


19 Geschichte der Juden, B. IV. (l. Auflage), S. 22.


20 Geschichte der Juden, B. IV, (l. Auflage), S. 169.


21 Ebenda S. 236.


22 Der israelitische Volkslehrer von L. Stein, Jahrg. V, 1855, S. 37.


23 Jeschurun von S. R. Hirsch, Jahrg. II und III.


24 Vgl. Geschichte der Juden, Bd. IV, Note 20 (in späteren Auflagen Note 16.)


25 Israelitischer Volkslehrer a.a.O.

26 Er war ein Sohn des Hamburger Rabbiners, oder – wie er sich nannte – Chacham, Isaak Bernays.


27 Diese Tendenz fand ihre Berechtigung in dem Umstande, daß man unter den obwaltenden Verhältnissen für die Aufnahme in die Anstalt kein höheres Maß profaner Kenntnisse fordern konnte, als für die Sekunda eines preußischen Gymnasiums ausreichte, und Schülern vom 15. Jahr an den Eintritt gewähren wollte.


28 Der erste, der eine Geschichte der Juden bis auf seine Zeit, wenn auch trümmerhaft und mit unzulänglichen Mitteln, doch im Zusammenhang abgefaßt hat, war der protestantische Geistliche und Diplomat Jakob Basnage, der Historiograph der Niederlande, gest. 1723, an welchen sich Jost angelehnt hat. Der zweite Versuch einer Darstellung der jüdischen Geschichte ging von einer christlichen Amerikanerin aus, Hannah Adams aus Boston, 1818, welche nur sekundäre Quellen benutzen konnte. Vgl. über die Vorgänger von Graetz dessen Geschichte, XI. Band, 2. Aufl., S. 409 ff.


29 In seinem letzten Geschichtswerk »Geschichte des Judentums und seiner Sekten« (3 Bände, 1857 bis 1859) hat Jost seinen alten Ton nicht beibehalten, sondern sich mehr auf den von Graetz eingenommenen Standpunkt gestellt.

30 Zunz hielt nicht nur jede Geschichtsdarstellung des Judentums damals für verfrüht, er hatte bei seiner Äußerung wohl ein 1846 erschienenes Machwerk »Geschichte der Israeliten« von Dr. J. H. Dessauer, im Auge; in der zwar sehr verblümten Anspielung auf dieses unbedeutende Buch lag wahrscheinlich der verletzende Stachel.


31 Vgl. Band 4, zweite Auflage, Not. 14.


32 B. 3, zweite Auflage, Not. 26.


33 Jost, Gesch. des Judentums und seiner Sekten. Abt. 1, S. 437, Anm. 3.


34 Graetz hat mit großem Geschick, um den Fluß der Erzählung nicht durch trockene, gelehrte Exkurse zu unterbrechen, jeden Band seines Werkes in zwei Teile geschieden, gleichsam in einen exoterischen Teil, für alle zugänglich, und in einen esoretischen, für den Fachmann bestimmt. Der letztere Teil befindet sich am Schluß als Beigabe und enthält den gelehrten Notenapparat, in welchem über die Methode, über die mehr oder minder zwingenden Schlußfolgerungen und Voraussetzungen, die zu den in der Geschichtsdarstellung vorgetragenen Resultaten geführt haben, Rechenschaft gegeben wird, in welchem alles niedergelegt ist, was der Verfasser als Gelehrter, an neuen Tatsachen, Daten und Gruppierungen gefunden und gefördert hat. In diesen Noten, die in gewissem Sinne die Werkstatt darstellen, um den vom Verfasser selbst herbeigeschafften wissenschaftlichen Rohstoff zu den für den Geschichtsaufbau geeigneten Werkstücken zu verarbeiten, ist ein ebenso reiches, wie neues Material nicht bloß aus handschriftlichen Funden, sondern oft aus ganz unvermuteten, scharfsinnig aufgespürten und entlegenen Quellen zusammengetragen. Eine staunenswerte Fülle von Gelehrsamkeit wird aufgespeichert und für die wissenschaftliche Forschung nutzbar gemacht und all dies meist so gründlich durchgearbeitet und so klar durchleuchtet, daß dieser Teil schon für sich allein eine wissenschaftliche Leistung ersten Ranges bedeutet. Diese Noten werden von dem unvergeßlichen David Kaufmann s.A. sehr treffend den Kellern einer Zettelbank verglichen, in denen das kostbare Edelmetall und der reiche Barvorrat gelagert wird, um die in Umlauf befindlichen Scheine und Wechsel jederzeit zum vollen Wert einlösen zu können. In gleicher Weise sollen die Noten für die Ausführungen des Textes die erforderlichen Garantien bieten und ihre Zuverlässigkeit auch dort sichern, wo sie auf bisher unbekannte Forschungen hinweisen.


