1. Kapitel. Babylonien und Judäa.

Rundschau: die Zendik; der König Kavâdh und der Reformator Mazdak; der Exilarch Mar-Sutra II., Mar-Chanina; Aufstand der babylonischen Juden; Hinrichtung Mar-Sutras und Chaninas; Verfolgung und Auswanderung; die Saburäer R. Giza von Sura und R. Simuna von Pumbadita. Neue Verfolgung unter Hormiz IV.; Anhänglichkeit der Juden an den Thronräuber Bahram; Wiedereröffnung der Lehrhäuser; die Schulhäupter und Exilarchen. Gedrückte Lage der Juden unter den byzantinischen Kaisern. Ihr Aufenthaltsort in Judäa; Jüdische Wagenlenker und Wettfahrer in Palästina; Geringe Lehrtätigkeit in Judäa; Kaiser Justinian und seine judenfeindlichen Verfügungen; sein Edikt gegen die agadische Auslegungsweise; die jüdisch-afrikanische Gemeinde zu Barion; Erbitterung der Juden gegen die byzantinische Tyrannei; ihre Beteiligung am Perserkriege gegen Palästina; Benjamin von Tiberias; kriegerische Streifzüge der Juden Palästinas; der Mönch vom Sinaï; Anschluß der Juden an Heraklius; Wortbruch dieses Kaisers gegen dieselben; Verfolgung und neue Verbannung aus Jerusalem.


500-630.

Im Anfang des sechsten Jahrhunderts schien das Judentum nach menschlicher Berechnung der Verkümmerung und Auflösung unrettbar verfallen. Hätte damals ein scharfsichtiger Beobachter eine Rundschau über die inneren und äußeren Zustände der Juden in denjenigen Ländern anzustellen vermocht, in denen die Zerstreuung sie in großen Massen zusammengehäuft hatte, so hätte er das Judentum als religiös-nationales Institut in den letzten Zügen liegend gefunden und ihm keine lange Lebensdauer prophezeien können. Die einheitliche Organisation, welche es durch die Tätigkeit von mehr als vier Jahrhunderten seit dem Untergang der Staatsverfassung erhalten hatte, war aufs ernstlichste gefährdet. Das Christentum hatte es in seiner Urheimat Judäa durch Verfolgung [1] der Gesetzeslehrer und Aufhebung des Patriarchats (B. IV4. S. 385) niedergeworfen und zur Ohnmacht verurteilt; jetzt bedrohte das Magiertum es auch in seiner zweiten Heimat, in Babylonien. In den europäischen Ländern waren die Juden in dieser Zeit noch nicht zum Bewußtsein erwacht und hatten außerdem einen Kampf auf Tod und Leben mit der siegreichen Kirche zu bestehen, welche ihnen als Religionsgenossen jeden Fußbreit Raumes streitig machte, jede Lebensbewegung verleidete und sie öfters gewaltsam in ihren Schoß oder in den Tod trieb. Nur in Nord-Arabien behaupteten jüdische Stämme eine gewisse Unabhängigkeit, während sie in Süd-Arabien eine äußerliche Machtstellung und sogar ein eigenes Reich bildeten. Allein es fehlte diesem jüdischen Staate und den freien jüdischen Stämmen die Lebensbedingung eines geistigen Prinzips, von dem sie getragen und zusammengehalten werden könnten. Darum wurde dieses himjaritische Königreich auch durch den starken Windstoß einer neuen geschichtlichen Zeit in Trümmer geworfen und jene Stämme in Abhängigkeit und Untertänigkeit gebracht, bis sie zuletzt in Atome aufgelöst wurden.

Auch in der inneren Entwicklung war das Judentum im sechsten Jahrhundert an die Grenze des Stillstandes gelangt, welche das Aufhören des geistigen Pulsschlages und den Tod herbeizuführen pflegt. Der Ausbau des Talmuds, die dialektische Erörterung der Gesetze in ihrem Umfange und ihrer Begründung, wenn auch in starrer Einseitigkeit gehalten, hatten dem Judentum Regsamkeit und Frische verliehen, den strebsamen Geistern einen weiten Spielraum zur Entfaltung ihrer Kräfte geöffnet und ihnen Gelegenheit gegeben, den Drang Neues zu schaffen, zu befriedigen. Es hatte etwas Verlockendes, diesen hoch aufgeschichteten Stoff allseitig zu durchdringen und ihn schöpferisch zu beherrschen. Dieser Reiz schien nach Abschluß des Talmuds, nach Rabina und seinen Mitarbeitern, abgestumpft. Alles war besprochen, durchdacht, geordnet, keine einzige Frage von Wichtigkeit schien unerledigt und ungelöst; höchstens war noch Raum zu einer weniger schöpferischen Tätigkeit, die Normen für das religiöse Leben zu bestimmen oder eine Auswahl aus dem Gegebenen zu treffen. Auch die Quellen, woraus die erregte Phantasie Begeisterung schöpfen konnte, waren versiegt. Die Einseitigkeit der talmudischen Richtung hatte das lebendige Wasser der biblischen Poesie unschmackhaft finden lassen, und die agadische Auslegung des Schriftwortes war in Spielerei und Unangemessenheit ausgeartet. [2] Welche unverwüstliche Gotteskraft muß im Judentum liegen, daß es ungeachtet so vieler Widerwärtigkeiten sich abermals aus dieser neuen Verdüsterung zum Lichte zu ringen vermochte!

Beginnen wir die Rundschau über die Lage der Juden mit Babylonien (Persien), das noch immer Hauptschauplatz der jüdischen Geschichte und gesetzgebende Autorität für die nahen und fernen Gemeinden war. Kaum hatten sich die Juden von der langen und grausigen Verfolgung, welche der König Perôz über sie verhängt hatte, ein wenig erholt (B. IV4. 372; 375.), als sie von neuen Stürmen heimgesucht wurden, welche die Ordnung von drei Jahrhunderten umstürzten. Auf Perôz war der König Kavâdh (Kowad, Cabades) (488-531) gefolgt, ein schwacher König nicht ohne gute Eigenschaften, der sich aber von einem Fanatiker als Werkzeug gebrauchen und zu Religionsverfolgungen hinreißen ließ.1 Unter diesem Könige trat nämlich ein Mann auf, der die Lichtreligion der Magier reformieren und sie zur herrschenden machen wollte. Mazdak – so hieß dieser Reformator des Magiertums2 – glaubte das Mittel gefunden zu haben, wie der verheißene Sieg des Lichtes über die Finsternis, des Ahura-Mazda über Angro-Mainyus, gefördert und dauerhaft gemacht werden könne. Habsucht nach Gütern, Begierde nach fremden Frauen waren nach seiner Ansicht die Quellen alles Übels unter den Menschen, die Anregung zu Neid, Haß und Freveltaten. Diese Anregung wollte Mazdak beseitigt wissen durch Gemeinschaft der Güter und der Frauen; selbst unter Blutsverwandten gestattete er ehelichen Umgang. Auf dem Grunde kommunistischer Gleichheit glaubte er das Ziel der Zoroasterischen Lehre am sichersten erreichen zu können. Da der Reformator uneigennützig war und ein streng tugendhaftes und asketisches Leben führte, so gewann er bald zahlreiche Anhänger (496), welche Gebrauch von dieser vorteilhaften Freiheit machten und sich Zendik nannten, als die wahren Bekenner des Zend (der Religion des Lebens und des Lichtes). Selbst der König Kavâdh wurde sein treuer Jünger und förderte Mazdaks Bestrebungen. Er erließ einen Befehl, daß sämtliche Bewohner des persischen Reiches dessen Lehre annehmen und danach handeln sollten. Die niedrigen Volksklassen, welche nichts zu verlieren [3] und alles zu gewinnen hatten, und denen an der Ehre ihrer Frauen wenig lag, geberdeten sich als die eifrigsten Zendik, und eigneten sich die Güter der Reichen und die Frauen, die ihnen gefielen, an. Es entstand eine Verwirrung der Begriffe von Recht und Unrecht, von Tugend und Laster, wie sie die Völkergeschichte noch nicht gesehen hatte. Obwohl die persischen Großen den kommunistischen König enthronten und in den Kerker warfen (496-498), so konnten sie doch nicht verhindern, daß, nachdem er aus dem Gefängnis befreit und mit Hilfe der Hunnen wieder in sein Reich eingesetzt worden war, Mazdaks Anhänger den Unfug erneuerten, so daß viele während Kavâdhs Regierung geborene Kinder ihre wahren Väter nicht kannten und niemand seine Besitztümer in Sicherheit genießen konnte. Mazdaks Kommunismus war nicht geeignet, ihn den Völkern wünschenswert zu machen. Der Unterkönig Mondhir von Hira, in der Nähe Pumbaditas, der sich nicht Mazdaks beglückenden Reformen anschließen wollte, mußte sein Land räumen, und Kavâdh setzte einen anderen arabischen Häuptling an seiner Stelle ein.3

Die Juden und Christen blieben natürlich von der Plage des kommunistischen Schwindels nicht verschont, und wenn unter dem gesetzlich gewordenen Raube der Zendik nur Begüterte litten, so mußte die Gemeinschaft der Weiber alle aufs Empfindlichste treffen. Keuschheit und Heiligkeit der Ehe waren unter den Juden stets heimische Tugenden, welche durch die talmudische Lehre noch tiefer in die Gemüter eingewurzelt waren. Sie konnten ihre Frauen und Jungfrauen nicht jeden Augenblick der Schändung ausgesetzt, die Familienreinheit, welche sie wie ihren Augapfel wahrten, besudelt sehen. Sie scheinen daher den frechen Angriffen der Zendik auf die Keuschheit bewaffneten Widerstand entgegengesetzt zu haben. Ein Aufstand, den eine Quelle in diese Zeit versetzt, ist aller Wahrscheinlichkeit nach zur Abwehr des unerträglichen Kommunismus organisiert worden. An der Spitze dieses Aufstandes stand der jugendliche Exilarch Mar-Sutra II., der eine nicht gewöhnliche Erscheinung gewesen sein muß, da die Sage seine Geburt und seine Taten mit wunderbaren Zügen ausgeschmückt hat.

Mar-Sutra (geb. um 496) war der Sohn jenes gelehrten Exilsfürsten Huna, der nach dem Tode des Tyrannen Perôz mit [4] er Exilarchenwürde bekleidet worden war (488-508).4 Er war beim Tode seines Vaters noch in zartem Knabenalter. Die Sage erzählt aber seine Geburtsgeschichte mit folgenden Zügen: Der Exilarch Huna, von hochmütigem Charakter, sei in Streit mit seinem Schwiegervater Mar-Chanina geraten und habe denselben, obwohl er zu den anerkannten Gelehrten gehörte, aufs Empfindlichste bestraft. Er habe ihn verurteilt, eine ganze Nacht im Freien vor dem Stadttore zuzubringen und allen verboten, ihm gastfreundliche Aufnahme zu gewähren. Mar-Chanina habe wegen der erlittenen Demütigung einen Strom von Tränen vergossen, und infolgedessen seien durch einen raschen Tod alle Glieder des Exilarchenhauses plötzlich hingerafft worden. Im Traume sei es aber Mar-Chanina vorgekommen, als habe er sämtliche Bäume eines Zedernwaldes umgehauen, von dem nur noch ein niedriges Reis übrig geblieben sei, und als er auch an dieses das Beil anlegen wollte, sei ihm der König David – dessen Nachkommen zu sein sich die Exilarchenrühmten – erschienen, der ihm drohend Halt geboten. Beim Erwachen habe Mar-Chanina erfahren, daß kein einziges Glied des Exilarchenhauses mehr am Leben sei, und die Zukunft des erlauchten Hauses im Schoße seiner eigenen Tochter, der Gattin des Exilarchen Huna, ruhe. Die Niederkunft seiner Tochter habe er daher mit vieler Ungeduld erwartet, weswegen er, unbekümmert um Regen und Sonnenstrahlen, an ihrer Türe gewacht, um sie vor jedem Unfalle zu schützen. Endlich sei er so glücklich gewesen, seine Tochter von einem Knaben entbunden zu sehen, eben jenem Mar-Sutra II. Diesen letzten Stammhalter des Exilarchenhauses umgab Mar-Chanina mit der zärtlichsten Pflege, erzog und unterrichtete ihn und hatte Freude an der frühreifen Entwicklung des Knaben. Zu fünfzehn Jahren war Mar-Sutra mit solchem Verstand begabt und mit einem solchen Maß von Kenntnissen ausgestattet, daß er fähig war, die Würde seiner Vorfahren zu übernehmen.

