10. Zahl der jüdischen Bewohner des spanischen Hauptlandes in verschiedenen Zeiten.

[459] Die Zahl der jüdischen Bevölkerung, besonders in Castilien, hat man bisher aus zwei Quellen ungefähr berechnet, aus Steuerrollen, welche aus zwei verschiedenen Zeiten die Abgaben der Gemeinden an die königliche Kasse in den Bisthümern und Städten beziffern, und aus den Berichten über die Zahl der Ausgewiesenen im Jahre 1492. Danach hat man angenommen, daß im Jahre 1290 ungefähr 800000 Juden in Castilien gewohnt haben, und daß 1492 etwa 300000 ausgewiesen wurden. Diesen Calcül hat Herr Isidor Loeb erschüttert und eine andere Wahrscheinlichkeits-Berechnung aufgestellt, wonach die hohen Zahlen bedeutend herabgedrückt werden (Revue des Études juives, Jahrgang XIV, p. 161-183). Da ich selbst, wenn auch ohne Kenntniß einer neu entdeckten Steuerrolle in den früheren Ausgaben den Calcül nach den bekannten Rollen zu Grunde gelegt habe, so bin ich genöthigt, die Zuverlässigkeit desselben zu beweisen, die Einwürfe dagegen abzuweisen und theilweise auch meine Angaben von früher zu berichtigen. Damit der Leser sich ein selbstständiges Urtheil über dieses Thema bilden könne, will ich die Natur der Quellen beleuchten und in einer Tabelle die Listen der ziffernmäßigen Posten übersichtlich darstellen.

[459] Die Quellen für den Calcül sind:

I. Eine Steuerrolle vom Jahre 1290, in welcher die Abgaben vermerkt sind, welche die Juden in 10 Bisthümern und 70 Städten und außerdem eine nicht nach Städten detaillirte Summe von den Landschaften Leon, Murcia und den Grenzgebieten von Andalusien an den König zu leisten hatten. Die Steuerziffer ist nach Maravedis angegeben. Man nennt diese Rolle (padron) die von Huete, weil die jüdischen Delegirten im Auftrage des Königs Sancho in dieser Stadt die Steuern nach Städten und Landschaften repartirt haben. Sie ist öfter veröffentlicht worden; am correctesten bei Amador de los Rios, historia II, p. 53-57. Von den meisten Bisthümern und Städten sind die Abgaben und Steuern unter zwei Rubriken aufgeführt, wovon die eine als en cabeza, d.h. auf den Kopf berechnet, als Kopfsteuer, und die andere als servicio, als Dienststeuer, bezeichnet wird. Bei einigen Städten und Landschaften ist nur die Summe der Kopfsteuer beziffert, die andere dagegen fehlt.

II. Die zweite Steuerrolle vom Jahre 1291 ist eigentlich nur die Wiederholung der ersten, nämlich eine Verrechnung, wie viel von den in der ersten bezifferten Summen an die Königin, an die Infanten, Ritter, Geistlichen A. von den einzelnen Gemeinden zu zahlen sei. Vorangestellt sind die beiden Posten, die Ziffer der Abgabe von der Kopfsteuer und von der Dienststeuer. Dann werden beide summirt und endlich eine Reihe von Personen namhaft gemacht, denen bestimmte Summen zugewiesen sind und zum Schlusse angegeben: Nach Abzug dieser Summe bleibe noch ein Rest von so und so viel für den König. (Zuerst veröffentlicht von Amador II, p. 531 f.). Die Zahlen der Abgaben in den beiden Rollen decken sich vollständig; wo sie nicht stimmen, liegt ein Zifferfehler zu Grunde; auch bei Differenzen von Städtenamen können diese zwei Rollen als Correctiv dienen, was bei der zweiten Rolle um so mehr zutrifft, da sie specialisirt ist. Nur bei der Verrechnung der Steuer von der Gemeinde Segovia bietet die Differenz der Ziffer eine Schwierigkeit für die Ausgleichung.

