14. Kapitel. (219-279.)

[231] Die palästinensischen Amoras. R. Chanina, R. Jochanan, R. Simon ben Lakisch. R. Josua, der Held der Sage. R. Simlaï der philosophische Agadist. Porphyrius, der heidnische Kommentator des Buches Daniel.


Die Tätigkeit der Lehrer der Synagoge in Palästina war nach einer andern Richtung gelegen; nicht der Bibelforschung und nicht der Begründung der Glaubenslehre war ihr Interesse zugewendet; beides lag außerhalb ihres Gesichtskreises. Auf die Pflege der mündlichen Lehre, und zwar in ihrer abgeschlossenen Form, der Mischna, war ihr Hauptmerk gerichtet. Sie war in gemessener knapper Kürze abgefaßt, enthielt außerdem viele Bestandteile, Sprachliches und Sachliches, deren Verständnis aus dem Leben entschwunden war und erforderte daher ein eigenes Studium, eine Art Gelehrsamkeit. Die Schulhäupter verlegten sich zunächst darauf, den kurzen und nicht selten dunkeln Sinn der Mischna zu erläutern. Von dieser Seite ihrer Tätigkeit erhielten sie den Namen Amoräer (Amoraï, Ausleger).1 Aber sie blieben nicht bei dieser trockenen Tätigkeit und dieser Abhängigkeit stehen, sondern machten sich nach und nach davon frei, schlugen neue Bahnen ein, und stets im guten Glauben auf dem Boden der Mischna zu stehen, gingen sie über sie hinaus. Wie die Tannaiten das Schriftwort behandelten, so behandelten die Amoräer den Text der zweiten Lehre und indem sie ihn zerlegten und in seine Urbestandteile auflösten, verflüchtigte er sich ihnen unter der Hand und verwandelte sich in einen andern Stoff und in eine andere Form. Das erste amoräische Geschlecht, die unmittelbaren Nachfolger der Tannaiten und Halbtannaiten, bildet in vielen Punkten eine Parallele zu dem zweiten Tannaitengeschlecht; es hatte wie dieses eine Reihe begabter Persönlichkeiten, welche ein hohes Alter erreichten und deren Tätigkeit ein halbes Jahrhundert ausfüllte. Es zerfiel wie dieses in verschiedene [231] Schulen und Richtungen und ging in Differenzen über Entscheidung und Auslegung der Gesetze auseinander, bietet aber nicht das Schauspiel heftiger Streitigkeiten, weil es bereits ein Gemeinsames, eine anerkannte Formel, eine feststehende Norm hatte, welcher sich alle Autoritäten unterordneten. Unter den Gesetzeslehrern dieses Geschlechtes war der älteste R. Chanina ben Chama aus Sepphoris (um 180-260). Er stammte aus einem alten, edlen Geschlechte und übte die Arzneikunde aus,2 wie denn überhaupt diese Wissenschaft, die in levitischen Kreisen heimisch war, auch bei Gesetzeslehrern Pflege gefunden hat. Es ist bereits erzählt, wie der Patriarch R. Juda I. ihn aus Empfindlichkeit lange vernachlässigt und erst auf seinem Totenbette seinem Nachfolger empfohlen hat, ihm die vorenthaltene Ordination zu erteilen und ihm den Vorrang vor allen übrigen Jüngern einzuräumen. Als ihm R. Gamaliel III., in gewissenhafter Erfüllung des väterlichen Willens, die erste Stelle erteilen wollte, lehnte sie R. Chanina aus Bescheidenheit ab, indem er sie an den um einige Jahre ältern Ephés aus Lydda abtrat, ja er trat auch vor einem andern zurück, vor Levy ben Sißi, und begnügte sich mit der dritten Stelle in der Reihe der Ordinierten.3 Als er später einem eigenen Lehrhause in Sepphoris vorstand, war seine Lehrweise einfach. R. Chanina war ganz Amora in dem ursprünglichen Sinn des Wortes; er trug die Mischna oder die Boraitas nur mit den Erläuterungen vor, wie er sie traditionell vernommen, ohne sich eine selbständige Folgerung zu erlauben. Kamen neue Fälle vor, welche in der Mischna nicht angedeutet waren, so entschied er sie nicht nach eigenem Urteile, sondern zog kundige Kollegen oder auch Jünger dabei zu Rate, wenn die Entscheidung noch so nahe lag. Er war sich selbst seines Standpunktes bewußt und sprach sich öfter darüber aus, daß er nie eine Entscheidung getroffen habe, die er nicht durch Tradition überkommen hätte.4 Als R. Jochanan und Simon ben Lakisch erstaunt darüber waren, daß er sie, die Jüngeren, bei einem Falle zur Beratung gezogen hatte, äußerte sich R. Chanina: »Ich habe nie ein halachisches Urteil abgegeben, wenn ich es nicht von meinem Lehrer theoretisch unzählige Male gehört und praktisch mindestens dreimal bewährt gefunden habe; da ich aber den gegenwärtigen Fall nur zweimal wahrgenommen, darum verlange ich euern Beirat«.5 R. Chanina war dasselbe unter den Amoras, was R. Elieser ben Hyrkanos unter den Tannaiten, [232] durchaus empfangend, niemals schöpferisch. Nach diesen beiden hätte der Lehrstoff ewig in derselben Form bleiben müssen, wie er einmal gegeben war; seine fruchtbare Anwendung, Fortbildung und Erweiterung war nicht ihre Sache. Dieser Standpunkt, die Mischna als ein totes Kapital zu betrachten, gefiel aber den strebsamen jüngern Männern nicht; daher trennten sich sogar die Schüler von ihm und gründeten neue Lehrhäuser.