Als Exilarch fungierte während Mar-Sutras Minderjährigkeit sein Schwestermann Pachda, der aber nicht geneigt schien, die Würde dem rechtmäßigen Erben zu überlassen. Der Großvater Mar-Chanina begab sich daher mit ihm an den Hof des Königs, wahrscheinlich Kavâdhs, und bewirkte, vermutlich durch reiche Geschenke, Pachdas Amtsentsetzung und Mar-Sutras Investitur (um 511).5 [5] Der fünfzehnjährige Exilarch war es nun, der mit den Waffen in der Hand zur Verteidigung der jüdischen Familienehre und des Lebens seiner Brüder auftrat. Als nächste Veranlassung zur Schilderhebung wird der gewaltsame Tod eines Schulhauptes Mar-Isaak angegeben. Da auch der Vertreter des Judentums, Mar-Chanina, an dem Aufstand beteiligt war, so hatte er sicher einen religiösen Charakter.6 – Eine Schar von vierhundert jüdischen Kriegern bildete Mar-Sutras Gefolge, mit dem er wahrscheinlich Mazdaks räuberische und lüsterne Anhänger aus dem jüdischen Gebiete Babyloniens vertrieb und die frechen Eingriffe in die heiligsten Rechte abwehrte. Er soll ferner so glänzende Waffentaten ausgeführt haben, daß die Truppen, die der König zur Unterdrückung des Aufstandes ausgesandt hatte, ihm nicht beikommen konnten. Mar-Sutra soll sich sogar die Unabhängigkeit erkämpft und den nichtjüdischen Bewohnern Babyloniens Steuerleistung aufgelegt haben. Die Sage schrieb den Sieg der jüdischen Waffen einer wunderbaren Erscheinung, in Gestalt einer Feuersäule, zu, welche dem kriegerischen Exilarchen in den Schlachten vorangegangen sein soll. Machuza unweit Ktesiphon war Hauptstadt eines kleinen jüdischen Staates geworden, in dem der Exilarch gleich einem König residierte. So ganz unwahrscheinlich ist eine so glückliche Schilderhebung der Juden in dem dem Verfall entgegengehenden persischen Reiche nicht, wenn man sich erinnert, daß fünf Jahrhunderte zuvor zwei mittellose Jünglinge Asinaï und Anilaï in derselben Gegend ein unabhängiges jüdisches Gemeinwesen zu gründen und dem persischen König Anerkennung abzutrotzen vermocht hatten (B. III5. 371).

Beinahe sieben Jahre dauerte die von Mar-Sutra erkämpfte Unabhängigkeit; zuletzt wurde die jüdische Schar von einem überlegenen persischen Heere besiegt. Dabei geriet der Exilarch selbst in Gefangenschaft. Die Sage erklärt die Niederlage der jüdischen Krieger dadurch, daß sie, einmal an das Waffenhandwerk gewöhnt, sich über Religion und Sittlichkeit hinweggesetzt hätten, und alsbald wäre auch die Feuersäule, das sichtbare Zeichen des Sieges, von [6] ihren Zügen gewichen. Der Exilarch Mar-Sutra und sein greiser Großvater Mar-Chanina wurden hingerichtet und ihre Leichname an der Brücke von Machuza ans Kreuz geichlagen (um 520). Die Einwohner dieser Stadt wurden ihrer Habe beraubt und in die Gefangenschaft geschleppt; wahrscheinlich aber erstreckte sich die Verfolgung noch viel weiter. Die Glieder des Exilarchenhauses mußten sich durch Flucht retten und brachten den nach dem Tode des Vaters geborenen Stammhalter des Exilarchen-Geschlechtes – dem ebenfalls der Name Mar-Sutra beigelegt wurde – nach Judäa, wo er, herangewachsen, sich durch Gelehrsamkeit auszeichnete. In Babylonien war also durch Kavâdhs Verfolgung das Exilarchat für einige Zeit erloschen. Auch die talmudischen Akademien wurden geschlossen, da die Gesetzeslehrer verfolgt wurden und sich verbergen mußten. Zwei Männer von Autorität, R. Ahunaï und R. Giza, waren flüchtig; der letztere ließ sich am Flusse Zab nieder, wo vielleicht die Angeberei minder zu fürchten war. Andere Flüchtlinge mögen sich nach Palästina oder Arabien gewendet haben. Kavâdhs Rache wegen eines durch Fanatismus herausgeforderten Aufstandes hat dem geschichtlichen Leben der babylonischen Juden, das in beiden Akademien Sura und Pumbadita pulsierte, einen so harten Schlag versetzt, daß es sich nicht sobald erholen konnte. Indessen scheint sich die Verfolgung nicht über ganz Persien erstreckt zu haben; denn in Kavâdhs Heer, das gegen den byzantinischen Feldherrn Belisar kämpfte, dienten auch jüdische Soldaten, auf welche der persische Feldherr so sehr Rücksicht nahm, daß er um einen Waffenstillstand bat, um ihnen am Passahfest Waffenruhe zu gewähren.7

Nach Kavâdhs Tod hörte die Verfolgung gegen die babylonischen Juden von selbst auf. Denn wiewohl sein Nachfolger Chosrau Anôscharwan (531-578) ihnen nicht wohlgesinnt war und ihnen wie den Christen eine Kopfsteuer auflegte, von der nur Kinder und Greise befreit waren8, so war dieses kein Zeichen von Unduldsamkeit und Haß, sondern nur ein Mittel, den Staatssäckel zu füllen. Es findet sich unter Chosraus' langer Regierung keine Spur von Feindseligkeit gegen die Juden. Sobald die Ruhe wiedergekehrt war, beeilten sich die Vertreter der babylonischen Juden, die Institute wieder herzustellen, die Lehrhäuser wieder in den Gang zu bringen [7] und gewissermaßen die zerrissene Kette der Überlieferung wieder zusammenzufügen.

Man berief den Flüchtling Giza, der sich am Zabflusse verborgen gehalten, nach Sura, den Lehrstuhl einzunehmen; die Schwesterakademie Pumbadita erhielt an R. Simuna ihr Oberhaupt. Noch ein dritter Name klingt aus jener Zeit herüber: R. Rabaï aus Rob (unweit Nahardea), dessen Stellung und Funktion indessen zweifelhaft ist.9 Diese Männer mit ihren untergeordneten Genossen und Jüngern hatten nichts Wichtigeres zu tun, als ihre ganze Tätigkeit dem Talmud zu weihen. Es war das einzige Ziel aller Denkenden und Frommen jener Zeit, das zugleich den religiösen Eifer und den Ehrgeiz befriedigte, Seelenruhe gewährte, Ruhm eintrug und geistige wie zeitliche Zwecke förderte. Die Verfolgung der Lehre machte sie allen um so teurer und heiliger. Der Talmud war dem Volke ein heiliges Panier, um das es sich scharte.

Allein den Jüngern der letzten Amoräer war die Schöpferkraft ausgegangen, den Talmud weiter zu führen; auch waren sowohl der Lehrstoff, wie die Methode der Behandlung bereits so erschöpft, daß sie keiner Vergrößerung und Erweiterung mehr fähig waren. Der Stillstand in dem Talmudstudium, der sich schon nach R. Aschis, des letzten großen Amora, Tod bemerklich machte, hatte ein Jahrhundert später noch mehr zugenommen. Die Schulhäupter begnügten sich deshalb damit, den alten Brauch festzuhalten, die Talmudjünger in den Lehrmonaten Adar (März) und Elul (September) um sich zu sammeln, ihnen den Lehrstoff zu überliefern, sie in den Lehrgang einzuweihen und ihnen Aufgaben zu Selbstbeschäftigung zu geben. Allenfalls setzten sie viele Punkte der religiös-gesetzlichen Praxis für das Ritual und das Zivil- und Eherecht, welche bisher unerledigt geblieben waren, oder über welche in den Lehrhäusern Meinungsverschiedenheit herrschte, nach gewissen Normen fest. Der unübersehbare Stoff des Talmuds, welcher durch Diskussionen und Kontroversen der Bestimmtheit entbehrte, sollte zum praktischen Gebrauche benutzbar gemacht werden. Denn die Schwankung und Ungewißheit durften nicht fortdauern, wenn das religiöse Leben nicht in Verfall geraten sollte. Die Richter mußten eine feste Norm haben, nach der sie in vorkommenden Fällen entscheiden könnten, und jedermann brauchte eine unzweifelhafte Vorschrift, um das religiöse Leben zu [8] aegeln. Von dieser Seite ihrer Tätigkeit, dem Feststellen der religiösen und richterlichen Praxis nach Abwägen des Für und Wider, erhielten die nachamoräischen Lehrer den Namen Saburäer (Saburoï), weil sie nach Beurteilung der verschiedenen Meinungen (Sebara) die endgültige Entscheidung getroffen haben.10 Die Saburäer, deren Tätigkeit gleich nach Abschluß des Talmuds begonnen hatte und von R. Giza, R. Simuna und ihren Genossen nur fortgesetzt wurde, verfolgten eine mehr praktische als theoretische Richtung. Sie getrauten sich nicht eine eigene Meinung zu befolgen, welche im Widerspruch mit den Autoritäten des Talmuds stünde.

Die saburäischen Schulhäupter R. Giza und R. Simuna ließen sich zunächst angelegen sein, den Talmud schriftlich abzufassen.11 Sie bedienten sich teils mündlicher Überlieferung, teils schriftlicher Notizen, welche sich der eine oder andere gemacht hatte, um dem Gedächtnisse zu Hilfe zu kommen. Da den Nachfolgern der Amoräer alles, was von diesen Autoritäten stammte, bedeutsam schien, so nahmen sie jede Äußerung, jede Anekdote, wie sie in den Lehrkreisen im Umlauf war, willig auf, um der Nachwelt die Fülle der Weisheit, wie es ihnen schien, nicht vorzuenthalten. Zur Erläuterung dunkler Stellen fügten sie Zusätze hinzu, die sich von dem ursprünglichen Text durch größere Deutlichkeit, aber auch durch eine gewisse Breite und Weitschweifigkeit abheben. In dieser von den Saburäern redigierten Gestalt erhielten die zeitgenössischen Gemeinden und die Nachwelt den Talmud. Nach ihnen hat der Talmud schwerlich neue Zusätze erhalten.12

In der saburäischen Zeit sind die Anfänge einer Wissenschaft eingeführt worden, ohne welche die heilige Schrift ein versiegeltes Buch geblieben wäre, und welche die Einseitigkeit des Talmuds allmählich überwinden half. Die heiligen Bücher mit ihrer duftenden Poesie und ihren erhabenen Lehren waren unleserlich, weil ihnen [9] eine scheinbare Kleinigkeit mangelte – Vokale. Der Textbestand lediglich aus Konsonanten, die ohne das belebende Element der Vokale tot waren, so oder anders gelesen werden konnten und je nachdem einen verschiedenen Sinn gaben. Nur die Gesetzeslehrer und ihre Jünger konnten sie allenfalls aus Übung lesen, aber sie lasen sie mit der Brille des Talmuds. Dem Volke aber, welches nicht von Jugend an durch Überlieferung das Lesen des Textes gelernt hatte, blieben sie aus Mangel an Vokalzeichen völlig unzugänglich. In älterer Zeit hat es zwar die Verlegenheit dahin gebracht, daß Andeutungen für die drei Hauptvokale angebracht worden waren, aber auch das nur spärlich und nicht überall gleichmäßig durchgeführt. Selbst für Kundige waren Wörter, welche mit denselben Konsonanten geschrieben waren, aber eine verschiedene Bedeutung haben, sehr schwer zu unterscheiden. Wie sollte da der richtige Sinn der heiligen Schrift erfaßt werden?

Da wehte ein leiser Hauch wissenschaftlicher Regung vom absterbenden Griechenland nach Persien hinüber. Die fanatische Verfolgungssucht des Kaisers Justinian hatte die Philosophenschule von Athen schließen lassen und dafür unwissende Mönche begünstigt. Die letzten sieben Weisen Griechenlands wanderten nach Persien aus, weil sie den König Anôscharvan für einen Beförderer der Wissenschaft hielten. Zum Teil war er es auch. Von dem griechischen Geiste angeregt, entstand in der Gegend, wo Juden zahlreich wohnten, eine Schule für Heilkunde und Naturwissenschaft. Auch die Sprachwissenschaft fand einige Pflege unter den syrischen Christen am Euphrat und jenseits des Tigris. Es war eine Sekte, Nestorianer genannt, welche sich wegen eines dogmatischen Gezänkes von ihren Glaubensverwandten westlich vom Euphrat, den Jakobiten, getrennt hatten, und diese bitter haßten. Die Nestorianer standen den Juden näher, und ihre Priester und Gelehrten teilten nicht das Vorurteil und den Haß der abendländischen, oder wie sie sich nannten, der rechtgläubigen Christen, den Verkehr mit ihnen zu meiden. Diese syrischen Christen hatten – man weiß nicht genau zu welcher Zeit – in den Texten ihrer kirchlichen Schriften einen Notbehelf für Vokale eingeführt, wobei die Kenntnis grammatikalischer Regeln unentbehrlich war. Von diesen angeregt, begann unter den Juden in ihrer Nachbarschaft der Nacheifer, der heiligen Schrift ein wenig Aufmerksamkeit zuzuwenden.13 Um das Lernen und Bebliebener [10] (oder mehrere) ein, zuerst gleich den Syrern nur Punkte bei verschiedendeutigen Wörtern, nach und nach dann ein vollständiges System. Jeder Konsonant wurde mit einem Vokalzeichen versehen. Die Erfindung dieser Zeichen scheint jetzt kinderleicht, und doch waren Jahrtausende vergangen, ohne daß man darauf gekommen war. Das Einfache besteht darin, daß gewisse hebräische Konsonanten, welche bald konsonantisch, bald vokalisch klingen14, in winziger Form die Geltung von Vokalen erhielten. Diese verkleinerten Konsonantenbuchstaben wurden als Vokalzeichen oberhalb der Konsonanten gesetzt.

Fünf oder sechs Zeichen15 genügten, um die toten Gebeine der Konsonanten wie mit einem Hauche zu beleben und diese für jedermann leserlich zu machen. Wer war der Erfinder? Man weiß es nicht und wird das wohl auch nie erfahren. Vielleicht ein Lehrer der Kleinen, welcher damit ihnen das Lesen der heiligen Schrift erleichtern wollte. Der Unbekannte, welcher auf dieses einfache Hilfsmittel gekommen ist, hat damit einen für das Verständnis der heiligen Schrift unschätzbaren Dienst geleistet. Vermöge der Erschließung des Sinnes jedes Wortes und jedes Verses wurden die Grundwahrheiten und Lehren des Judentums erst erkennbar, und diese haben die allgemeine Sittlichkeit gefördert. Als die Christenheit aus dem tiefen Schlaf und dem rasenden Taumel des Mittelalters erwachte, griffen ihre geistigen Führer zunächst nach den heiligen Büchern in der hebräischen Urschrift und bannten damit den mittelalterlichen Spuk. Das Verständnis derselben war aber einzig und allein durch die Einführung der Vokalzeichen ermöglicht.

Der unbeachtet gebliebene Erfinder dieser Zeichen in Babylonien oder Persien, oder ein anderer, hat auch Akzentzeichen eingeführt, um die Vers- und Satzabteilungen anzudeuten, und auch diese in einfacher Form. Dieses einfache Vokal- und Akzentzeichensystem, das Jahrhunderte lang unbekannt geblieben ist und erst gegen die Mitte dieses Jahrhunderts bekannt wurde, wird das babylonische oder assyrische [11] genannt.16 Nur noch sehr wenige Exemplare sind mit diesen Vokal- und Akzentzeichen versehen. Es wurde nämlich von einem jüngeren System verdrängt, welches seinen Ursprung in Tiberias hatte. Seit der Erfindung dieser Zeichen haben die Abschreiber der heiligen Schrift hier und da den Text vokalisiert; es war das Geschäft der Punktatoren. Nur das Fünfbuch der Thora, aus welchem öffentlich in den Synagogen vorgelesen wurde, blieb und ist bis auf den heutigen Tag ohne Vokalzeichen, da die religiöse Peinlichkeit es nicht zuließ, auch nur einen Strich zu dem Buche hinzuzufügen, das die göttliche Offenbarung enthält. Die Punktatoren ließen sich teils von der seit Jahrhunderten überlieferten Aussprache, teils von einem gewissen grammatischen Takt leiten. Bei ihrer fortgesetzten Beschäftigung mit der heiligen Schrift erhellte sich die anfänglich traumhafte Ahnung des grammatischen Baues der hebräischen Sprache allmählich zur sicheren Erkenntnis der grammatischen Regeln. Die Beschäftigung mit der hebräischen Grammatik und mit der heiligen Schrift hätte schon früher die Alleinherrschaft des Talmuds erschüttert, wenn nicht unruhige Zeiten über die babylonischen und persischen Gemeinden hereingebrochen wären.

Wie lange R. Giza und R. Simuna, welche als die letzten Saburäer17 bezeichnet werden, fungiert haben, ist ungewiß, aber wohl kaum länger als bis zur Mitte des sechsten Jahrhunderts. Die ganze Dauer der eigentlich saburäischen Epoche beträgt nicht mehr als ein halbes Jahrhundert (500-550).18

Die Namen ihrer unmittelbaren Nachfolger hat weder die Chronik, noch die Tradition erhalten; sie sind in der Verfolgung, welche neuerdings über die Lehrhäuser hereinbrach, vergessen worden. Das Magiertum wetteiferte in diesem Jahrhundert mit dem Christentum um die Palme der Unduldsamkeit. Beiden war das Judentum ein Greuel, und die Priester zweier Religionen, von denen die eine den Sieg des Lichtes, die andere die Bruderliebe den Menschen verhieß, mißbrauchten schwache Könige zum Werkzeuge grausiger Verfolgung.

[12] Chosrau Arôscharvans Sohn, Hormiz (Hormuz) IV. (579-589) war seinem großen Vater in allen Stücken unähnlich. Solange sein Erzieher und Ratgeber, Buzurǵ-Mihir, der persische Seneka, lebte, – der für den schwächlichen König das Schachspiel erfunden haben soll, um ihm die Abhängigkeit des Königs von Heer und Volk augenfällig zu machen – scheute sich Hormisdas seinen wahren Charakter zu zeigen. Als dieser Weise sich aber zurückzog, kam die Nero-Natur des Königs zum Ausbruch und überschritt den Damm der Mäßigung und Klugheit.19 Von den Magiern geleitet, welche den herannahenden Untergang ihrer Religion durch Verfolgung Andersgläubiger aufhalten wollten, kehrte sich sein Zorn gegen Juden und Christen seines Reiches. Welchen Umfang die von Hormiz verhängte Verfolgung hatte, ist nicht bekannt, nur das eine weiß man, daß die talmudischen Lehrhäuser in Sura und Pumbadita geschlossen wurden und die Gesetzeslehrer wiederum wie unter Perôz und Kavâdh in Massen auswanderten (um 581). Sie ließen sich in Perôz-Schabur (unweit Nahardea) nieder, das, weil von der persischen Hauptstadt Ktesiphon entfernt und unter einem arabischen Häuptling stehend, ihnen Schutz bot. In Perôz-Schabur setzten sie ihre Tätigkeit fort, und es entstanden dort neue Lehrhäuser, von denen sich das von R. Mari am meisten auszeichnete.20

Glücklicherweise dauerte Hormiz' grausige Regierung nicht lange; die Perser wurden unzufrieden und aufsässig, die politischen Feinde Persiens drangen von allen Seiten in dessen Gebiet ein und eigneten sich Länderstrecken an. Das Reich der Sassaniden wäre damals schon einem glücklichen Sieger zugefallen, wenn es nicht der mutige Feldherr Bahram Kôbîn vom Untergange gerettet hätte. Als aber der unbesonnene König in seiner Verblendung so weit ging, den Retter des Vaterlandes mit Undank zu lohnen und ihn seines Amtes zu entsetzen, empörte sich Bahram gegen ihn, stürzte den Unwürdigen vom Throne und warf ihn in einen Kerker, wo er später ermordet wurde (589). Bahram, der anfangs zum Scheine im Namen des Prinzen Chosrau die Regierung führte, warf später die Maske ab und setzte sich selbst auf den persischen Thron (589-90). Die Juden Persiens und Babyloniens begrüßten in Bahram ihren Befreier; er war für sie dasselbe, was der Kaiser Julian zwei [13] Jahrhunderte vorher für die Juden des römischen Reiches gewesen war. Er hob den über sie verhängten Druck auf und begünstigte ihre Bestrebungen. Dafür hingen sie ihm auch mit vieler Hingebung an, unterstützten ihn mit Geld und Mannschaften und waren seinem vielumstrittenen Throne eine Stütze, ohne welche er sich schwerlich auch nur auf kurze Zeit hätten halten können. Denn das persische Volk wendete nach kurzem Schwanken seine Sympathie dem rechtmäßigen Thronerben Chosrau zu; nur das Heer blieb Bahram größtenteils treu, und die Juden sorgten sicherlich für Verpflegung und Sold der Truppen. – Die Wiedereröffnung der geschlossenen Lehrhäuser in Pumbadita und Sura, welche in der Chronik für das Jahr 589 eingezeichnet ist, steht mithin ohne Zweifel in ursächlichem Zusammenhange mit der Anhänglichkeit, welche die persischen Juden diesem Herrscher erwiesen. – R. Chanan aus Iskia21 kehrte von Perôz-Schabur nach Pumbadita zurück und stellte die alte akademische Ordnung wieder her; wahrscheinlich erhielt auch die weit angesehenere suranische Akademie zur selben Zeit ihr Oberhaupt, obwohl der Name desselben in den Chroniken verschwiegen ist.

Bahrams Regierung dauerte indessen nicht lange. Der byzantinische Kaiser Mauritius, bei dem der flüchtige Königssohn Chosrau Zuflucht genommen hatte, sandte ein Heer zu seiner Hilfe, dem sich die treugebliebenen Perser anschlossen, um Bahram zu bekämpfen. Viele Juden büßten ihre Anhänglichkeit an den Usurpator mit dem Tode. Der persische Feldherr Mebodes ließ bei der Einnahme der Stadt Machuza – welche der König Nuschirvan nach dem Muster des syrischen Antiochien erbaut und ihr den Namen Antiochia Rumija gegeben, und in welcher eine starke jüdische Bevölkerung wohnte – die meisten derselben über die Klinge springen.22 An anderen Orten, wohin Chosraus siegreiche Heere gedrungen, ging es ihnen wohl nicht besser. Bahrams Heer wurde besiegt, und er selbst gezwungen, bei den Hunnen Zuflucht zu nehmen. Chosrau II. mit dem Beinamen Perôz bestieg den Thron seiner Väter. Dieser ebenso gerechte wie milde Fürst, der eher seinem Großvater Nuschirvan als seinem Vater Hormiz glich, ließ den Juden ihre Beteiligung am Aufstande nicht entgelten. Während seiner langen Regierung (von 590-628) findet sich keine Spur einer Härte gegen die Juden. [14] Die beiden Akademien bestanden unter ihm ununterbrochen fort. Auf R. Chanan folgte Mari bar Mar23, der in Perôz-Schabur in Lehrhaus gegründet hatte – während in Sura zur selben Zeit ein Schulhaupt ähnlichen Namens Mar bar Huna fungierte24 (609 bis um 620), in deren Zeitalter die Juden Palästinas neue Siege errangen und Niederlagen erlitten. Auch die Nachfolger derselben sind bekannt: Chaninaï von Pumbadita und Chananjah von Sura, welche das siegreiche Vordringen der Araber und den Untergang der Perserherrschaft erlebten.25 Denn die letzten Sassanidenherrscher, deren es in der kurzen Zeit von zwölf Jahren zehn gegeben hat, hatten nicht Muße genug, sich mit der jüdischen Bevölkerung ihres zerrütteten Reiches zu beschäftigen. Daher bestand die alte Ordnung in dem jüdisch-babylonischen Gemeinwesen fort, und es hatte noch seinen Exilarchen an der Spitze. In dem halben Jahrhundert von der Wiedereröffnung der Akademie unter Bahram bis in die arabische Zeit (589-640) werden drei Resch-Galuta namhaft gemacht: Kafnaï26, Chaninaï und Bostanaï, von denen der letzte in seinem Mannesalter der nachfolgenden Epoche angehört und die Exilarchenwürde wieder, von den Zeitumständen begünstigt, zu einer wesenhaften Macht erhob. Denn bis dahin beruhte das Ansehen des Exilarchen mehr auf der Volkssympathie als auf einer von dem Staate anerkannten Stellung.27 Die Erinnerung an die Davidische Abstammung und das Andenken an den Märtyrertod der Exilarchen Huna Mari (IV4. 372) und Mar-Sutra II. hatten die exilarchatische Familie dem Herzen des Volkes teuer gemacht. Das Exilarchat galt als Überbleibsel aus einer glorreichen Zeit; da aber die Träger sich durch nichts besonders ausgezeichnet haben, sind ihre Namen in der erinnerungsarmen Epoche bis auf wenige der Vergessenheit verfallen. Überhaupt ist die Saburäerepoche eine der dürftigsten in der ganzen jüdischen Geschichte. Sie hat außer Mar-Sutra keine bedeutende Persönlichkeit erzeugt. Die[15] Träger derselben, die Schulhäupter waren unselbständig28, lebten von den Brosamen der talmudischen Zeit und haben auch nicht ein einziges Literaturerzeugnis von Belang zutage gefördert, das wert gewesen wäre, der Nachwelt aufbewahrt zu werden. Das jüdische Babylonien, das gleichzeitig mit der Sassanidenherrschaft seinen Anfang und Aufschwung genommen, versank mit derselben gleichzeitig in Schwäche; weil ihm aber, als dem vom Geiste Getragenen, mehr Kraft innewohnte, verfiel es nicht dem Untergang, sondern raffte sich, von einem erfrischenden Luftzug der Geschichte angeweht, aus dem Schlummer wieder auf.

Für die Juden im persischen Morgenlande wechselte doch wenigstens Sturm mit Windstille ab. Im Stammlande und in dem byzantinischen Morgenlande dagegen war ihnen weder die Ruhe vergönnt, welche die Gleichgültigkeit der Herren gegen eine Volksklasse gewährt, noch wurden sie von Stürmen gepeitscht, welche, indem sie niederwerfen, zum Aufraffen stählen. Das byzantinische Reich, dem auch das heilige Land verfallen war, fügte zu dem altrömischen Hochmut noch die griechische Tücke und den giftigen Haß hinzu, welchen die Gläubigen aus den Schriften der Kirchenväter gegen die Juden gesogen hatten. In Byzanz wurde das Stichwort eingeführt, welches den Juden das allerschwerste Verbrechen auflud: sie wurden als Gottesmörder gebrandmarkt. Trotzdem schlug man sie nicht tot, sondern duldete sie, um sie zu entwürdigen, sie elend und verkümmert zu machen, damit sie als abschreckendes Beispiel ihrer gottesmörderischen Tat dastehen sollten.

Laut der Gesetzgebung Theodosius des Jüngeren, die von Justin dem Älteren neuerdings eingeschärft wurde29, waren die Juden von Ehrenämtern ausgeschlossen und durften keine Synagogen bauen. Seine Nachfolger, durchweg fanatisch gesinnt, ließen die Gesetze gegen sie mit aller Strenge handhaben. Von welchem Geiste die oströmischen Machthaber gegen die Juden beseelt waren, bezeugt ein Ausspruch des Kaisers Zeno, des isaurischen Emporkömmlings. In Antiochien, wo, wie in allen größeren Städten des byzantinischen Reiches, das Rennbahnspiel und die Parteiung der zwei Farben, der Blauen und Grünen bestanden, hatten die letzteren einst einen jener Aufläufe gemacht, die selten ohne Blutvergießen abliefen. Die Grünen [16] hatten bei dieser Gelegenheit unter anderen auch viele Juden ermordet, ihre Leichen ins Feuer geworfen und ihre Synagoge verbrannt. Als Kaiser Zeno davon benachrichtigt wurde, äußerte er sich darüber: die Grünen seien nur deswegen strafbar, daß sie nur die toten Juden und nicht auch die lebenden verbrannt haben30! Das durch Kirchenstreitigkeit und Farbenparteiung verwilderte Volk sah in dem Judenhaß der Machthaber die stillschweigende Aufforderung, seine Wut gegen die Juden auszulassen. Namentlich war die antiochensische Bevölkerung von jeher feindlich gegen die Juden gesinnt. Als daher einst ein berüchtigter Wagenlenker Kalliopas aus Konstantinopel nach Antiochien gekommen war, sich zu den Grünen hielt und einen Tumult verursachte, empfanden die Juden wiederum die tierische Grausamkeit dieser Partei. Ihre Anhänger hatten sich zu einer Feierlichkeit nach Daphne, nahe bei Antiochien, begeben, wo sie ohne erhebliche Veranlassung die Synagoge und ihre Heiligtümer zerstörten und die Beter unmenschlich töteten (9. Juli 507).31

Wieviel Raum war überhaupt den Juden im Lande ihrer Väter geblieben? Es gibt kein schriftliches Denkmal aus dieser Zeit, das darüber Zeugnis ablegte. Während die Kirchenliteratur in Wundergeschichten, Martyrologien und dogmatischen Streitschriften eine Menge Städtenamen und Plätze des heiligen Landes auffrischt, ist die jüdische Literatur dieser Epoche stumm darüber und nennt weder den Namen einer Stadt, noch den einer hervorragenden Persönlichkeit, an welche der geschichtliche Faden einen Anknüpfungspunkt hätte. Nur aus zerstreuten Nachrichten der Kirchengeschichte kann man ungefähr entnehmen, in welchen Städten Palästinas die Juden in größeren Massen zusammen wohnten, und wo der schwache Herzschlag des heruntergekommenen geschichtlichen und geistigen Lebens kaum vernehmbar pulsierte.

Jerusalem war schon lange nicht mehr Mittelpunkt für die Juden; es war eine durch und durch christliche Stadt mit einem [17] Erzbistum geworden und seinen rechten Söhnen vollständig unzugänglich. Das Verbot, daß Juden die heilige Stadt betreten dürfen, von Konstantin erneuert, bestand noch fort und wurde von den Behörden und den noch mißgünstigeren Geistlichen aufs strengste gehandhabt. Nur Tiberias, die herrliche Stadt am See, von R. Jochanan zum Range einer akademischen Stadt erhoben, behauptete noch diesen Rang, war dadurch ein Mittelpunkt und genoß auch bei den ausländischen Juden Autorität. Selbst der jüdische König von Arabien unterwarf sich freiwillig den Mahnungen, die ihm von Tiberias zukamen.32 Das Christentum hatte aber auch da Platz gegriffen und Tiberias war ebenfalls der Sitz eines Bistums. In den galiläischen Gebirgsstädten wohnten Juden, wahrscheinlich derselben Beschäftigung wie ihre Vorfahren ergeben, dem Landbau und der Ölzucht.

Nazareth, die Wiege des Christentums, wo man die schönsten Frauen in ganz Palästina antraf, hatte, wie es scheint, meistens jüdische Bewohner, da es nicht zum Range eines Bistums erhoben war. Auch Skythopolis (Bethsan), welches in diesem Jahrhundert die Hauptstadt des zweiten Palästina (Palaestina secunda) bildete, so wie Neapolis (Sichem), die Haupstadt der Samaritaner, seitdem Samaria christlich geworden war, hatten jüdische Einwohner.33 Aber in allen diesen Städten, mit Ausnahme von Nazareth, erscheinen die Juden nur als Minderzahl und verschwinden fast gegen die zahlreiche christliche Bevölkerung. Das Christentum hatte sich Judäas vollständig bemächtigt und war der Erbe des Judentums geworden. Während die ehemaligen Herren des heiligen Landes öfter chikaniert wurden, wenn sie eine baufällige Synagoge mit einem Anschein von Neubau ausbesserten, erhoben sich überall im Lande Kirchen und Klöster. Bischöfe, Äbte und Mönche machten sich in Palästina breit und verwandelten es zum Tummelplatz dogmatischen Gezänkes über die einfache und doppelte Natur Christi.

Über das bürgerliche und geschäftliche Leben der palästinensischen Juden wissen wir gar nichts aus dieser Zeit. Merkwürdig ist es, daß sie, trotz der Hintansetzung von seiten des Staates, doch die Modetorheit der Rennbahn mitmachten. Es gab unter ihnen ebenfalls Wagenlenker, Wettfahrer und Farbenparteien von Grünen und Blauen, wie in Konstantinopel, Antiochien und anderen größeren [18] Städten des byzantinischen Reiches. Aber wie in jener Zeit jede Lebensbewegung den Stempel des Konfessionellen an sich trug, so mischten sich auch in den Parteikampf der Farben die religiösen Streitigkeiten. Der Sieg oder die Niederlage der jüdischen, samaritanischen oder christlichen Wagenlenker waren zugleich Veranlassungen zu Angriffen dieser Religionsgenossen auf ihre Gegner.34

Eine Art Lehrtätigkeit bestand wohl unter den palästinensischen Juden; allein sie muß so dürftig und bedeutungslos gewesen sein, daß sich weder der Name eines Ortes, wo ein Lehrhaus bestanden, noch der einer Person, welche der Träger derselben gewesen sein mochte, erhalten hat. Die angesehensten Gesetzeslehrer führten den Titel Vortragende (Resche Pirke, ἀρχιφερεκίται35), und der jüngere Mar-Sutra, Sohn des hingerichteten Exilarchen gleichen Namens, der, wie schon oben erzählt, als Kind nach Palästina gebracht worden war, fungierte als solcher.36 Neben und unter den Resche Pirke lehrten andere unter dem Titel die »Alten« (πρεσβύτεροι) oder unter dem Namen »Lehrer« (magistri). Die Dürftigkeit der Lebensverhältnisse zwang die Lehrer Sold für ihre Tätigkeit zu nehmen, was früher niemals vorkam und auch in dieser Zeit scharf getadelt wurde, aber nicht abgestellt werden konnte.37 Die Lehrweise war, dem verkommenen Zustande der Zeit entsprechend, ohne Bedeutung, ohne Selbständigkeit, ohne Geist. Das Studium der strengen Halacha hatte längst seine Pflege in Palästina eingebüßt. Die agadische Homilie war der Lieblingsgegenstand für Hörer und Lehrer. Aber auch in diesem Punkte war dieses Jahrhundert nicht schöpferisch. Man sammelte und stoppelte nur alles zusammen, was aus frühern Zeiten bekannt war. Die Sammlung der Agadas war leicht. Da es gestattet war, sie niederzuschreiben, so hat sich der eine oder der andere kleine agadische Sprüche oder längere Ausführungen in einem Hefte angemerkt, und daraus entstand die [19] Literatur der Agada, der sogenannten Midraschim, welche die Prediger beim Vortrage benutzten. Man ordnete den agadischen Stoff entweder nach dem fortlaufenden Text des Pentateuchs und der fünf hagiographischen Bücher, welche in der Synagoge vorgelesen wurden, oder man stellte ihn für die außerordentlichen Sabbate und Feiertage zusammen (Pesikta's).38 Die Halacha oder das Gesetzesstudium fand nur insoweit Pflege, als es für das tägliche Bedürfnis der religiösen Praxis (Ma'asséh) nötig war. Die wenigen Kundigen stellten für die Ritualien alles zusammen, was aus ältern Boraïtas und dem jerusalemischen Talmud darüber vorhanden war, fügten allenfalls hinzu, was der Brauch in den Gemeinden, im Widerspruch mit den Autoritäten, als religiöse Sitte (Minhag) sanktioniert hatte. Auf diese Weise entstanden die sogenannten kleinen Traktate (Massechtot Ketanot). Nur ein einziger Name von denen, welche als Sammler für die religiöse Praxis tätig waren, klingt aus jener lautlosen Zeit herüber. Ein gewisser R. Jonathan wird als der letzte Praktiker39 (Ssof Ma'asséh) bezeichnet, ohne daß man weiß, in welcher Zeit er gelebt hat. Nur ungefähr ist angedeutet, daß er nach R. Gizq und R. Simuna (d.h. also nach 550) gewirkt hat.

Der Gottesdienst erhielt in dieser Zeit einen veränderten Charakter. Während früher jedermann, selbst Unmündige40, vor die Gesetzeslade treten und als Vorbeter fungieren durften, mußte in diesem Jahrhundert, weil die Kenntnis des Hebräischen geschwunden war, ein eigner Beamter dafür angestellt werden, der den Titel Chasan führte.41 Gewisse Partien des Gottesdienstes trug der Vorbeter mit einer Art Kantilation vor.42 An Sabbaten, Feiertagen und Halbfeiertagen blieb zwar die Vorlesung aus der heiligen Schrift mit targumistischer Übersetzung des Vorgelesenen und dem agadischen Vortrage, der sich daran knüpfte, Hauptbestandteil des Gottesdienstes; aber es setzten sich schon neue Partien an, teils Psalmen, teils neuformulierte Gebetstücke (Pijut, Chasanut.43) Eigene[20] Gebräuche waren damals noch für den Gottesdienst üblich, welche sich später verloren haben. Nicht nur die Esther Rolle, sondern auch die übrigen vier sogenannten hagiographischen Bücher (Megillot: Schir haschirim, Ruth, Kohelet und Echa) wurden an zwei oder einem Sabbat vor dem Tage, an welchem sie öffentlich vorgelesen wurden, und zwar nachmittags, ebenfalls gelesen und agadisch erläutert.44

Bis zu Justinians Zeit genossen die Juden Palästinas und des byzantinischen Reiches, so sehr sie auch bürgerlich hintangesetzt wurden, wenigstens vollkommene Religionsfreiheit. Die Kaiser mischten sich in die innern Angelegenheiten nicht ein. Der erste, der sie bürgerlich noch mehr beschränkte und ihnen noch dazu Gewissenszwang aller Art auflegte, war der Kaiser Justinian. Von ihm rührt das schmachvolle Gesetz her, daß jüdischen Zeugen keine Glaubwürdigkeit beizumessen sei gegen Christen, nur untereinander seien sie zulässig (532);45 die Juden waren indessen noch bevorzugt gegen die Samaritaner, deren Zeugnis gar keine Gültigkeit hatte, und die auch nicht einmal über ihre Hinterlassenschaft testamentarisch verfügen durften. Es war dies ein Akt der Rache gegen die Samaritaner, weil sie mehrere Aufstände gegen die kaiserliche Gewalt versucht und sich einst auch einen König Julian ben Sabar gewählt hatten (um 530). Da die Juden sich aber nicht an diesem Aufstande beteiligt hatten46, so genossen sie einen gewissen Vorzug vor den Samaritanern. Sonst stellte Justinian die Anhänger beider Bekenntnisse in jeder Beziehung gleich. Obgleich die Juden und Samaritaner gleich den Ketzern von Ehrenämtern ausgeschlossen waren, sollten sie nach einer Verfügung das lästige und kostspielige Dekurionat (Magistratswürde) zu übernehmen verpflichtet sein, ohne jedoch die damit verbundenen Privilegien zu genießen, nämlich Befreiung von Geißelstrafe und Exil. »Sie sollten das Joch tragen, wenn sie auch darunter seufzen; aber jeder Ehre sollen sie unwürdig gehalten sein« (537).47

Der Kaiser verbot auch bei schwerer Strafe den Juden am Passahfeste feiertägigen Gottesdienst zu halten und ungesäuertes Brot zu genießen. Es gab nämlich noch immer eine christliche Sekte, die »Vier zehntägen« genannt, welche die Ostern nicht [21] nach der Bestimmung der nicäischen Kirchenversammlung unter Konstantin am Sonntag nach Vollmond im Frühlingsanfang feierten, sondern sich nach dem jüdischen Passahfest richteten und sie mit den Juden zugleich am fünfzehnten Nissan begingen. Anstatt diese Sekte zur Beobachtung der kirchlichen Regeln anzuhalten, verletzte Justinian durch ein Gesetz das Gewissen der Juden auf das Empfindlichste. So oft nämlich in einem dem Schaltjahr vorangehenden Jahre das jüdische Passahfest mit dem christlichen Ostern zusammentraf, durften es die Juden nicht in dieser Zeit feiern, damit es nicht den Anschein habe, als feierten die Christen das jüdische Passah. Noch andere Eingriffe machte Justinian in die religiösen Angelegenheiten. Eine jüdische Gemeinde, vielleicht in Konstantinopel, war seit einiger Zeit in Spaltung geraten. Ein Teil derselben wünschte, daß der Vorlesung aus dem Pentateuch und den Propheten an den Sabbaten und Feiertagen eine Übersetzung der verlesenen Abschnitte in griechischer Sprache für die Unkundigen und das weibliche Geschlecht nebenhergehen solle. Die Frommen dagegen und namentlich die Gesetzeslehrer empfanden eine Scheu, die Sprache ihrer Peiniger und die Sprache der Kirche beim Gottesdienste zu gebrauchen, wohl auch darum, weil dann keine Zeit für die krause agadische Auslegung bliebe. Der Streit darüber war so heftig, daß die griechische Partei ihn vor den Kaiser brachte und an ihn, als die letzte Instanz, appellierte. Justinian mußte sich allerdings nach seiner Anschauungsweise für die griechische Übersetzung entscheiden. Er empfahl den Juden, sich besonders der Septuaginta oder Aquilas' Übersetzung beim Gottesdienste zu bedienen. Auch in jede andere Sprache, wie die lateinische in den italischen Provinzen, sollten die Vorlesungen aus der heiligen Schrift übertragen werden. Soweit war Justinian im Rechte. Er verbot zwar auch, unter Androhung körperlicher Züchtigung, den Anhängern der alten Liturgie, die griechische oder neuerungssüchtige Partei in den Bann zu tun. Aber auch diese Verfügung könnte allenfalls als ein Akt der Gerechtigkeit angesehen werden, indem der Kaiser die liturgische Freiheit gewahrt wissen wollte. Allein eine andere damit verbundene Verfügung zeigt unzweideutig, daß er damit nur ein Bekehrungsinteresse verfolgt hat, weil er im Wahne war, daß durch die Benutzung der griechischen Übersetzung beim synagogalen Gottesdienste, namentlich der Septuaginta, welche bereits christlich zugestutzt war, die Juden für den christlichen Glauben gewonnen werden würden. Er verfügte nämlich [22] bei schweren Strafen, daß sämtliche jüdische Gemeinden des byzantinischen Reiches sich bei den sabbatlichen Vorlesungen durchaus einer Übersetzung in griechischer oder lateinischer Sprache bedienen sollten, natürlich auch diejenigen, welche gar keine Lust dazu hatten. Er verbot ferner die bis dahin übliche agadisch-erbauliche Auslegung der heiligen Schrift (δευτέρωσις) zu gebrauchen. Justinian wollte demnach die nationale Auffassung der heiligen Schrift zugunsten der im Sinne des Christentums vielfach veränderten Übersetzung unterdrücken. Der Gottesdienst in der Synagoge sollte als Mittel zur Bekehrung der Juden dienen, und der fromme Geist, der in den agadischen Auslegungen und Homilien weht, sollte vermittelst der typologischen Umdeutung des Inhaltes zugunsten der christlichen Glaubenslehren verbannt werden. Justinian, der Despot, beabsichtigte also keineswegs der Synagoge eine Art Freiheit zu schenken, sondern wollte im Gegenteil ihr eine Art Zwang auflegen. Es war ihm auch so sehr ernst mit diesem Erlasse, daß er seinem Minister Areobindus den Befehl erteilte, das Edikt in betreff der griechischen Übersetzung bei synagogalen Vorlesungen allen Beamten der Provinzen bekannt zu machen und ihnen einzuschärfen, über die pünktliche Erfüllung desselben streng zu wachen (13. Februar 553).48

Indessen hat dieses bösgemeinte Edikt keine weitern Folgen gehabt; daß Bedürfnis nach einer Übersetzung der heiligen Schrift war bei den Juden im allgemeinen nicht so lebhaft, daß sie davon hätten Gebrauch machen sollen. Die Partei, die es gewünscht hatte, stand vereinzelt, und allzuschwer war es nicht, wo die Gemeinden einig waren, den Gottesdienst in hergebrachter Weise zu begehen und sich den Augen der Behörden zu entziehen. Die Kanzelredner fuhren fort, sich der bisher üblichen Auslegung zu bedienen und unterließen es keineswegs in ihren Vorträgen versteckte Angriffe auf das judenfeindliche Byzanz zu machen. »Dort gibts Gewürm ohne Zahl« (Psalm), »das bedeute die zahllosen Edikte, welche das römische Reich (Byzanz) gegen uns schreibt; die großen und kleinen Tiere, das sind die Herzöge, Statthalter und Heerführer; wer sich ihnen zugesellt (von Juden) wird einst zu Spott werden«.49 »Wie der abgedrückte Pfeil nicht eher wahrgenommen wird, bis er [23] das Herz getroffen, so geht es mit den Dekreten Esaus (Byzanz). Seine Pfeile kommen plötzlich, und man gewahrt sie nicht eher, bis das Wort gesprochen ist, ob es gilt Hinrichtung oder Kerker. Der Pfeil, der am Tage fliegt, das sind ihre Schreibereien.«50 In diesem Sinne predigten die Lehrer in Judäa. Die Fürsorge des byzantinischen Hofes für das Seelenheil der Juden vergewissern noch andere Erlasse und Verbote. Sie durften nicht in den Synagogen den Vers des Einheitsbekenntnisses rezitieren, als wenn auch nur das Aussprechen des Bekenntnisses: »unser Gott ist einig-einzig« ein lächerlicher Protest gegen die Dreieinigkeit wäre. Sie durften ferner nicht im Gebet den Vers »heilig, heilig, heilig ist der Herr Zebaoth« sprechen, weil dieser Vers christlicherseits als unwiderleglicher Beweis für die Dreieinigkeit geltend gemacht, von den jüdischen Vorbetern deswegen mit einem erläuternden Zusatz gegen die Dreieinigkeit gesprochen wurde. Endlich durften sie nicht an Sabbaten die Abschnitte aus dem Propheten Jesaia öffentlich lesen und auslegen, welche für das elende, sturmgepeitschte, ungetröstete Zion Trost und Erhebung aus dem Staube verheißen. Damit die Juden ja nicht diese Verbote übertreten, fanden sich Aufpasser in den Synagogen ein, welche das Gebet zu überwachen hatten. Diese weilten zur Beaufsichtigung an Sabbaten und Festtagen, an denen der Gottesdienst länger dauerte, stundenlang in den Bethäusern. Die Juden mußten sich fügen; um nicht Strafen zu verfallen, sprachen sie die verbotenen Gebetstücke leise oder versammelten sich zitternd um gemeinsamen Beten zu einer anderen Tageszeit hinter dem Rücken der Auflaurer.

Es muß aber eine eigene Bewandtnis damit gehabt haben, daß Justinian, der von fanatischem Bekehrungseifer beseelt war, doch den Juden weder direkt noch indirekt das Christentum aufzwang, wie er es mit den Samaritanern machte. Sollte er ihre entschiedene Abneigung und ihre große Zahl gefürchtet haben? Nur eine fernliegende Gemeinde in Afrika in der Nachbarschaft von Mauretanien mit Namen Borion hat Justinians Bekehrungseifer empfunden. Die Juden dieser Stadt Borion führten den Ursprung ihrer Ansiedlung in Salomos Zeit zurück und rühmten sich, der weise König habe ihre Synagoge erbaut. Sie bildeten einen kleinen Freistaat, der weder den Römern, noch später den Vandalen zinsbar war. Bei [24] Belisars Kreuzzug gegen die Vandalen müssen die Juden Borions wohl Widerstand geleistet haben, da sie Justinian zur Taufe zwang und ihre alte Synagoge in eine Kirche verwandelte.51

Die palästinensischen Juden hatten keine Ursache, mit Justinians Regierung zufrieden zu sein, die mit ihrem System der Steuererpressung und der Scheinheiligkeit doppelt auf ihnen lastete. Der Statthalter des ersten Palästina, Stephanus, sicherlich nicht besser als die meisten Beamten der justinianischen Zeit, mochte wohl dazu beigetragen haben, die Gemüter zu erbittern, und war daher verhaßt. Doch war die Zeit dahin, wo die Juden, wenn das Joch der Fremdherrschaft unerträglich wurde, es mit Unwillen abgeschüttelt und zu den Waffen gegriffen haben. Die Samaritaner aber waren in dieser Zeit leidenschaftlicher und tollkühner, weil ihnen seit den Tagen des Kaisers Zeno viel Leid zugefügt worden war. Die wiederholten Aufstände, die sie vergeblich versucht, hatten die ihnen angelegten Fesseln nur noch drückender ge macht, namentlich, seitdem sie unter ihrem Eintagskönig Julian die ihnen verhaßten Christen so schonungslos niedergemetzelt hatten. Sie wurden noch nachdrücklicher zur Annahme des Christentums gezwungen, und wer sich widersetzte, verlor das Recht, über sein Vermögen zu verfügen. Obwohl der Bischof Sergius von Cäsarea den Samaritanern das Zeugnis ausgestellt hatte, daß ihre Halsstarrigkeit erweicht sei, sie dem Christentume sich immer aufrichtiger anschlössen, und, obgleich er es bei Justinian durchgesetzt hatte, daß die gegen sie erlassenen Gesetze gemildert würden, so bargen sie doch im Herzen den tiefsten Haß gegen ihre Peiniger, und als solche betrachteten sie sämtliche Christen. Bei einer Wettfahrt der Wagenlenker in der Hauptstadt Cäsarea, wo es durch die Eifersucht der Farben aufeinander stets tumultuarisch zuging, ließen die Samaritaner die Zügel schießen und fielen die Christen an. Die jüdische Jugend machte gemeinsame Sache mit ihnen. Beide vereint, metzelten ihre christlichen Gegner nieder und zerstörten die Kirchen. Als der Statthalter Stephanus den Christen zu Hilfe eilte, bedrängten sie ihn und seine militärische Begleitung so hart, daß er sich in sein Amtsgebäude (Praetorium) zurückziehen mußte, töteten ihn in seinem Hause und verbreiteten Schrecken in der Stadt und Umgegend (Juli 556). Die Samaritaner rechneten wahrscheinlich auf einen ihrer Stammesgenossen mit Namen [25] Arsenios, der bei der allmächtigen Kaiserin allmächtiger Günstling war und für sie geheime Aufträge besorgte.52 Stephanus' Gemahlin eilte nach Konstantinopel, um dem Kaiser von den Unruhen und dem Tode ihres Gatten Anzeige zu machen, und Justinian sandte hierauf dem Statthalter des Orients, Amantius, der in Antiochien residierte, den Befehl zu, mit Waffengewalt einzuschreiten. Amantius konnte den Befehl leicht ausführen, da die Bewegung nicht von ernstlicher Bedeutung war, indem weder sämtliche Samaritaner, noch Juden Palästinas sich dabei beteiligt hatten. Die Strafe traf daher auch nur die Schuldigen, die aber dem Geiste jener Zeit angemessen war: Köpfen, Hängen, rechte Hand abhauen und Güterkonfiskation.53

Justinians Nachfolger, Justin der Jüngere, scheint keine Veränderung in den Gesetzen gegen die Juden vorgenommen zu haben. Wiewohl er die drückenden Bestimmungen seines Vorgängers gegen die Samaritaner erneuerte und dieselben des Rechts beraubte, letztwillige Verfügung über ihr Vermögen zu treffen und Geschenke an Lebende zu machen, findet sich von ihm dennoch kein Edikt zum Nachteil der Juden. Unter den beiden vortrefflichen Kaisern Tiberius und Mauritius ist von Juden keine Rede. Erst unter dem Thronräuber Phokas, welcher die Zeiten der Caligula und Commodus wieder heraufbeschwor, kommt eine Begebenheit vor, welche beweist, wie sehr die Juden von der Willkür der Beamten und dem Übermut der Geistlichen gelitten haben müssen, so daß sie sich zu grausamer Tätlichkeit hinreißen ließen. In Antiochien, wo ein Haß zwischen Juden und Christen seit Jahrhunderten bestand und durch stete Reibungen noch mehr gesteigert wurde, überfielen die Juden, vielleicht bei Gelegenheit von Wettfahrten im Zirkus, ihre christlichen Nachbarn, vergalten ihnen die erlittenen Unbilden mit gleichem Maße, töteten diejenigen, die in ihre Hände fielen, und warfen sie ins Feuer, wie es jene mit den Juden ein Jahrhundert vorher gemacht hatten (S. 17). Den Patriarchen Anastasius, der Sinaite genannt, ein Gegenstand besonderen Hasses, mißhandelten sie schimpflich, ehe sie ihm den Tod gaben und schleiften seinen Leichnam durch die Gassen. Als Phokas von diesem Aufruhr Nachricht erhielt, [26] ernannte er Bonosus zum Statthalter des Morgenlandes und Kotys zum Heerführer der morgenländischen Truppen und gab ihnen den Auftrag, die Aufständischen zu züchtigen. Aber die Juden Antiochiens hielten sich so tapfer, daß das römische Heer nichts gegen sie vermochte. Erst als sie mit zahlreichen Truppen, aus der Nachbarschaft zusammengezogen, von neuem angegriffen wurden, mußten sie die Waffen strecken und fielen der Rache der römischen Heerführer anheim, welche sie teils töteten, teils verstümmelten und teils in die Verbannung schickten (Septbr. und Oktobr. 608).54

Der Ingrimm der Juden fand unerwartet und gerade durch die Untaten des Kaisers Phokas Gelegenheit sich Luft zu machen. Der Thronraub dieses Kaisers an seinem Vorgänger Mauritius hatte den Perserkönig Chosrau II., der des letzten Schwiegersohn war, herausgefordert, Angriffe auf die römische Besitzung im Orient zu machen. Ein ungeheures persisches Heer überschwemmte Kleinasien und Syrien unaufhaltsam, ungeachtet dessen, daß der neuerwählte Kaiser Heraklius dem Perserkönig die verdiente Züchtigung des Phokas angezeigt und um Frieden gebeten hatte. Eine Abteilung des persischen Heeres unter dem Feldherrn Scharbarza stieg dabei von den Höhen des Libanon herab, um Palästina dem byzantinischen Zepter zu entreißen. Bei der Nachricht von der Schwäche der christlichen Waffen und den Fortschritten des persischen Heeres erwachte eine ungestüme Kampfeslust in der Brust der palästinensischen Juden. Die Stunde schien geschlagen zu haben, die jahrhundertelang erduldete Demütigung dem zwiefachen Feinde, dem[27] Römer und Christen, zu vergelten. Der Herd der kriegerischen Bewegung der Juden war die Stadt Tiberias. Sie ging von einem Manne namens Benjamin aus, welcher ein erstaunliches Vermögen besaß und es dazu verwendete, jüdische Truppen anzuwerben und auszurüsten. Ein Aufruf erging an sämtliche Juden Palästinas, sich zu sammeln und sich dem Zuge der Perser anzuschließen. Die kräftigen jüdischen Bewohner von Tiberias, Nazareth, den galiläischen Gebirgsstädten scharten sich sofort um die persischen Fahnen. Wuterfüllt, wie diese Schar war, hat sie sicherlich die Christen und ihre Kirche in Tiberias nicht verschont und wohl dem Bistum ein Ende gemacht, obwohl diese Tatsache nicht erzählt wird. – Unter Scharbarzas Heer marschierten sie auf Jerusalem zu, um die heilige Stadt den Christen zu entreißen. Die Juden Südpalästinas schlossen sich ihnen an, und mit diesen vereint und von einer Sarazenenschar unterstützt, nahm der persische Feldherr Jerusalem mit Sturm. (Juli 614). Neunzigtausend Christen sollen in Jerusalem umgekommen sein.55 Aber erfunden ist der Zug, daß die Juden die christlichen Gefangenen den Persern abgekauft und sie mit kaltem Blute getötet haben sollen. Nur im heißen Kampfe und in der Wallung des Siegesrausches mögen sie ihren Todfeinden das getan haben, was ihrer wartete, wenn sie unterlegen wären. In einer Zeit, wo die Religion die Köpfe benebelt und die Herzen ausgetrocknet hatte, war bei keiner Religionspartei Menschlichkeit anzutreffen. Gegen die christlichen Heiligtümer wüteten die Juden allerdings schonungslos. Sämtliche Kirchen und Klöster wurden durch Feuer zerstört, woran die Juden allerdings mehr Anteil gehabt haben mögen als die Perser.56 War doch Jerusalem, der Juden ureigener Besitz, ihnen durch List und Gewalt entrissen worden! Mußten sie nicht die heilige Stadt durch die Verehrung des Kreuzesholzes und der Märtyrergebeine für ebenso entweiht halten, wie durch die Götzen des Antiochos Epiphanes und Hadrians? Die Juden scheinen sich der Hoffnung hingegeben zu haben, daß die Perser ihnen Jerusalem mit einem Gebietsteile als Gemeinwesen übergeben würden. Religionseifer und Rachegefühl zugleich fanatisierten [28] sie, die Gegenstände der Entweihung aus der heiligen Stadt verschwinden zu machen.

Mit den Persern vereint, streiften die Juden in Palästina umher, zerstörten die Klöster, von denen das Land erfüllt war, und vertrieben oder töteten die Mönche. Eine Schar, bestehend aus Juden von Jerusalem, Tiberias, Galiläa, Damaskus und sogar von Cypern, unternahm einen Streifzug gegen Tyrus, aufgefordert von den Juden dieser Stadt (4000), die Christen in der Osternacht plötzlich zu überfallen und niederzumachen. 20 000 Mann soll die jüdische Schar betragen haben. Die Veranlassung zu dieser Kraftanstrengung ist nicht bekannt. Die Unternehmung scheiterte aber, weil den Christen in Tyrus verraten wurde, was ihnen bevorstand. Sie kamen daher ihren Feinden zuvor, bemächtigten sich ihrer jüdischen Mitbewohner, warfen sie in Kerker und erwarteten die Ankunft der jüdischen Schar, welche die Tore verschlossen und verteidigt fand. Diese rächte sich wiederum an ihren Feinden durch Zerstörung der Kirchen um Tyrus. So oft aber die christlichen Tyrier die Nachricht von der Zerstörung einer Kirche erhielten, töteten sie hundert von den gefangenen Juden und warfen ihre Köpfe über die Mauer. Auf diese Weise sollen 2000 derselben ums Leben gekommen sein. Die jüdische Belagerungsschar aber, entmutigt durch den Tod ihrer Brüder, zog ab und wurde von den Tyriern verfolgt.57

Ungefähr vierzehn Jahre waren die palästinensischen Juden von dem Anblick ihrer christlichen Feinde befreit: Die Erfolge der ersten Zeit erfüllten sie mit Freuden. Es gingen wohl manche Christen aus Furcht oder Verzweiflung an dem Fortbestand des Christentums zum Judentum über. Einen großen Triumph bereitete den Juden die Bekehrung eines Mönchs, der sich aus freiem Antriebe zum Judentum bekannte.58 Dieser Mönch hatte viele Jahre in dem Kloster auf dem Berge Sinaï mit Büßungen und Litaneien zugebracht. Mit einemmal stießen ihm Zweifel an der Wahrheit des Christentums auf. Er wollte durch lebhafte Träume darauf gekommen sein, die ihm auf der einen Seite Christus, die Apostel und Märtyrer in finstern Nebel gehüllt, auf der andern Seite Mose, die Propheten und die heiligen Männer des Judentums lichtumflossen zeigten. Des inneren Kampfes müde, stieg er vom Berg Sinaï [29] herab, wanderte durch die Wüste nach Palästina und begab sich endlich nach Tiberias, wo er der Gemeinde seinen festen Willen, sich zum Judentum zu bekennen, kundgab. Er unterwarf sich der Beschneidung, nahm den Proselytennamen Abraham an, heiratete eine Jüdin und wurde ein eifriger Verfechter des Judentums und ein heftiger Gegner seiner angestammten Religion59.

Indessen hatte sich die Hoffnung, welche die Juden auf den persischen Sieger gesetzt hatten, nicht erfüllt. Die Perser räumten ihnen nicht die Stadt Jerusalem ein, taten nichts, um ein freies jüdisches Gemeinwesen aufkommen zu lassen und mögen sie noch außerdem durch Steuern bedrückt haben. Es entstand daher eine große Verstimmung zwischen den Bundesgenossen, die wohl auch in Tätlichkeit ausgeartet sein mochte. Der persische Feldherr bemächtigte sich daher vieler Juden Palästinas und schickte sie in die Verbannung nach Persien. Dieses Verfahren machte die Juden noch unzufriedener und bewog sie, ihre Gesinnung zu ändern und sich dem Kaiser Heraklius zu nähern. Dieser Fürst, der das seltene Beispiel gab, wie ein abgestumpfter Feigling gleichsam über Nacht ein feuriger Held werden kann, und der, nachdem er jahrelang die Schmach gehäufter Niederlagen mitangesehen hatte – indem sein Reich von zwei Feinden, den Persern von der einen und den Avaren von der andern Seite, eingenommen war – sich plötzlich ermannte und ihnen Sieg auf Sieg abrang, fand sich geneigt, die Feinde in Judäa für sich zu gewinnen, um dem Hauptgegner Verlegenheit zu bereiten. Heraklius ging daher ein förmliches Bündnis mit den Juden ein, das wahrscheinlich Benjamin von Tiberias betrieben hatte, sicherte ihnen Straflosigkeit für die den Christen zugefügten Unbilden zu und verhieß ihnen noch andere Vorteile, die wir weiter nicht kennen (um 627.60)

Heraklius Siege, Chosraus Verblendung und die Empörung seines Sohnes Syroes gegen ihn, brachten dem griechischen Kaiser wieder alle jene Länder ein, die nahe daran waren, dauernd in persische Satrapien umgewandelt zu werden. Infolge des Friedensschlusses zwischen Heraklius und Syroes – der seinen alten Vater entthronte und töten ließ – verließen die Perser Judäa, und so kam das Land wieder in byzantinische Botmäßigkeit (628). Im Herbste dieses Jahres zog der gekrönte Kaiser im Triumph nach [30] Jerusalem, um am vermeintlichen Grabe Jesu Dank für die unerwartet errungenen Siege darzubringen und das geraubte echte Kreuz wieder dort aufzurichten. Auf seinem Zuge berührte Heraklius Tiberias, wo er von dem reichen Benjamin gastlich bewirtet wurde, der auch das byzantinische Heer mit Lebensmitteln versorgte. In einer Unterredung fragte ihn der Kaiser, was ihn denn bewogen habe, eine den Christen so feindliche Gesinnung zu zeigen. Offenherzig antwortete Benjamin: »Weil sie Feinde meines Glaubens sind«.61

Als Heraklius die heilige Stadt betrat, verlangten die Mönche und der Patriarch Modestus ungestüm von ihm, daß er sämtliche Juden Palästinas ausrotten möchte, zunächst aus Rache für ihr Verhalten gegen die Christen, und aus Vorsicht, damit sie nicht bei etwaigen neuen Einfällen sich feindselig gegen die Christen zeigen sollten. Der Kaiser berief sich aber auf das den Juden gegebene feierliche und schriftliche Versprechen, das er nicht verletzen dürfe, ohne vor Gott als Sünder und vor den Menschen als Treubrüchiger zu erscheinen. Dagegen machten die fanatischen Mönche geltend, daß die Ermordung der Juden, weit entfernt ein Verbrechen zu sein, im Gegenteil ein Gott gefälliges Opfer sein werde. Das Sündhafte daran wollten sie übernehmen und für ihn eine besondere Fastenwoche einsetzen. Sie wollten nämlich in der ersten Woche der großen Fleischfasten vor Ostern nicht einmal Eier, Käse und Fische genießen. Diese Wendung überzeugte den überfrommen Kaiser; er beschwichtigte damit sein Gewissen und ließ eine Hetzjagd gegen die Juden in ganz Palästina anstellen und alle diejenigen niedermetzeln, welche sich nicht in den Schlupfwinkeln der Gebirge bergen oder nach Ägypten entfliehen konnten.62

In Ägypten bestanden damals noch jüdische Gemeinden und selbst in Alexandrien, aus dem sie der Fanatiker Cyrill im Anfang des fünften Jahrhunderts vertrieben hatte (B. IV4. S. 359), waren die Juden wieder angesiedelt. Ein wegen seines Reichtums und seiner Freigebigkeit ausgezeichneter alexandrinischer Jude Namens Urbib, hatte während einer seuchenerzeugenden Hungersnot die Dürftigen ohne Unterschied des Glaubens mildherzig gespeist.63 Von dem ehemaligen Glanze und der Bedeutung der alexandrinischen [31] Juden war allerdings kaum der Schatten geblieben. Aber wenn sie auch in der allgemeinen Entartung der Zeit ihren Sinn für Wissenschaft und Bildung eingebüßt hatten, so blieb ihnen doch das warme Mitgefühl für ihre leidenden Brüder. Sie nahmen die unglücklichen Flüchtlinge aus Judäa, die Opfer des mönchischen Fanatismus, brüderlich auf. Von der Verfolgung des Heraklius blieb nur Benjamin von Tiberias, der Hauptagitator in dem Aufstande gegen die Römer, verschont; aber er brachte seine Religion zum Opfer seiner Ruhe. Auf Zureden des Kaisers empfing er die Taufe.64 Das Andenken an Heraklius' schmachvollen Treubuch gegen die Juden erhielt sich durch die ihm zu Ehren eingesetzte Fastenzeit noch lange, indem sie die morgenländischen Christen, namentlich die Kopten und Maroniten, noch mehrere Jahrhunderte beobachteten. Sie büßten das Gemetzel vieler Tausende von Menschen durch Enthaltung von manchen Speisen ab.65

Heraklius erneuerte bei dieser Gelegenheit das Hadrianische und Konstantinische Edikt, daß die Juden Jerusalem und dessen Weichbild nicht betreten durften (628.66) Die Verfolgung dieses Kaisers gegen die Juden Palästinas67 gab der Sage Veranlassung zu erzählen, Heraklius habe durch astrologische Verkündung erfahren, daß dem byzantinischen Reiche von einem beschnittenen Volke Untergang bevorstehe und, indem er dieses auf die Juden bezogen, habe er einen Befehl in seinem ganzen Reiche ergehen lassen, sämtliche Juden, welche sich nicht zum Christentum bekehren wollten, zu vertilgen. Er habe sogar, so erzählt die Sage weiter, an Dagobert, König von [32] Frankreich geschrieben, die Juden seines Landes zur Taufe zu zwingen und die Widerstrebenden auszurotten.68 Indessen ist Heraklius von diesem Blutbade freizusprechen. Denn nach seinem Tode befanden sich noch Juden in der byzantinischen Hauptstadt, und diese benutzten die Verwirrung, welche nach dem Tode seines Sohnes Konstantin entstanden war, als Volk und Heer gegen die Kaiserin Martina und ihren Sohn Herakleonas erbittert waren, die Sophienkirche zu zu stürmen (641).69 Auch bedurfte es nicht der astrologischen Afterweisheit, um die Schwächung des byzantinischen Reiches durch das beschnittene Volk der Araber zu prophezeien. Noch während Heraklius Leben pochte dieses ritterliche, von Begeisterung für einen neuen Glauben erglühte Volk an die Pforte des byzantinischen Reiches und verlangte mit wildem Ungestüm Eingang. Der Kaiser erlebte noch, wie Judäa, Syrien und Ägypten dem Kreuze entrissen wurden und unter die Herrschaft der Nachfolger des Propheten von Mekka kamen. Die Christen, bis dahin fanatisch verfolgungssüchtig, erfuhren bei dieser Gelegenheit, wie Unduldsamkeit schmerzt. Aber der Islam war lange nicht so verfolgungssüchtig wie das Christentum.


Fußnoten

1 [Vgl. jedoch die Schilderung, die Procop bei Nöldeke, Gesch. der Perser u. Araber zur Zeit der Sassaniden, S. 142 Anm. 3 von ihm entwirft, wonach K. sehr klug und energisch war!]


2 [Über diese Bewegung vgl. Nöldeke a.a.O. S. 455 ff.]


3 [Vgl. Nöldeke S. 147 ff.]


4 Siehe Note 1.


5 [Vgl. jed. S. P. Rabbinowitz in der hebr. Übersetzung von Graetz Bd. V, לארשי ימי ירבד T. III, S. 17, Anm. 1, wo darauf hingewiesen wird, daß, nach Seder Olam Sutta (vgl. ed. Lazarus, d. Häupter der Vertriebenen usw. S. 168, Z. 4-5) umgekehrt Pachda dem König Geschenke gegeben hat].


6 [Vgl. über dies. Punkt des Mar-Sutra-Berichtes die Ausführungen Brülls in Jahrbücher für jüd. Gesch. u. Literatur Bd. II S. 52 Anm. 76].


7 Bar-Hebräus, historia Chronicon syriacum. Text p. 85.


8 Khondemir in de Sacys recherches sur quelques antiquités de la Perse p. 372.

9 Vgl. Note 2.


10 Vgl. Note 2.


11 Note 2. [Vgl. hierüber besonders Brüll, die Entstehungsgeschichte des babylon. Talmud als Schriftwerk in Jahrb. II, S. 1-121, wo unter anderem auch die Tätigkeit des R' Achaï ben Nehilai eingehend gewürdigt und die von den Saburäern angewendete Mnemotechnik näher behandelt wird.]


12 [Vgl. jed. Brüll a.a.O. S. 73 ff., wo noch Zusätze aus gaonäischer Zeit nachgewiesen werden. Nach Frankelin Monatsschrift 1861, S. 266 sind alle anderen Zusätze nur Interpolationen.]


13 [Vgl. jedoch gegen die Annahme einer Spur der griechischen Vokalzeichen der Syrer Prätorius in ZDMG Ihrg. 53 (1899): Über das babylonische Vokalisationssystem der Hebräer, S. 190-1.]


14 Wie w und u, j und i.


15 Für ein kurzes a wurde ein ganz kleines Ajin gebraucht, für i ein winziges Jod oder ein Punkt, für o (oder langes a) ein kleines Aleph, für u ein kleiner senkrechter Strich als Waw, für ä (oder ai) zwei Punkte = zwei Jod nebeneinander, und für lang o (oder au) zwei Punkte übereinander.


16 [Reste dieser Punktation haben sich noch in einzelnen alten Handschriften, besonders in Jemen, allerdings mit einigen Modifikationen, erhalten.]


17 Note 2.


18 [Zur neuesten Literatur hierüber vgl. A. Epstein in RdÉJ. Bd. 36, S. 221-238. Elbogen in Monatsschr. 1902, S. 5 ff.


19 [Vgl. jed. das Urteil bei Nöldeke S. 264 u. ebendort Anm. 5.]


20 Scheriras Sendschreiben 38 unten. Ich zitiere nach B. Goldbergs Ausgabe in Chophes matmonim. Vgl. Note 3.


21 [Nach Brüll a.a.O. S. 84, Anm. 80 vielleicht das am östlichen Euphrat gelegene Sekia.]


22 Note 3.


23 [Richtig: Mari bar Dimi; vgl. Teschuboth ha-Geonim ed. Lyck. Nr. 45, S. 18b u. 43a, ferner Brüll a.a.O. S. 54 Anm. 81.]


24 Scherira das.


25 Scherira das.


26 Siehe Note 4.


27 [Nach dem Scheirabrief, ed. Neub. S. 33, 7-10 war die Exilarchenwürde sowohl in der Perserzeit, wie zum Beginn der Araberherrschaft käuflich; vgl. auch Rabbinowitz a.a.O. S. 25.]


28 [Vgl. jed. die Darstellung Brülls, bes. betr. des R. Achaï.]


29 Codex Justiniani L. I. T. V. § 12.


30 Malalas Chronographia S. 389 f. [Οἱ πράσινοι ἐν Ἀντιοχείᾳ] ἐφόνευσαν, φƞσὶν, Ἰουδαίους μƞδενὸς φειδόμενοι. Καὶ ἀνƞνέχϑƞ τῷ αὐτῷ βασιλεῖ Ζἠνωνι τὸ γενόμενον ὑπὸ τῶν πρασίνων πρὸς τοὺς Ἰουδαίους ἀσέβƞμα, καὶ ἀγανάκτƞσε κατὰ τῶν πρασίνων λέγων διά τι τοὺς νεκροὺς μόνον τῶν Ἰουδαίων ἔκαυσαν; ἐχρῆν γὰρ αὐτοὺς τοὺς ζῶντας καῠσαι. Die Byzantiner zitiere ich nach der Bonner Ausgabe.


31 Das. 396.


32 Vgl. darüber Note 5.


33 Das.


34 Malalas Chronographia 446 ᾽Πσαν δὲ καὶ ἄλλοι ἡνίοχοι ... Σαμαρεῖται καὶ Ἰουδαῖοι. Theophanes Chronographia I. 356. Τούτῳ τῷ ἔτει – ἐστασίασαν οἱ Ἰουδαῖοι καὶ Σαμαρεῖται ἐν Καισαρείᾳ τῆς Παλαιστίνƞς, καὶ ποιἠσαντες πρὸς ἀλλἠλους ἐν τάξει Πρασινοβενέτων ἐπῆλϑον τοῖς Χριστιανοῖς τῆς αὐτῆς πόλεως.


35 Justiniani novellae No. 146. [Vgl. über die Archipherekiten Brüll, Jahrb. V. 94-97 und jetzt auch noch meine Abhandlung über die Lehrverfassung der Metibtas in der Monatsschr. Jahrg. 52.


36 Seder Olam sutta, Ende.


37 Massechet Derech-Erez c. 4.


38 [Als solche kommen in Betracht die Pesikta di R' Kahana (ed. Buber 1868) u. P'sikta Rabbati (ed. Friedmann, Wien 1880).]


39 S. Note 2. [Vgl. die Bemerkungen hierzu.]


40 [Unmündige durften nie gottesdienstliche Funktionen ausüben.]


41 Massechet Soferim c. 10. halacha 8; 14, 14; 19, 12. [Vgl. über die Bedeutung des Chasan eine Abhandlung über die Entwicklung der synagogalen Literatur im Jahrg. 52 der Monatsschr.]


42 Soferim 14, 9; 20, 9.


43 Das. 13, 10 f.; 14; 16, 12; 19. [Die vom Verf. hier angewendeten Bezeichnungen decken sich nicht mit dem Inhalt dieser Stellen.]


44 Das. 14, 18; 18, 4.


45 Codex Justiniani L. I. T. 5. § 21; Novella 45.

46 S. Note 6.


47 Novella 45.


48 S. Note 7. [Vgl. hierüber meine Ausführungen in der Monatsschr. a.a.O.]


49 Midrasch Tehillim zu Psalm 104, 25 [(ed. Buber, Wilna 1891 S. 445 bis 446)].


50 Midrasch Tehillim zu Psalm 120, [5 (ebend. S. 504-5.)]


51 Procop de aedificiis VI. 2.


52 Das. Historia arcana edit. Bonn p. 150-52 und Cyrillus Scythopolitanus St. Sabae vita in monumenta ecclesiae graecae edit. Cotelerii T. III. p. 340.


53 Malalas Chronographia 488. Theophanes chronographia 1. 356.


54 Theophanes das. I. 456. Das Jahr, welches aus dem griechischen Texte nicht zu ermitteln ist, läßt sich aus der lateinischen Übersetzung des Anastasius Bibliothecarius fixieren, das. II. 140. Für die unbestimmte Bezeichnung des Theophanes: τούτῳ τῷ ἔτει hat Anastasius: anno imperii Phocae septimo. Aus dieser Übersetzung kann ein fehlender Passus im Originale ergänzt werden: et non valuerunt (Bonosus et Kotys) sedare inquietudinem eorum (Judacorum). Den Monat bestimmt das Chronicon Paschale (edit. Bonn I. 699): καὶ κατὰ πέρας τοῠ σεπτεμβρίου μƞνὸς τοῠ ιδ᾽ ἰνδικτιῶνος ἀπƞγγέλƞ ὡς Ἀναστάσιος ἀνςρέϑƞ ὑπὸ στρατιωτῶν. Da die andern Quellen einstimmig den Patriarchen von den Juden umbringen lassen, so kann der Widerspruch zwischen denselben und dem Chronicon paschale nur dadurch aufgehoben werden, daß man in dem Texte des letzteren eine Lücke annimmt. Die Hauptquelle für das Faktum des Aufstandes der Juden in Antiochien scheint Malalas gewesen zu sein, dessen Chronographie zum Schlusse defekt ist; denn Theophanes exzerpiert ihn oft wörtlich.


55 Note 8.


56 [Diese auf Quellen aus byzantinischen Schriftstellern beruhenden Angaben sind nach Harkavy bei Rabbinowitz S. 37 Anm. 6 nur mit Vorsicht aufzunehmen, da christliche Schriftsteller, wie Barhebräus, darüber ganz schweigen].


57 Eutychius Alexandrinus (Ibn-Batrik) annales II 220-23).


58 [Vgl. auch RdÉJ. Rev. V. S. 202-3 betr. die Bekehrung eines Bischofs.]


59 Antonius a St. Saba homilia 84. s. Note 5.


60 Note 8.

61 Note 8.


62 Eutychius das. II. 243 f. Vgl. dies. Note 8.


63 Eutychius das. II. 133.


64 Theophanes Chronographia I. 504.


65 Eutychius das. S. 243.


66 Consitutiones imperatoriae No. 2. Über das genaue chronologische Datum der Anwesenheit Heraklius' in Jerusalem, vgl. Weil: Leben Mohammeds 198. Note 309.


67 [Auf Heraklius sind wohl mehrere die Religionsübungen und gottesdienstlichen Verrichtungen betreffende Verordnungen zurückzuführen. Vgl. hierüber Graetz in Monatsschrift 1887, S. 550-556, ferner das von Ginzberg in JQR XVIII 107 ff. aus der Geniza veröffentlichte Fragment eines Responsum von einem jüngeren palästinensischen Zeitgenossen Jehudaï Gaons, wo von der Zeit kurz vor dem Eindringen des Islams berichtet wird: דמש ורזגש ל"ז יאדוהי רמ רמא ןכו ןתוא ןיחינמ ויהו וללפתי אלו עמש תיירק ורקי אלש י"א ינב לע תירחשב םירמוא ויהו תודמעמ רמזלו רמול תבשב תירחש סנכיל וללה םירבד םישוע ויהו ףסומב עמשו השודקו דמעמ תבשב לטיבו םודא תוכלמ ה"בקה הליכש וישכעו ןוצרב אלו סנואב תירק ארקלו הרותב קוסעל םוחינהו םילאעמשי ואבו היתורזג ללפתהלו עמש.]

68 Fredegardus Chronicon c. 2, und Pertz Monumenta I. 286. Joseph Kohen Dibre ha-jamim. Emek ha-bacha edit. Wiener. S. 8.


69 Nicephorus Patriarcha Constantinopolus: de rebus post Mauritium gestis p. 35.



Quelle:
Geschichte der Juden von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart. Leipzig 1909, Band 5, S. 34.
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