III. Die dritte Steuerrolle stammt vom Jahre 1474, die Repartition auf die Gemeinden von Jakob Ibn-Nuñes im Auftrage des Königs veranstaltet (bei Amador III, p. 590 f.). In dieser fehlt durchweg die Bezeichnung der Abgabe Kopfsteuer (en cabeza); die bezifferte Steuer wird nur bezeichnet als ganze und halbe Dienststeuer (servicio é medio servicio). Die Ziffern in dieser Rolle sind durchweg im Verhältniß zur Zahl der Abgaben in den ersten zwei Rollen geringfügig. So z.B. hatte die Gemeinde Toledo im Jahre 1290 an Kopfsteuer allein ohne servicio 216,550 Maravedis zu leisten, dagegen nach der Rolle vom Jahre 1474 als 1 1/2 Dienststeuer mit noch andern Gemeinden zusammen nur 3500. Die höchste Summe hatte die Gemeinde von Avila im Jahre 1474 zu leisten, nämlich 12,000 Maravedis gegen 59592 en cabeza und 14550 servicio, zusammen 74,142, im Jahre 1290-91, als kaum den sechsten Theil. Die Steuerrolle von 1474 veranschaulicht, wie sehr die jüdische Bevölkerung in Castilien in dem Intervall von beinahe zwei Jahrhunderten, anstatt zu wachsen, abgenommen hat. Es ist dies ein statistischer Beleg für die Gemetzel und Gewalttaufen von 1391 und 1412-15. Dieser Umstand giebt an die Hand, daß die Ziffer der Steuer im Verhältniß zur jüdischen Bevölkerung gestanden hat.

Die Natur der Steuer, welche in den beiden Steuerrollen von 1290-91 als en cabeza bezeichnet wird, kann nicht zweifelhaft sein. »Auf den Kopf« kann nur Kopfsteuer bedeuten, d.h. eine Abgabe von jedem Kopf, von jeder Person in der Gemeinde. In den rabbinischen Responsen aus Spanien [460] wird eine Abgabe, welche die Juden daselbst zu leisten hatten, mit dem Worte אתלגלוג bezeichnet, was sich sprachlich vollständig mit Kopfsteuer, en cabeza deckt. Die Steuer unter dem Namen servicio, was bis jetzt nicht erklärt wurde, entspricht der Bezeichnung תודובע. In dem von Abraham Benveniste und anderen jüdischen Delegirten vereinbarten Statut von Valladolid vom Jahre 1432 (o. S. 112) lautet die Aufschrift zu dem Paragraphen über Steuer: תודובעהו םיסמה ןינעב 'דה רעשה. Der Inhalt dieses Paragraphen ist, daß einige Juden sich durch gewisse Mittel der Leistung entziehen: »de los םיסמ del Senior Rey תודובע וא que son םיביוחמ«. So scheint תודובע eine Vermögenssteuer gewesen zu sein. Ben-Adret spricht in einem Responsum von Kopf- und Vermögenssteuer27, welche die Juden in Spanien zu leisten hatten. In die Vermögenssteuer war wohl auch die Grundsteuer, Abgabe von Häusern, Gärten und Aeckern einbegriffen. Es ist also nicht zweifelhaft, daß die Juden in Spanien zweierlei Steuern zu leisten hatten: Kopfsteuer und servicio, d.h. Vermögenssteuer. Die Könige von Spanien, die sich nicht gern mit Einziehung der Steuern durch Steuerbeamte befassen mochten, oder nicht auf deren Gewissenhaftigkeit rechneten, ließen sich lieber die Vermögenssteuer, die gar nicht kontrollirt werden konnte, und auch die Kopfsteuer, von welcher doch, wie sich denken läßt, die Armen ohne weiteres – und auch andere Kategorien – befreit waren, als Pausch-Quantum von je einer Gemeinde, oder vielmehr von der Gesammtjudenheit des Landes zahlen. Der Großrabbiner des Hofes oder vertrauenswürdige Gemeindedelegirte machten die Repartition für die verschiedenen Gemeinden. Sie wurden Repartidores benannt. Für je eine Gemeinde wurden Einschätzer gewählt (empar dronadores), welche die Umlage für die Gemeindeglieder, je nach ihrem Vermögensstande machten (vergl. Fernandez y Gonzales Ordenamiento formado por los procuradores de las Aljamas hebreas.. en la asamblea celebrada en Valladolid el año 1432; Madrid 1886, auszüglich Revue des Études, juives XIII, p. 205).

Die spanischen Könige, besonders die von Castilien, haben wenig Sinn für Staatsökonomie gehabt, indem sie die Einnahmen von den Steuern und auch Ländereien verschenkten, so daß sie öfter ärmer als ihre Hidalgo-Unterthanen waren; besonders haben sie an Kirchen und Kapitel bedeutende Geschenke gemacht. Aus der Steuerliste von 1291 sehen wir, daß König Sancho über einen großen Theil der Einnahmen von den Juden zu Gunsten Anderer verfügt hat. Aus dem Statut von Valladolid erfahren wir, daß die Gemeinde von Astorga vom König angewiesen war, ihre Steuerlosung der Kirche und dem Bischof zu zahlen. Von den Gemeinden der Bisthümer Toledo und Cuenca ist die Steuer servicio, d.h. wie man wohl annehmen kann, die Vermögenssteuer, nicht beziffert. Sie mag also entweder Capiteln oder Ritterorden zugewiesen gewesen sein. Bei den Gemeinden der übrigen Bisthümer von Alt-Castilien sind Kopf- und Servicio-Steuer getrennt aufgeführt. Nur von den drei Distrikten: Leon, Murcia und dem Grenzgebiet von Andalusien scheinen beide als Gesammtsumme aufgeführt zu sein.

Wenn demnach eine Proportion der Steuer zu der jüdischen Bevölkerungszahl angenommen werden soll, so kann es nur von der Kopfsteuer gelten [461] und nicht von der Steuer servicio, d.h. Vermögenssteuer. Die Annahme meines verehrten Collegen, des Paters Don Fidel Fita, daß die Bevölkerungszahl nach der Ziffer der Steuer servicio berechnet werden könnte, der auch Mr. Loeb zustimmt (Revue XIV, p. 104), beruht auf der Verkennung der Natur der Servicio-Steuer. Loeb nennt sie »aide«, aber dieses Wort bedeutet nur Tranksteuer und vielleicht Verzehrungssteuer. Damit ist also nichts anzufangen. Dagegen könnte wohl die Kopfsteuer, en cabeza, אתלגלוג, auf das Verhältniß derselben zur Bevölkerung führen, da dabei die Zählung sämmtlicher lebenden Personen in einer Gemeinde vorausgesetzt werden kann.

Man kann es allerdings von vorn herein in Abrede stellen, da die Faktoren für den statistischen Calcül fehlen, und der Divisor für die Steuerziffer nicht ermittelt werden kann, um den Quotienten zur Beurtheilung zu erhalten. Aber eine glückliche Hypothese hat den Schlüssel zur Berechnung geboten, und dieser Calcül wird durch eine Notiz, man kann sagen, durch ein Faktum bestätigt. Hypothetisch wird angenommen, daß jeder Jude eine Kopfsteuer von 30 Dineros zu zahlen verpflichtet gewesen sei, gewissermaßen als Sühnegeld für die 30 Silberlinge, für welche Judas Ischariot seinen Herrn verrathen hatte.

Diese Annahme ist nun urkundlich bestätigt. Ein Erzbischof von Toledo schenkte für das Werk von Capellen unter anderen die Einnahme von den Juden von Maqueda von Jedem jährlich 30 Dineros (Boletin de la real Academia de la historia de Madrid 1887, p. 410, Revue des Études XVII, p. 130). In einer spanischen Schmähschrift gegen die Juden, Centinela contra Judios, einem verworrenen Buche eines unwissenden Fanatikers, wird deducirt, David habe im Psalm 108 (109) dreißig Flüche ausgesprochen, entsprechend den 30 Dineros, welche Juden an Christen zu zahlen hatten (Revue VI. p. 115).

Zehn Dineros machten einen Maravedi, also 30 Dineros 3 Maravedis. Diese Zahl 3 wäre nun der Divisor für die Kopfsteuer. Demnach ließe sich die jüdische Bevölkerung in denjenigen Gemeinden, bei welchen die Ziffer der en cabeza-Steuer angegeben ist, berechnen. So war Toledo 1290 mit kleinen Gemeinden in der Nachbarschaft für die Kopfsteuer auf 216,500 Maravedis abgeschätzt. Die Gemeinde hatte also in diesem Jahre für 72,166 Köpfe zu zahlen, d.h. abzüglich der winzigen Gemeinden in der Nachbarschaft zählte sie etwa 70000 Köpfe. Diese Zahl ist nun voll durch die Nachricht eines Zeitgenossen bestätigt. Gil de Zamora verfaßte im Jahre 1282 eine Schrift, betitelt: liber de praeconiis civitatis Numantiae. Daraus machte Don Fidel Fita Auszüge, von denen einer lautet: daß die Zahl der Juden der Gemeinde Toledo zur Zeit des Gil de Zamora (1282) 70000 betragen habe, welche eine Steuer zu zahlen hatten, ohne Kinder, Frauen und Arme (Boletin de la real Academia de la historia Sept. 1884 und ein Auszug daraus Revue d. Ét. IX, p. 136). Erstaunlich ist, daß Mr. Loeb, der in der Revue in dieser Notiz des Gil de Zamora die Bestätigung des Calcüls von der Kopfsteuer auf die Zahl der Bevölkerung annahm, später diesen Calcül verwarf und überhaupt die große jüdische Bevölkerung in Spanien in Abrede stellt. Man muß es doch als ein Factum hinnehmen, daß Toledo damals eine jüdische Bevölkerung von 70000 Köpfen gezählt hat. Auch sonst wird die starke Bevölkerung der Gemeinde Toledo bestätigt. Abraham Nathan Jarchi referirt, daß um das Jahr 1200 in Toledo 12000 jüdische Familienväter wohnten, d.h. ungefähr 60000 Seelen. Samuel Çarça erzählt, daß während der Belagerung Toledos im Jahre 1368 im Bürgerkriege mehr als zehntausend Juden durch Hungersnoth umgekommen seien. Chasdaï Crescas referirt, daß in Sevilla [462] vor dem Gemetzel 1391 sechs bis sieben Tausend Familienväter waren, ungefähr 30000 Seelen, und die Gemeinde von Toledo war um mehr als noch einmal größer.

Die Einwendung, welche Loeb gegen diesen Calcül macht, hat zwar den Schein der Berechtigung, ist aber doch nicht stichhaltig. Dieser Einwand ist eigentlich mehr gegen die Hypothese des Amador de los Rios gerichtet, welcher angenommen hat, daß die Ziffer der Kopfsteuer die Zahl der Steuerpflichtigen berechnen lasse, d.h. der Männer im Alter von 20 Jahren. Darin wären die Nichtsteuerpflichtigen nicht inbegriffen, also Minderjährige, Frauen und Arme. Mit Recht macht Loeb den Einwurf dagegen, daß also Spanien im Jahre 1290 nicht etwa nur 800000 Juden gezählt haben müßte – als Quotient der Division durch 3 – sondern mindestens noch drei mal mehr, nämlich die Ueberzahl der Frauen und Minderjährigen unter 20 Jahren über die Männer. Da der Calcül für Toledo etwa 70000 Steuerzahlende ergiebt, so hätte die Gemeinde mindestens 200000 Seelen gezählt – was absurd wäre. Allein so darf die Berechnung nicht geführt werden. Die Kategorie der Steuerfreien bildete nicht einen besonderen Rechnungsfactor, sondern der Ausfall der Steuern von dieser Kategorie mußte wohl durch die Steuerpflichtigen gedeckt werden.

Das Verhältniß ist der Art zu denken: die Kopfsteuer wurde von sämmtlichen Gliedern der Gemeinde verlangt, 3 Maravedis für den Kopf. Da aber einige Klassen zahlungsunfähig waren, Arme, unselbstständige Frauen und Töchter, Unmündige und wahrscheinlich auch Gemeindebeamte und auch sonst eximirte Personen28, so entfiel die Zahlung der Kopfsteuer auf die Zahlungsfähigen, auf die Vermögenden und Eingeschätzten. Für den König war es eine Kopfsteuer, für die Gemeinde aber eine zweite Vermögenssteuer. Das Verhältniß der Steuerpflichtigen zu den Steuerfreien ist mindestens wie 1 zu 3 zu berechnen. So hatten wohl, um bei dem Beispiel zu bleiben, in Toledo 24000 für die Kopfzahl von 70000 zu zahlen, um die Summe von 21650 Maravedis aufzubringen.

Noch eine andere Einwendung ließe sich zwar gegen den Calcül von der Ziffer der Kopfsteuer auf die Bevölkerungszahl machen. Wenn es richtig sein sollte, daß für jeden Kopf 3 Maravedis zu zahlen waren, so müßten sämmtliche Steuerziffern, welche mit en cabeza bezeichnet sind, durch 3 theilbar sein. Dem ist aber nicht so, denn von den aufgeführten 72 Posten gehen nur 23 mit 3 auf. Dagegen lassen sich sämmtliche Posten der servicio-Steuer durch 3 theilen, bis auf einen von Logroño (auch die übrigen drei Gemeinden Miranda, Segovia und Villanueva). Daher kam Fidel Fita auf die scheinbar plausible Hypothese, daß die Steuer servicio die Kopfsteuer gewesen wäre, je 3 Maravedis auf den Kopf. Allein gerade diese wird nicht als en cabeza bezeichnet, sondern eine andere, die nicht durchweg durch 3 theilbar ist. Indessen kann die Incongruenz in der Art der Repartition gelegen haben. Für die Kopfsteuer – welcher doch wohl eine Zählung der vorhandenen jüdischen Seelen im ganzen Lande zu Grunde lag – wurde wohl vom König die Gesammtsumme von sämmtlichen Gemeinden und Personen gefordert. Die Repartitoren berechneten sie wohl zuerst nach Gemeinden und dann nach den Vermögensklassen oder besonders begüterten Individuen ohne Rücksicht auf die Zahl der Köpfe. Bei der Summirung kann es nicht darauf angekommen sein, ob eine Gemeinde 1 oder 2 Maravedis zu viel zu zahlen hatte. Wie dem auch [463] sei: davon kann man nicht abgehen, daß die Steuer en cabeza nur die Kopfsteuer gewesen sein muß, und daß demnach nur nach derselben die Bevölkerungszahl berechnet werden kann. Da nun die Summe der en cabeza-Steuer von den 72 Gemeinden Castiliens im Jahre 1290-91 betrug: 1786976, so kann damals die jüdische Bevölkerung 595658 Personen gezählt haben. Dazu kam noch die Bevölkerung von Leon, Murcia und dem andalusischen Grenzgebiet, wo die Natur der Steuer nicht benannt ist, sondern nur die Gesammtsumme 797879 angegeben ist, und es also ungewiß bleibt, ob darunter en cabeza allein oder servicio allein zu verstehen ist. In Murcia wohnten nicht viel Juden, mehr in Leon und in der Frontera. Das Maximum wäre demnach zwischen 70000 und 80000, welche Zahl auch bisher festgehalten wurde. Diese Zahl findet aber Loeb zu hoch, da die Gesammtbevölkerung von Castilien im XV. Jahrhundert nur etwa 6-7000000 betragen hat, also im Jahrhundert vorher doch weniger; die Juden müßten also den sechsten oder siebenten Theil derselben gebildet haben. Wäre es aber so unmöglich? Ein, wenn auch nur ungefährer Calcül führt zu dem Facit, daß in der That das Verhältniß der jüdischen Bevölkerung zur christlichen oder zu den Gesammteinwohnern der Art gewesen sein muß. Der venetianische Gesandte in Spanien, welcher 1505 Bericht über die Einführung der Inquisition in Spanien erstattet und deren Nothwendigkeit gerechtfertigt hat, stellte die Berechnung auf, daß die Marranen in Spanien den dritten Theil der städtischen Gesammtbevölkerung ausgemacht haben (Alberi, relazioni degli Ambasciadori Venet, Serie I, Tom. I, p. 29): La qual inquisizione era più che necessaria, perche si giudica in Castilia ed in altre provincíe di Spagna il terzo esser Marrani, un terzo dico di coloro che sono citadini e mercanti, perche il populo minuto è vero cristiano e cosi la maggiore parte delli grandi. Berechnen wir das Verhältniß der städtischen Bevölkerung zu der ländlichen noch so gering, etwa wie 1 zu 6, so würde sie bei 6000000 Gesammtbevölkerung 1 Million betragen haben. Folglich wäre die Zahl der Marranen (der dritte Theil) etwa 300000 gewesen. Und da doch die Zahl der Ungetauften gewiß viel größer war, so ergiebt sich auch daraus, daß die jüdische Bevölkerung im Jahre 1391 vor dem Gemetzel mindestens 700000 Seelen betragen hat. Die große Zahl der Marranen ist anderweitig constatirt. Loeb, welcher diese große Zahl in Abrede stellt, vergleicht die jüdische Bevölkerung in Spanien mit der dünngesäeten jüdischen Bevölkerung ungefähr zu derselben Zeit in Frankreich und Italien. Aber dieser Maßstab paßt nicht. Spanien muß vielmehr für die Zahl der jüdischen Bevölkerung mit den altpolnischen Provinzen in Rußland verglichen werden. Daselbst ist das Verhältniß der jüdischen Bevölkerung in den Städten zu der Christlichen wie 1 zu 3. Hin und wieder übersteigt die jüdische noch die christliche. In den großen Städten Toledo, Burgos, Valladolid, Avila, Lorca, Cordova kann dieselbe Proportion gewesen sein, wie etwa gegenwärtig in Wilna und Berditschew.

Infolge des Bruderkrieges 1365-69, des Gemetzels und der Zwangstaufe von 1391, der erneuerten Zwangstaufe von 1412-15 durch Vicente Ferrer hat die Zahl der jüdischen Bevölkerung in einem hohen Grade abgenommen. Das Statut von 1432 setzt voraus, daß es Gemeinden von nur zehn Familien und noch weniger gab. Die Steuerrolle von 1474 giebt ein anschauliches Bild von dieser Entvölkerung (vergl. Tabelle der Steuerrollen). Die ehemals zahlreichen Gemeinden zahlten ein Minimum gegen früher, Toledo z.B. 3500 gegen 210000, Cordova nur 1200 und Sevilla mit dem Gebiet und der Gemeinde [464] von Algarve nur 12500 Maravedis. Und in demselben Maße wie die jüdische Bevölkerung in den Großstädten abnahm, nahm ihre Verbreitung auf dem Lande zu. Die Rolle von 1474 zählt mehr als 200 Ortschaften auf, wo Juden wohnen, von denen viele in den früheren Rollen gar nicht genannt werden. Bei der Unsicherheit für ihr Eigenthum und Leben durch die fortwährenden Hetzereien der Dominikaner gegen sie, besonders seit dem Untergang ihres Beschützers Alvaro de Luna haben wohl Viele die Großstädte verlassen und sich in Landstädten angesiedelt. Diese Gemeinden müssen so klein gewesen sein, daß 4 nur zwischen 100 und 250 zu zahlen hatten, 24 zwischen 300 und 500 Maravedis. Auch ihr Vermögensstand muß heruntergegangen sein, denn die Gesammteinnahme im Jahre 1474 von 200 Gemeinden betrug etwas über 450000 Maravedis gegen 2800000 zwei Jahrhunderte vorher. Aus diesem Grunde scheint 1474 ein anderer Steuermodus eingeführt worden zu sein. Da die Kopfzahl sich vielleicht um mehr als die Hälfte verringert hatte, und die Kopfsteuer doch nur auf eine Vermögenssteuer hinauslief, so scheint nur die letztere erhoben worden zu sein unter dem Namen servicio und für die geringe Kopfsteuer die Hälfte der umgelegten Vermögenssteuer. Das wäre die Bedeutung von servicio y medio servicio.

Doch dieses sei dahin gestellt; jedenfalls bezeugt die Steuerrolle von 1474 eine gewaltige Abnahme der jüdischen Bevölkerung gegen früher. Die Frage ist nun ventilirt worden: wie viele sind im Jahre 1492 aus ganz Spanien ausgewiesen worden. Die Angaben schwanken darüber zwischen 800000 und 190000. Werth haben selbstverständlich nur die von Zeitgenossen überlieferten Ziffern. Der zeitgenössische Geschichtsschreiber Bernardez, Cura des los Palacios, hatte selbst keine zuverlässige Nachricht; er beruft sich auf Zeugen, deren Aussagen keine Gewißheit geben. Der einzige zuverlässige Zeuge ist Abravanel, welcher in der Einleitung zu »Könige« mit aller Bestimmtheit die Zahl der Ausgewiesenen auf 300000 fixirt: יכנא רשא םעה ילגר ףלא תואמ שלש חכ אלב וכליו ךלמה תונידמ לכמ וברקב, in der Einleitung zu יניעמ העושיה und p. 132 ףלא תיאמ שלשכ. Abravanel hat die Finanzen des Hofes geleitet, hat also das Gewicht der Zahl wohl erwogen. Wahrscheinlich war er oder sein Associé, der Rabbi-Maior Abraham Senior Repartitor der Steuern von den jüdischen Gemeinden. Er muß also die Zahl derselben genau gewußt haben. Man muß aber seine Angaben verstehen, daß er die Ausgewiesenen nicht blos von Castilien und Aragonien (sammt Catalonien und Valencia) sondern auch die von Mallorka, Sicilien und Sardinien meint, wie er voraufgehend bemerkt: אקרויימ איליציזמו דרפס תוצראמ אינידרסו.

Nach der gewöhnlichen Annahme, daß die jüdische Bevölkeruug von Aragonien mit den Nebenländern sich zu der von Castilien (mit Leon, Murcia, Andalusien) wie 1 zu 3 verhalten hat, würde die Zahl der Ausgewiesenen aus diesem Lande 200000 und derer aus Aragonien A. 100000 betragen haben. Reuchlin, welcher zur Zeit der Austreibung bereits an deutschen Höfen verkehrt hat, an denen das Aufsehen erregende Factum der Verbannung gewiß besprochen wurde, giebt die Zahl der Ausgewiesenen auf 420000 an (de arte cabbalistica Anfangs): pulsi ex Hispania Judaeorum centena quattuor et viginta millia. Wie übertrieben auch diese Angabe sein mag – da Reuchlin nicht als klassischer Zeuge angesehen werden kann – so kann sie doch als Argument gegen Loeb's Berechnung gelten, welcher die Zahl auf Maximum 165000 reducirt (a.a.O. p. 182). Abraham Zacuto, der unter denen war, welche von Castilien in Portugal ein Asyl gesucht haben, und der ein guter Mathematiker war und auf die Genauigkeit der Zahlen Werth legte, berechnete, daß die Emigrirten von [465] Castilien nach Portugal mehr als 120000 betragen haben: (לאגטדופב) וסנכנש תושפנ ףלא כ"קמ רתוי. Das Zeugniß, welches angiebt, daß die officiell registrirten Einwanderer von Castilien nach Portugal 93000 betragen haben (o. S. 368), kann daher nicht ohne weiteres verworfen werden.

Der Calcül des Herrn Loeb hat nichts Ueberzeugendes. Er berechnet annähernd die Zahl der sephardischen Juden in der Gegenwart in der Türkei, Aegypten, der Berberei, Frankreich, Italien, Holland A., der Nachkommen der Ausgewiesenen, auf 165000 und nimmt an, daß die Letzteren sich in vier Jahrhunderten doch wohl um das Doppelte vermehrt haben. Folglich habe ihre Zahl etwa 80-90000 betragen, und die Zahl der elend Umgekommenen und derer, die sich aus Verzweiflung hinterher getauft haben, werde gewiß nicht größer gewesen sein. Allein abgesehen davon, daß keine Statistik für die Zahl der Sephardim in Europa, Asien, Afrika und Amerika existirt – sie mag größer oder auch kleiner sein – so ist der Rückschluß auf die Zahl ihrer Vorfahren kaum hypothetisch zulässig. Es ist eine bekannte Sache, daß die Sephardim sich in den letzten Decennien sehr vermindert haben. In Hamburg und Altona sind sie fast Null; in Amsterdam, Holland ist die Zahl sehr gesunken. Dieser Calcül giebt keinen Anhaltspunkt weder für die Schätzung der Zahl der Vertriebenen, noch für die Zahl der jüdischen Bevölkerung in Spanien.


Quelle:
Geschichte der Juden von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart. Leipzig [1890], Band 8, S. 459-466.
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