Wegen seiner Frömmigkeit genoß R. Chanina hohe Verehrung bei Juden und Römern. Als er einst mit dem jüngeren Zeitgenossen Josua ben Levi den Prokonsul (Anthypatos) in Cäsarea aufsuchte, stand dieser ehrerbietig vor ihnen auf und bemerkte gegen diejenigen, welche darüber erstaunt schienen: »Sie erscheinen mir wie Engel«.6 Er, wie keiner, durfte sich herausnehmen, die tief eingerissenen Fehler seiner Gemeinde rücksichtslos zu rügen und ihr jenen falschen Glauben zu benehmen, der sich die unglaublichsten Wunder gefallen läßt, um der Selbsttat überhoben zu sein. Die schonungslosen Äußerungen R. Chaninas über die Sepphorener geben zugleich ein treues Sittengemälde jener Zeit. In Sepphoris und der Umgegend hatte einst die Pest so gewütet, daß viele Menschen in allen Teilen der Stadt hinweggerafft wurden, und nur derjenige Teil, in dem R. Chanina wohnte, verschont blieb. Die Sepphorener machten ihren Vertreter dafür verantwortlich, weil er keine Wunder tue, um die Pest abzuwenden; worauf er ihnen antwortete: »In Moses Zeiten gab es nur einen Simri (der mit Heidenfrauen Unzucht getrieben) und es fielen 24 000 in der Pest, unter euch gibt es aber so viele Simri und ihr beklagt euch noch!«7 Ein andermal litt Judäa an anhaltender Regenlosigkeit und Dürre. R. Chanina hatte die vorgeschriebenen Fasten und öffentlichen Gebete veranstaltet, ohne daß sich der ersehnte Regen eingestellt hätte, worüber sich die Sepphorener wieder beklagten und auf R. Josua ben Levi verwiesen, der für das südliche Judäa Regen erfleht habe. Bei der nächsten Gelegenheit ließ R. Chanina R. Josua aus dem Süden nach Sepphoris kommen und vereinigte dessen Gebet mit dem seinigen, aber wiederum ohne Erfolg. Da nahm R. Chanina Veranlassung, seine Landsleute wegen ihres Afterglaubens an die Wundertätigkeit eines Menschen zurechtzuweisen: »Da seht ihrs, nicht Josua bringt Regen und nicht Chanina hält den Regen zurück, sondern die Lyddenser sind weichherzig und demütigen sich, darum gibt ihnen der Himmel Regen, ihr aber seid hartherzig und verstockt, darum versagt er euch den Regen«.8 Bescheidenheit [233] und Selbstverleugnung verließen ihn sein ganzes Leben nicht, und im Alter freute er sich in gerechter Anerkennung fremder Verdienste über den Ruhm derer, die ihn verdunkelt hatten. Als er einst nach Tiberias kam und die Gewerke feiern sah, weil alles Volk sich zu R. Jochanans Vorträgen gedrängt habe, dankte er Gott dafür, daß er ihn den Ruhm seines Schülers hatte erleben lassen.9 Er erreichte ein sehr hohes Alter und sah drei Patriarchen, den älteren R. Juda, seinen Lehrer, dessen Sohn Gamaliel und den zweiten R. Juda. Mit achtzig Jahren war er noch so frisch und kräftig, daß er sich selbst die Sandalen, auf einem Fuße stehend aus- und anziehen konnte. Er pflegte zu sagen: »Das Öl, womit mich meine Mutter in der Jugend einrieb, gab mir noch im Alter Jugendkraft«.10 R. Chaninas Zeitgenosse R. Ephés, dem er wegen seines höheren Alters den Vorrang bei der Ordination überlassen hatte, hinterließ fast gar keine Spur seiner Tätigkeit. Nur das eine ist von ihm bekannt, daß er Geheimschreiber des Patriarchen war11 und daß er wieder in Südjudäa (Darom), in Lydda eine Schule erneuerte, wo seit der hadrianischen Verfolgung und der Verlegung des Synhedrions nach Galiläa wahrscheinlich wegen der geringen jüdischen Bevölkerung das öffentliche Leben erloschen war. R. Ephés führte daher den Namen »der Südländer« (Droma).12 – Der Dritte aus dem Kreise der älteren palästinensischen Amoraïs, Levi ben Szißi (schlechtweg Levi genannt), hat wahrscheinlich wegen angeborener Schüchternheit13 keinem Lehrhause vorgestanden, sondern reiste öfter von Judäa nach Babylonien.

Den Gegensatz zu dem nur erhaltenen R. Chanina bildet R. Jochanan bar Napacha (geb. 199, gest. 279)14. Von diesem Hauptamora Palästinas sind einige biographische Züge, sogar eine Schilderung seiner äußerlichen Person bekannt geworden. Er hatte seine Eltern bereits in zarter Jugend verloren und pflegte später zu sagen, daß er für dieses Unglück dankbar sein müßte; denn er wäre nicht imstande gewesen, die strengen Pflichten der Kindesliebe zu erfüllen, wie es das Gesetz erheischt.15 Er war so[234] schön von Gestalt, daß die sonst trockene talmudische Quelle unwillkürlich dichterisch wird, um R. Jochanans Schönheit zu veranschaulichen: »Wer sich einen Begriff von seiner Schönheit machen will,« berichtet sie, »der fülle einen frischgearbeiteten Silberpokal mit roten Granaten, umgebe den Rand mit einem Kranze roter Rosen, stelle den Pokal zwischen Licht und Schatten, und sein eigentümlicher Lichtreflex wird R. Jochanans glänzender Schönheit entsprechen«.16 Je doch war diese Schönheit mehr weiblicher Art, denn ihm fehlte der Bart, der Ausdruck männlicher Würde. Auch waren seine Augenbrauen so lang, daß sie seine Augen überschatteten. Sein Blick hatte dadurch zuweilen etwas Düsteres, Strenges, Stechendes, und er soll, der Sage nach, öfter mit seinem Blicke unwillkürlich getötet haben. Im zarten Alter war er Zuhörer des ältern R. Juda, gestand aber später, daß er wegen seiner Jugend nur wenig von der tieferen halachischen Debatte verstanden habe.17 Da er nicht begütert war und nur ein kleines Grundstück besaß, hatte er sich mit Ilpha, einem Mitjünger, auf ein Geschäft gelegt, worauf ihm ein Wink zukam, sich der Lehre ganz zu weihen, dann werde er einen hohen Rang einnehmen. Deswegen gab er sein Geschäft auf und wurde von neuem Zuhörer bei berühmten Gesetzeslehrern. Sein kleines Grundstück verkaufte er, um die Mittel zum Studium zu haben, ohne der Sorge Raum zu geben, wovon er im Alter leben werde. Man wendete daher später auf ihn den Vers des Hohenliedes an: »Er gab sein Vermögen hin aus Liebe« (zu der Lehre).18 Doch scheint er später von dem Patriarchen R. Juda seinen Unterhalt bezogen zu haben.19 R. Jochanan pflog Umgang mit den Lehrern verschiedener Schulen, um sich allseitige Kenntnis des Gesetzesstoffes anzueignen, unter andern auch mit dem Boraitasammler R. Uschaja in Cäsarea, von dem er anderweitige Halachas vernahm, die in der Mischna nicht enthalten waren.20 R. Chaninah ben Chama war, wie schon erzählt, sein Hauptlehrer,21 mit dem er sich jedoch nicht vertragen konnte, weil jenem jede Mischna als unfehlbares kanonisches Gesetz galt, an dem man nicht mäkeln dürfe: aus diesem Grunde verließ er dessen Schule und gründete in Tiberias eine eigene.22 R. Jochanan wurde die rechte [235] Hand des Patriarchen R. Juda II., der fruchtbarste Amora seiner Zeit, und seine Aussprüche wurden durch seine zahlreiche Jüngerschaft ein Hauptbestandteil des Talmuds. Seine Lehrart war, tiefer in den Sinn der Mischna einzugehen, jedes Gefüge einer strengen Analyse zu unterwerfen, einen Ausspruch gegen den anderen zu halten; dadurch kam er zu dem Resultat, daß die Mischna nicht durchweg Gesetzeskraft habe, weil sie nur Ansicht einer einzelnen Autorität sei;23 er pflegte daher manche mischnaitische Halacha ganz zu verwerfen, dafür aber vernachlässigten Boraitas Autorität einzuräumen. Der schon erwähnte Ilpha war entgegengesetzter Ansicht und so eingenommen von R. Judas Sammlung, daß er kühne Wetten einging, für jeden Paragraphen der Boraita, der in einer gewissen Breite ausgeführt ist, eine kurze Andeutung in der Mischna nachweisen zu können, daher die Boraitas durchaus überflüssig seien.24 Auch für die endgültige Entscheidung stellte R. Jochanan gewisse Regeln fest für solche Fälle, bei denen zwei oder mehrere Tannaiten entgegengesetzter Ansicht waren. Tiberias mit seiner milden Luft, seiner Fruchtbarkeit, seinen Heilquellen wurde durch ihn der Sammelplatz einer zahlreichen Jüngerschaft, die von nah und fern herbeiströmte. Selbst aus Babylonien, dessen neugegründete Schulen ausgezeichnete Meister hatten, kamen viele schon fertige, reife Jünger in R. Jochanans Lehrhaus. Man zählt über hundert Amoras, die R. Jochanans Entscheidung als gesetzeskräftig annahmen und lehrten.

Mit dem Patriarchen aufs innigste befreundet, unterstützte er dessen Unternehmen, manches Herkömmliche abzuändern. R. Jochanan selbst war nicht streng in diesem Punkte, und überhaupt lange nicht so erschwerend als die babylonische Schule, die sich in seiner Zeit gebildet hatte.25 Er erlaubte das früher verbotene Griechisch zu erlernen, den Männern, weil sie sich dadurch vor Angebereien schützen könnten, und den Frauen, weil die griechische Sprache für das weibliche Geschlecht eine Zierde sei. Überhaupt schätzte er die griechische Bildung und räumte ihr einen Rang neben dem Judentum ein. Schön drückt er sich darüber aus: »Dafür, daß die beiden Söhne Noahs, Sem und Japhet, ihres Vaters Blöße mit einem Gewande zugedeckt hatten, verdiente sich Sem (Typus des Judentums) den Mantel mit Schauquasten (Talit) und Japhet (Typus für [236] Griechentum) den Philosophenmantel« (Pallium).26 R. Jochanan war es, welcher die Neuerung der Zimmermalerei mit Figuren zuließ.27 Mit der römischen Macht konnte sich R. Jochanan nicht befreunden und war nicht schonend in Ausdrücken, um ihre unverschämte Anmaßung und herzlose Gewalttätigkeit zu bezeichnen. Das vierte Tier in der Danielschen Vision von den vier Weltreichen, die ewige Fundgrube der Auslegung, die von Christen mehr noch ausgebeutet wurden, als von Juden, bezog er auf das Römerreich. Das kleine Horn, das von dem vierten Tiere ausgeht, bedeutet nach seiner Erklärung das frevelhafte Rom, das die früheren Weltreiche vernichtet hat; die Augen gleich Menschenaugen, in diesem Horne, bedeuten Roms neidischen Blick auf das Vermögen anderer. Ist jemand reich, so machen ihn die Römer schnell zum Vorsitzenden für Naturalienlieferung oder zum Mitglied im städtischen Rate, damit er mit seinem Vermögen für alles haften müsse.28 Ein anderer treffender Ausdruck R. Jochanans dieser Art war: »Wenn man Dich zum Ratsmitgliede vorschlägt, so suche dir lieber die Jordanwüste zum Nachbar«. Er gestattete ausnahmsweise aus Judäa auszuwandern, um sich den lästigen städtischen Ämtern zu entziehen.29 R. Jochanans Charakter war von hoher Sittlichkeit; der Sklave der ihn bediente, mußte von allen Speisen genießen, die für ihn bereitet waren.30 Er hatte das Unglück seine zehn Söhne zu begraben; der letzte soll einen unnatürlichen Tod in einem Kessel mit siedendem Wasser gefunden haben. Der unglückliche Vater trug einen kleinen Knochen vom letzten Sohne mit sich herum, um durch sein außerordentliches Mißgeschick alle diejenigen zu trösten, die ähnliches Unglück betrauerten: »Seht den letzten Rest meines zehnten Sohnes«, sprach er zu ihnen.31 Nur eine Tochter blieb dem als Waise geborenen und beinahe kinderlos verschiedenen R. Jochanan. Im hohen Alter soll er Anfälle von Wahnsinn [237] gehabt haben, die er sich aus Gram zugezogen über den Tod seines Freundes und Schwagers ben Lakisch, den er verschuldet zu haben glaubte.32 Dieser Zustand soll drei und ein halbes Jahr gedauert haben und während dieser Zeit konnte er die Lehrversammlungen nicht besuchen.33

R. Simon ben Lakisch, der Zwillingsamora, Freund, Schwager und halachischer Gegner R. Jochanans, war in manchen Punkten dessen Gegenstück und überhaupt eine seltsame Persönlichkeit, in welcher sich das Widersprechendste vereinigt fand, derbe Körperkraft mit Zartheit des Gefühls und Geistesschärfe gepaart. Resch-Lakisch (wie er abgekürzt genannt wird) war, wie es scheint, in Bostra, der sarazenischen Hauptstadt geboren (um 200, st. um 275).34 Als R. Jochanans steter Genosse, hatte er noch in der Jugend den Patriarchen R. Juda I. gesehen und sich in der Schule seiner Nachfolger gebildet; es ist falsch, daß er erst in reiferem Alter zum Gesetzesstudium herangezogen worden sei.35 Von seiner Riesenkraft und Beleibtheit wissen die Quellen nicht genug zu erzählen; er pflegte auf harter Erde zu liegen und sprach: »Das Fett meines Leibes ist mein Polster«.36 Er ließ sich einst für den Zirkus anwerben,37 um bei den so beliebten Tiergefechten die kampfeswütigen Tiere niederzustechen, wenn sie den Zuschauern gefährlich zu werden drohten. – Dieses niedrige und lebensgefährliche Handwerk wählte ben Lakisch wohl nur aus Not. Die Sage bemüht sich, die grellen Gegensätze in Resch-Lakisch, seine derbe Kraft und sein Gesetzesstudium in einem schönen Bilde zu versöhnen. Sie erzählt, Resch-Lakisch, der Mann mit der tödlichen Waffe, habe einst R. Jochanan im Bade gesehen [238] und sei von dessen Schönheit so geblendet worden, daß er in einem Nu bei ihm im Wasser war. R. Jochanan habe dann zu ihm gesagt: »Deine Kraft wäre angemessener für die Lehre« – »und deine Schönheit für die Frauen« habe ben Lakisch geantwortet. R. Jochanan habe ihm darauf die Hand seiner noch schöneren Schwester versprochen, falls er sich dem Studium zuwenden sollte. Resch-Lakisch sei auf den Vorschlag eingegangen; aber schon der Entschluß, sein Leben der Lehre zu weihen, habe seine Kräfte derart geschwächt, daß er seine schwere Rüstung nicht mehr anlegen konnte.38 Aber noch mehr als seine gewaltige Körperkraft wird seine gewissenhafte Rechtlichkeit gerühmt; er mied, wie erzählt wird, den Umgang solcher Personen, von deren Redlichkeit er nicht die vollste Überzeugung hatte; daher gab man denjenigen, welche ben Lakisch seines Umgangs würdigte, unbedingten Kredit, ohne auch nur Zeugen zu nehmen.39 Seine düstere und ernste Physiognomie erheiterte sich nie durch ein Lächeln, weil er die Heiterkeit für leichtsinnig hielt, seitdem das heilige Volk der heidnischen Macht untertan geworden.40 Seine Wahrheitsliebe und seinen Freimut kennen wir schon, die er gegen die Mißbräuche des Patriarchen bis zur Beleidigung geltend machte. In der Gesetzesauslegung huldigte er der scharfsinnigen Entwicklung und übertraf darin noch seinen älteren Genossen und Schwager. »Wenn er halachische Fragen behandelt«, so erzählen die Quellen, »war es, als wenn er Berge aneinander riebe«. R. Jochanan pflegte von ihm zu sagen: »Wenn ich beim Leben des ben Lakisch eine Halacha oder Mischna vortrug, so hatte er vierundzwanzig Fragen darauf, die ich zu widerlegen hatte, dadurch erlangte der Gegenstand lichtvolle Klarheit«.41 In der Agada warben Lakisch originell und hatte eigene Ansichten, welche erst in der Folge besser gewürdigt wurden. Die Frage über die Zeit, in welcher der leidende Job gelebt und über die sonstige Situation dieses merkwürdigen Dramas wurde öfter in den Schulen verhandelt und erzeugte die widersprechendsten Ansichten. Der eine rückte Job bis zu Moses Zeit hinauf, ein anderer machte ihn zum Zeitgenossen der heimkehrenden Exulanten; Resch-Lakisch aber traf den Nagel auf den Kopf, indem er den Satz aufstellte: »Job hat zu keiner Zeit gelebt, er hat nie existiert, sondern das Buch ist eine sinnigmoralische Dichtung (Maschal).« Diese Ansicht frappierte die Zeitgenossen ungemein, sie hatten für eine solche Auffassung kein Verständnis.42 Die Engelnamen hielt ben Lakisch nicht für ursprünglich [239] jüdisch, sondern für ein fremdes, in die jüdische Anschauung verpflanztes Element; das jüdische Volk habe sie aus Babylonien mit herüber gebracht, denn die vorexilischen Schriften kennen noch gar nicht den Begriff individualisierter Engel.43 R. José und andern gegenüber, welche das Altertum auf Kosten der Gegenwart rühmten und hyperbolisch behaupteten, »der Nagel der Alten sei mehr wert gewesen, als der Leib der Spätern«, oder in einer andern Wendung, »wenn die Alten Engel waren, so sind wir dagegen Menschen und wenn die Alten Menschen waren, so sind wir dagegen nur Esel und nicht einmal gleich dem Esel des R. Pinchas ben Jaïr«, behauptete ben Lakisch das Gegenteil, die Spätern haben mehr Verdienst, weil sie, obwohl unter schwerem Drucke, doch dem Gesetzesstudium obliegen.44 – Obwohl von Jugend an mit R. Jochanan befreundet, durch Verwandtschaft noch enger an ihn geknüpft, geriet ben Lakisch mit ihm in seinen letzten Jahren in Spannung. Die Veranlassung dazu soll eine allzuverletzende Anspielung gewesen sein, welche R. Jochanan sich einst auf dessen früheres Messerhandwerk erlaubte; vom Wortwechsel kam es zu gegenseitiger Beleidigung, und R. Jochanan soll ihn zuletzt mit seinem stechenden Blick getötet haben. Der Gram über den verschuldeten Tod seines besten Freundes trübte die letzten Jahre R. Jochanans. Er nahm den einzigen Sohn ben Lakischs an Kindesstelle an, welchen die Mutter sorgsam bewachte, damit ihn nicht das Schicksal seines Vaters träfe.45 Ben Lakisch starb arm, wenn auch nicht ein Jahr, wie die Chroniken angeben, doch nicht allzulange vor seinem Schwager.

R. Josua ben Levi, der mit R. Jochanan und ben Lakisch das Triumvirat der palästinensischen Amoras bildet, hat in der Sagenwelt einen klingenderen Namen, als in der Geschichte, welche nicht viel von ihm weiß. Sohn des wandernden Halbtannaiten Levi ben Szißi,46 leitete er im Süden von Judäa, in Lydda, eine Schule, wahrscheinlich als Fortsetzung derjenigen, welche R. Ephés angelegt hatte. Die Lyddenser standen zwar nicht im besten Rufe bei den Galiläern, man nannte sie stolz und halbwissend.47 Allein R. Josua litt nicht darunter, seine Autorität war sehr hoch geschätzt, seine halachischen Meinungen sind meistens als gesetzeskräftig aufgenommen worden, selbst in solchen Fällen, wo die andern Triumvirn entgegengesetzter Ansicht waren. R. Josua gesteht aber selbst, er [240] habe viele Überlieferungen vergessen, während er sich mit der Organisation der südjudäischen Gemeinden beschäftigte.48 Die Gemeindeverhältnisse dieses Landstriches waren nämlich seit der hadrianischen Katastrophe in so hohem Grade zerrüttet, daß R. Jochanan und R. Jonathan sich dahin begeben mußten, um Frieden und Ordnung wieder herzustellen.49 – R. Josua war auch in Rom gewesen; der Zweck seiner Reise wird nicht angegeben, vielleicht als Sendbote zur Sammlung der Beiträge für den Patriarchen. Dort hatte er Gelegenheit eine Beobachtung zu machen, welche ihm die Gegensätze in der Welthauptstadt charakteristisch vorführte. Er sah eine kunstvolle Statue, welche mit Teppichen umwickelt war, um vor Hitze und Kälte geschützt zu sein. Nicht weit davon saß ein Bettler, der kaum Lumpen hatte, seine Nacktheit zu bedecken. R. Josua wendete auf dieses grelle Mißverhältnis zwischen dem übersättigten Reichtum und der verlassenen Armut einen Vers an: »Deine Gnadengaben sind groß, wie Bergeshöhen, deine Strenge unergründlich, wie Abgrundstiefen«.50 Aus der Welthauptstadt erwarte er die Ankunft des Messias, dort weile dieser in Knechtsgestalt unter den Bettlern und Siechen im Tore, jeden Augenblick des Rufes gewärtig, die Erlösung herbeizuführen.51 In der Sage gilt R. Josua ben Levi als einer der auserwählten Geister, welche mit dem Propheten Elias den vertrautesten Umgang pflogen und über welche selbst der Tod seine Gewalt aufgeben müsse. Er entwindet dem Todesengel sein Messer, kommt lebendigen Leibes in den Himmel, durchmißt die Himmelsräume, das Paradies, die Hölle und schickt das Resultat seiner Untersuchungen durch den Würgeengel jelbst, der ihm untertänig sein muß, an R. Gamaliel. Dieser Sagenkreis ist in einem besonderen Werkchen zusammen getragen.52 Die ältern Quellen wissen indes nichts davon; sie erzählen von seinem natürlichen Tode; auf dem Totenbette sprach er in einigen Versen das freudige Bewußtsein seiner baldigen Seligkeit aus.53

Eine originelle Richtung hatte R. Simlaï in der Agada; er ist der erste, welcher sie zu einer höheren Betrachtung erhoben hat. Geboren in Lydda, verließ er diese verödete Gegend und siedelte sich in Nahardea an,54 wo die junge babylonische Amoraschule in schönster [241] Blüte aufschoß. Mit dem Patriarchen R. Juda II. lebte er sehr befreundet. In der Gesetzeskunde hatte er nur eine geringe Autorität; weder in Palästina, noch in Babylonien achtete man auf seine halachi schen Kenntnisse. R. Simlaï war es, der von Tiberias nach Babylonien die Nachricht brachte, daß der Patriarch mit seinem Kollegium Heidenöl zum Genusse gestattet habe. Aber weil es Abba Areka schien, daß R. Simlaï es auf eigene Autorität mitteilte, mochte er anfangs nichts darauf geben.55 R. Jonathan, eine agadische Autorität, wie R. Jochanan (mit dem er zuweilen verwechselt wurde) eine halachische war, wollte ihm nicht die Agada des Geschlechtsbuches (Sefer Juchasin) erklären, weil er, als ein geborener Lyddenser und in Nahardea wohnhaft, nicht würdig dazu sei.56 Doch war R. Simlaï in der Agada viel bedeutender, als der peinliche R. Jonathan, der ihn nicht für ebenbürtig hielt. Er stellte zuerst sämtliche Gesetzesbestimmungen des Judentums nach der Zahl 613 zusammen, und zwar 365 Verbote, der Tageszahl des Sonnenjahres entsprechend, und 248 Gebote, gleich der Zahl der menschlichen Glieder. Diese 613 habe David in elf Tugenden zusammengefaßt, Gradheit, Gerechtigkeit, Wahrheit, Scheu vor Verleumdung, Bosheit und Beleidigung des Nächsten, Verachtung des Schlechten, Verehrung des Würdigen, Heilighaltung der Eide, uneigennütziges Ausleihen ohne Zins und Enthaltung von Bestechung. Jesaja habe dieselben wieder in sechs summiert, Wandeln in Gerechtigkeit, Sprechen in Gradheit, Verachtung des Eigennutzes, Freihaltung der Hand von Bestechung, des Ohres von böser Einflüsterung, des Auges von bösen Gelüsten. Der Prophet Micha habe die Gesetze gar auf drei Prinzipien gebracht, Recht üben, Wohltätigkeit lieben und in Züchtigkeit leben. Der zweite Jesaja habe sie auf zwei zurückgeführt: Recht hüten und Milde üben. Der Prophet Habakuk endlich habe sie sämtlich in einer einzigen Formel ausgedrückt: »Der Gerechte lebt des Glaubens«.57 Es ist dieses der erste Versuch, sämtliche Gesetze des Judentums auf Prinzipien zurückzuführen. Eine schöne Parabel, die R. Simlaï von der weltgeschichtlichen Bedeutung der Völker aufgestellt, zeugt eben so sehr von seinem aufs Allgemeine gerichteten Blick, wie von seiner dichterischen Begabung. »Am jüngsten Tage wird Gott, das Gesetzbuch im Schoß, die Völker auffordern, den Lohn ihrer Tätigkeit zu empfangen. In bunter Mischung werden sich sodann auf diese Aufforderung die Völker versammeln, welche Gott hierauf der Reihe nach aufrufen wird. Zuerst wird Rom erscheinen, Rechenschaft abzulegen [242] über seine Leistungen und Lohn dafür zu beanspruchen: »Wir haben Städte und Märkte angelegt, Bäder errichtet, Gold und Silber gehäuft und dieses alles für Israel, damit es in Gemächlichkeit das Gesetz üben könne;« so wird Rom sprechen. Gott aber wird entgegnen: »Was ihr getan, habt ihr aus Eigennutz getan, die Märkte für Buhlerinnen, die Bäder für wollüstiges Schwelgen, die Schätze aber sind mein!« Betrübt wird Rom abziehen, um Persien vortreten zu lassen. Persien wird sprechen: »Wir haben Brücken über Flüsse geschlagen, Städte erobert, viele Kriege geführt und dies alles für Israel.« Gott wird ihnen dasselbe antworten: »Ihr habt Brücken gebaut, um Zoll zu nehmen, Städte erobert, um Frondienst zu erpressen, des Krieges bin ich Herr.« Also wird Gott jeder Nation ihre eigennütze Tätigkeit vorrechnen«.58

Mit tiefer Kenntnis der heiligen Schrift und einer höheren Auffassung des Judentums ausgerüstet, war R. Simlaï geeignet, mit Kirchenlehrern Polemik zu führen, die Stützen, welche sie aus dem alten Testamente für die Dogmen des Christentums suchten, wankend zu machen. In dieser Polemik zeigte R. Simlaï eine sehr gesunde Exegese, fern von jeder Deutelei. Das Christentum war während des ersten Amorageschlechtes in ein neues Stadium getreten; gegenüber der gnostischen und urchristlichen (ebionitischen, nazaräischen) Richtung hatte sich eine allgemeine katholische Kirche gebildet, deren Grundlehren (Dogmen) von hier und da, halb paulinisch und halb antipaulinisch, die Mehrheit der Christen so ziemlich annahm. Der Kanon des neuen Testamentes war in vier Evangelien und Apostel gesammelt, und galt, ohne Rücksicht auf die Entstehungsweise der einzelnen Teile, durchweg als heilige Offenbarung. Die verschiedenen Sekten der Urchristen und Gnostiker waren besiegt, entweder dem Gesamtkörper der katholischen Kirche einverleibt, oder als Ketzer ausgeschieden. Zu dieser Bildung einer katholischen Kirche und zur Einheit des Bekenntnisses inmitten so großer Zerrissenheit und Spaltung der apostolischen und nachapostolischen Zeit trugen am meisten die Bischöfe von Rom bei, die wegen ihres Sitzes in der Welthauptstadt sich die Suprematie über die übrigen Bischöfe und Patriarchen anmaßten, sie bei abweichender Meinung, wie bei dem Streit über die Feier des Passah, aus der Gemeinschaft ausstießen und allmählich als Oberbischöfe und Päpste anerkannt wurden. Nach diesem abgeschlossenen Werke begann auch in christlichen Kreisen die Forschung, das tiefere Eindringen in die Überlieferung der Kirche.

[243] Neue Dogmen hatten sich ausgebildet, für welche man Begründung und Sicherstellung suchte. Aus der strengen Einheitslehre, die das Christentum aus dem Vaterhause mitgenommen hatte, war im Laufe der Zeit, als die junge Kirche die Messianität Jesu immer mehr verherrlichte und seine Person bis zur Göttlichkeit erhob, eine Zweiheit entstanden, Vater und Sohn, oder Weltschöpfer und Logos. Bald kam ein drittes hinzu. Die ursprüngliche jüdische Anschauung von der Begeisterung der Propheten und anderer Frommen durch Gott mit den Worten heilige Begeisterung (Ruach ha-Kodesch) bezeichnet, erstarrte im Christentume zu dem Dogma vom heiligen Geiste als Person, welche als mit Gott und Christus ebenbürtig und ursprünglich bestehend angesehen wurde. Ohne es zu merken, hatte das Christentum, das sich für das wahre geistige geläuterte Judentum hielt, ein ganz anderes Gottesbewußtsein und eine Art Dreigöttertum angenommen. Je mehr das christliche Dogma von der Dreieinigkeit mit dem ganzen Wesen des Judentums im Widerspruch stand, desto mehr Mühe mußte es sich geben, auch als in der Ökonomie des alten Bundes begründet nachzuweisen und dadurch als uralt zu stempeln. Auf geradem Wege war aber dieser Nachweis nicht zu finden; daher nahmen die des Hebräischen kundigen Kirchenlehrer der palästinischen und alexandrinischen Schule zu allerlei allegorischen Deutungen Zuflucht. Wo immer in der heiligen Schrift mehrere Benennungen von Gott vorkommen, da glaubten sie schon im Buchstaben die Dreieinigkeit angedeutet zu sehen. Selbst den ganz unverfänglichen Eingang des Pentateuchs: »Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde,« gebrauchte die deutelnde Christologie als Beweis für Christus' Mitwirkung bei der Weltschöpfung, indem sie den »Anfang« als die »Weisheit,« das »Wort« als gleichbedeutend mit »Christus« ansah, und in jenem Satz das tiefe Geheimnis erblickte, in Christus habe Gott die Welt er schaffen.59 Um diese und ähnliche irreführenden Ableitungen christlicher Dogmen aus alttestamentlichen Stellen bewegte sich ein Religionsgespräch zwischen Papiscus und Jason, um die Mitte des zweiten Jahrhunderts. Die ehemalige gegenseitige Erbitterung zwischen Juden und Christen besonders aus der nazaräischen und gnostischen Kirche, die so weit gegangen war, daß auf der einen Seite das Judentum und der von ihm gelehrte Gott arg geschmäht, dagegen Jesus als Christus über alles erhoben und seine jungfräuliche Geburt betont, und auf der andern Seite der Stifter des Christentums herabgesetzt, die Legitimität seiner Abstammung bemängelt und die von ihm gepriesenen Wundertaten als ein [244] Erzeugnis magischer Künste bezeichnet wurden60 – diese gegenseitige Erbitterung hatte sich mit der Zeit gelegt. Dadurch war erst ein ruhiger, leidenschaftsloser Verkehr zwischen den Anhängern der verschiedenen Bekenntnisse möglich geworden. Freilich solange die Leiter der Christenheit in den hebräischen Urquellen des Judentums fremd waren, konnte kein ernstes Religionsgespräch mit ihnen geführt werden. Erst seitdem Kirchenlehrer, wie Origenes, sich auf das tiefere Verständnis des hebräischen Urtextes verlegten, wurden polemische Disputationen über christologische Themata häufiger.

R. Simlaï hat besonders die Gotteseinheit gegen das christliche Dogma der Dreieinigkeit vertreten und die Beweise dafür mit vieler Geschicklichkeit widerlegt. Vielleicht war gerade Origenes, welcher eine geraume Zeit in Palästina lebte, sein theoretischer Gegner. R. Simlaï wies in nüchterner Erklärungsweise nach, daß an allen solchen Stellen der heiligen Schrift, welche einen Stützpunkt für die Dreieinigkeit zu gewähren scheinen, die Einheit Gottes gleich dabei so scharf hervorgehoben und betont sei, daß ein Mißverständnis unmöglich scheine. In dem Verse: »Die Allmacht, Gott, der Herr weiß es« (Josua 2, 22.), auf den sich die Christen als auf eine glänzende trinitarische Beweisstelle beriefen, befinde sich gleich die Berichtigung: »Er, Gott, weiß es«, wodurch die Einheit des göttlichen Wesens unzweideutig hervorgehoben werde; jene Ausdrücke seien daher weiter nichts als gehäufte Benennungen, wie man einen und denselben Herrscher doch zugleich Basileus, Cäsar, Augustus nenne. Ebenso verhalte es sich mit den Ausdrücken im Psalm (50, 1.): »Die Allmacht, Gott, der Herr spricht«; dies sei eine rednerische Wiederholung, wie man von jemandem zu sagen pflege, er sei Künstler, Baumeister, Architekt, ohne damit eine Vielheit bezeichnen zu wollen.61 Juden und Christen, welche früher, als sie noch in einem Hause zusammen lebten, wie feindliche Brüder nur Gehässigkeit gegeneinander hegten, führten nur noch eine religiöse Polemik gegeneinander, welche nur dazu beigetragen hätte, die Begriffe zu läutern und die Wahrheit zu fördern, wenn sie sich in der friedlichen und harmlosen Art wissenschaftlicher Forschung gehalten hätte.

Die Polemik gegen das Christentum weckte in dieser Zeit sogar unter Heiden eine gewisse Kenntnis der jüdischen Dokumente, deren sie sich bedienen mußten, um das immer anmaßender auftretende Christentum zurechtzuweisen. Daniel mit seinen dunklen Andeutungen [245] und mystischen Zahlen war für christliche Dogmatiker ein sibyllinisches Buch, welches die christliche Ökonomie und Christus' Wiedererscheinung am jüngsten Tage prophezeit haben soll. Der heidnische Philosoph Porphyrius schrieb einen polemischen Kommentar zu dem Buche Daniel (der nur noch bruchstückweise vorhanden ist),62 gewiß der einzige biblische Kommentar von einem Heiden. Dieser zugleich nüchterne und mystische Neuplatoniker mit dem orientalischen Namen Malchus, aus der ehemals jüdischen Landschaft Batanea, behauptete in ihm, daß das Buch Daniel einen Verfasser voraussetze, der in der Zeit der Tyrannei des syrischen Königs Antiochos Epiphanes gelebt, und die dunklen Wendungen in ihm seien eben nur Anspielungen auf jene Zeit, wollen also keineswegs als Prophezeiungen gelten und noch weniger die Tatsachen des Christentums orakelhaft bestätigen.


Fußnoten

1 Das chaldäische Wort ארומא bedeutet ursprünglich dasselbe wie das Wort ןמגרותמ, d.h. Übersetzer, Dolmetsch, Erklärer, Ausleger.


2 Joma, p. 49 a.


3 Vergl. Note 25.


4 Jerus. Aboda Sara I, p. 39 d. Schebiit VI, p. 36 d.


5 Das. Nidda II, Ende.


6 Jerus. Berachot V. p. 9 a.


7 Das. Taanit III, p. 66 c.


8 Das.


9 Jerus. Baba Mezia II, Ende. Horajot III, p. 48 b. Die beiden teilweise korrumpierten Stellen können durch einander emendiert werden. ןיירפ אמע לכ ימח bedeutet, er sah alle Welt feiern; ןירפ von feriari gebildet. [Zur Erklärung genügt die Bedeutung: laufen, eilen].


10 Chulin 24 b.


11 Genesis Rabba, c. 84.


12 Erubin 65 b. Jerus. Taanit IV, p. 68 a und öfter in der talmudischen Literatur.


13 S. oben, S. 195.


14 S. Note 1.


15 Kidduschin 31 b.


16 Baba Mezia 84 a.


17 Chulin 137 b.


18 Exodus Rabba, c. 47. Leviticus Rabba 30. Midrasch Canticum, p. 30 a.


19 Sota 21 a.


20 Erubin 53 a. Jerus. Terumot X, p. 47 a; Synhedr. XI, p. 30 b.


21 [Zweifelhaft, eher R. Janna].


22 Jerus. Schebiit IX, p. 38 d. Beza I, p. 60 a. Die letzte Stelle ist korrekter und es ergibt sich daraus, daß hier von Sepphoris und von Chanina ben Chama die Rede ist.


23 [Im babylonischen Talmud vertritt R. Jochanan gerade den Satz הנשמ םתסכ הכלה. Nur hier und da sagt er התוא הנוש ינא דיחי ןושלבש ינטינקת לא, vergl. Lewy, Über einige Fragmente aus der Mischna des Rabba Joch. über den Widerspruch zwischen Babli Synhedrin 86 a und Jer. Jebamot 6 b].

24 Note 26.


25 Dieselbe Note.


26 Genesis Rabba, c. 36.


27 Oben, S. 223.


28 Genesis Rabba, c. 76.


29 Jerus. Synhedrin VIII, p. 26 b. Die wenig beachtete Stelle lautet: .ךלובג לעב ןדריה היהי ילובל ךוריכזה םא ילובמ רטפהל תושר ןילבק ןנחוי 'ר רמא. Daß βουλὴ hier gleich magistratus, das städtische Amt bedeutet, braucht Kennern kaum gesagt zu werden. Es war in der spätern Kaiserzeit so sehr lästig geworden, daß Reiche, denen diese teure Ehre zugedacht war, sich ihr durch die Flucht entzogen und die Kaiser Gesetze dagegen erlassen haben. Codex Theodosianus XII, 1, § 16, de decurionibus: Si ad magistratum nominati confugerint requirantur etc., das. § 29: Magistratus desertores ad eum ... faciat necessitatem conditionis urgeri etc. Dazu Godefroi: Annotat ... magistratibus magna onera incubuisse.


30 Jerus. Ketubbot V, p. 30 a.


31 Berachot 5 b. Baba Batra 116 a.


32 Baba Mezia 84 a.


33 Jerus. Megilla I, p. 72 b. [Nach Midr. Chazit soll R. I. drei und ein halbes Jahr an einer Krankheit gelitten haben, vergl. hebr. Zeitschrift Hammagid 71, S 231].


34 Jerus. Schebiit VI, p. 36 d, VIII, Ende. [Wird hier nur als Aufenthaltsort genannt].


35 Jerus. Jom Tob. V, 63 a. Babli Sabbat 119 b., s. R. Tam. Tosafot zu Baba Mezia 84 a und Jebamot 57 a.


36 Gittin 47 a.


37 Das. Jerus. Terumot VIII, p. 45 d. Die Notiz שיר יאדולל הישפנ ןיבז שיקל hat erst durch eine ebenso scharffinnige wie wahre Erklärung des seligen Dr. M. Sachs ihre richtige Bedeutung erhalten. Das in der Agadaliteratur vorkommende רדול ist gleich Λουδάριος, Gladiator, ein Tiertöter im Zirkus (Sachs, Beiträge I, S. 121). Mein geehrter Freund S. Nissen machte mich darauf aufmerksam, daß die Form ,םידול

יאדול im Talmud gleich ludi sei, nicht »Lydier« oder »Menschenfresser«, sondern Kampfspiele bedeutet, wozu handfeste Männer, bestimmt, wütenden Tieren im Zirkus den Garaus zu machen, angeworben zu werden pflegten.


38 Baba Mezia 84 a.


39 Joma 9, b.

40 Berachot 31 a.


41 Synhedrin 24 a. Baba Mezia 84 a.


42 Jerus. Sota V, Ende.


43 Das. Rosch ha-Schanah I, p. 56 d.


44 Joma 9 b.


45 Baba Mezia das.


46 [Vergl. dagegen Weiß Dor dor wedorschow III, p. 60].


47 Jerus. Pesachim V, p. 32 a, verglichen mit Babli das. p. 62 b.


48 Midrasch zu Kohelet 7, 7.


49 Berachot IX, Jerus. 12 d, Midr. Psalm 19, wo die Lesart אנינח 'ר.


50 Genesis Rabba, c. 33.


51 Synhedrin, p. 98 a.


52 Eine jüngere Agada unter dem Namen, auch השעמ ל"בירד, auch םניהגו ןדע ןג תכסמ.


53 S. Artikel Josua b. Levi in Heilperins תורודה רדס [vergl. Ketubbot 77 b]


54 [Nach Weiß, Dor dor etc. III, p. 131 war Simlaï in Nahardea geboren und lebte später zumeist in Lydda und Südpalästina. Siehe dort die Belege].


55 Jerus. Aboda Sara II, p. 41 d.


56 S. b. Pesachim 62 b.


57 Makkot 23 b, ff.


58 Aboda Sara Anfang.


59 Theophilos ad Autolycum II, 10. Hieronymus quaestiones in Genesin.


60 Celsus: Ἀλƞϑὴς λογος gegen das Christentum bei Origenes contra Celsum I, 7. Spuren von dieser erbitterten Anklage in Talmud Sabbat 104 b. [Nach Derenbourg ist אדטס ןב mit Jesus nicht identisch].


61 Genesis Rabba, c. 8. Jerus. Berachot IX, p. 11 d, 12 a.

62 Κατὰ Χριστιανῶν λόγον s. Hieron. praefatio in Danielem; es ist nach 268 geschrieben, vergl. Clinton, Fasti Romani I, p. 199; II, p. 301. Note Nr. 61.



Quelle:
Geschichte der Juden von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart. Leipzig 1908, Band 4, S. 247.
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