35 Band 10, cap. 6 und 7.


36 Die französischen, englischen und hebräischen Übersetzungen seiner Geschichte hat Graetz zumeist selbst überwacht und die Aushängebogen zum größten Teil durchgesehen. Die französische Übersetzung wurde von seinem Freunde M. Heß, einem sozialistischen Schriftsteller, dem Verfasser von »Rom und Jerusalem«, angefertigt. Der dritte Band wurde zuerst übersetzt und erschien unter dem Titel »Sinai und Golgatha« (Paris 1867). Darauf folgte der sechste mit der Bezeichnung »Les Juifs d'Espagne«. Der Krieg von 1870 hatte die deutschen und französischen Juden einander überaus entfremdet, so daß die Fortsetzung des Werkes abgebrochen wurde und erst in den achtziger Jahren wieder aufgenommen werden konnte. Bei der englischen Übersetzung wurde mit dem vierten Band begonnen (New-York 1873). Übersetzer war James K. Gutheim auf Veranlassung der zweiten American Jewish Publication Society. Als Graetz im Jahre 1887 London besuchte, wurde die englische Übersetzung des ganzen Werkes von dort aus in Angriff genommen und durchgeführt. Sowohl die französische wie die englische Übersetzung bildeten zugleich eine Umarbeitung des deutschen Originals, indem Graetz nicht bloß die Resultate der neuesten Forschungen hineingeflochten, sondern auch der Geschichte der Juden desjenigen Landes, in dessen Sprache die Übersetzung erfolgte, eine besondere Berücksichtigung zuwandte. Die hebräische Übersetzung wurde zuerst von Kaplan und dann von Rabbinowiez besorgt.


37 Der zweite Band hatte einen solchen Umfang genommen, daß er ihn in zwei Abteilungen zerlegen mußte, von denen jede die stattliche Zahl von fast 500 Seiten umfaßt.


38 Abgedruckt in Rippners: Zum siebzigsten Geburtstag des Professors Dr. H. Graetz, S. 31.


39 Preußische Jahrbücher 1879, Bd. 44, S. 572 ff.


40 A. a.O., S. 660.


41 Die Gegenwart von Lindau, 1880, Bd. 17, S. 18 ff.


42 Marie, geb. Monasch aus Krotoschin, verstarb am Abend des 31. Mai 1900. Eine stattliche, schlanke Figur, mit angenehmem Äußeren und von gemessenem, zurückhaltenden Wesen, verband sie Freundlichkeit und Takt und verstand es, auch dem freundschaftlichen Verkehr einen gewissen feierlichen Anstrich zu geben. Über dem Verhältnis zu ihrem Gatten schwebte bis zum letzten Tage eine Art bräutlichen Schimmers. Infolge des Alters hatten in der letzten Zeit ihre körperlichen und geistigen Kräfte nachzulassen begonnen. Da war es rührend zu sehen, wie ihre Züge, sobald die Rede auf ihren verstorbenen Gatten kam oder es sich um dessen Schriften handelte, sich als dann belebten, sie an der Unterhaltung oder Verhandlung vollen Anteil nahm und ihre Geisteskräfte nichts zu wünschen ließen.

Quelle:
Geschichte der Juden von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart. Leipzig [1908], Band 1.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Schnitzler, Arthur

Reigen

Reigen

Die 1897 entstandene Komödie ließ Arthur Schnitzler 1900 in einer auf 200 Exemplare begrenzten Privatauflage drucken, das öffentliche Erscheinen hielt er für vorläufig ausgeschlossen. Und in der Tat verursachte die Uraufführung, die 1920 auf Drängen von Max Reinhardt im Berliner Kleinen Schauspielhaus stattfand, den größten Theaterskandal des 20. Jahrhunderts. Es kam zu öffentlichen Krawallen und zum Prozess gegen die Schauspieler. Schnitzler untersagte weitere Aufführungen und erst nach dem Tode seines Sohnes und Erben Heinrich kam das Stück 1982 wieder auf die Bühne. Der Reigen besteht aus zehn aneinander gereihten Dialogen zwischen einer Frau und einem Mann, die jeweils mit ihrer sexuellen Vereinigung schließen. Für den nächsten Dialog wird ein Partner ausgetauscht indem die verbleibende Figur der neuen die Hand reicht. So entsteht ein Reigen durch die gesamte Gesellschaft, der sich schließt als die letzte Figur mit der ersten in Kontakt tritt.

62 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Nach den erfolgreichen beiden ersten Bänden hat Michael Holzinger sieben weitere Meistererzählungen der Romantik zu einen dritten Band zusammengefasst.

456 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon