Beziehungen zwischen den Stämmen. Verkehr, Gastrecht, Beisassen

[70] 33. Zwischen den einzelnen Menschengruppen bestehen ununterbrochen Berührungen der verschiedensten Art, teils feindlich, teils freundlich; sie alle führen zu fortwährenden Mischungen. Auf die Bedeutung der Kriege, der Eroberung und Unterjochung fremder Stämme und ihre Rückwirkung auf den eigenen braucht nur kurz hingedeutet zu werden. Dazu kommt Sklavenraub und vor allem Frauenraub, der bei vielen Stämmen ganz systematisch organisiert ist. Umgekehrt bestehen oft dauernde freundschaftliche Beziehungen, die eine Ehegemeinschaft gestatten. Fortwährend werden einzelne Individuen von ihren Stämmen ausgestoßen, vor allem infolge der Blutrache, und suchen bei einem fremden Anschluß und Schutz, der ihnen selten versagt wird; und oft genug gliedern sich ganze Gruppen (Geschlechter) an einen fremden Stamm an, teils infolge politischer Konflikte, teils weil das heimatliche Gebiet für sie zu eng wird. Dazu kommt der Warenaustausch zwischen den Stämmen: Händler ziehen von einem zum anderen, um in der Fremde reicheren Gewinn zu erwerben, als in der Heimat möglich wäre. Kein Stamm, wenigstens wenn er über die allerprimitivsten Verhältnisse hinausgewachsen ist, findet in seinen Wohnsitzen alles, was er bedarf; je mehr die Kultur sich steigert, desto stärker wird das Bedürfnis nach fremden Produkten, und daher sind diese Händler mit ihren Waren meist hochwillkommen.

34. Der Stammfremde ist an sich rechtlos; die Rechtsordnung des Stammes gilt für ihn nicht, kein Blutsverband steht schirmend hinter ihm, und ein jeder kann ihn ungehindert plündern, knechten, erschlagen. Trotzdem gilt er überall, sobald er durch bestimmte Formen, z.B. Teilnahme am Mahl, Betreten des Zeltes oder Berührung des Herdes, in Verbindung mit einem Einzelnen getreten ist, als heilig und unverletzlich. Er steht unter dem Schutz des Gastrechts, und sein Gastfreund ist verpflichtet, ihn zu schirmen wie einen Blutsverwandten. [71] Das Gastrecht bildet die unentbehrliche Ergänzung des Blutrechts und der Blutrache. Nirgends zeigt sich deutlicher als hier, wie das praktische Bedürfnis der menschlichen Gesellschaft schon in ihren primitivsten Stadien ideale Vorstellungen erzeugt, die durch Moral und Sitte geheiligt und zu selbstverständlichen Voraussetzungen des Denkens und Handelns werden. Eine irdische Gewalt, welche die Verletzung des Gastrechts strafte, gibt es nicht, es sei denn, daß der fremde Stamm sich seines Genossen annimmt und rächend einschreitet. Aber um so stärker wirkt das ideale Moment, das in der Form einer religiösen Verpflichtung auftritt: das Gastrecht steht unter dem Schutz der überirdischen Mächte, der Götter. Hier wie in allen ähnlichen Fällen ist die Religion nicht die Wurzel der Sitte, wie man oft gemeint hat, sondern umgekehrt das Erzeugnis und der Ausdruck einer sozialen Ordnung, des geregelten Zusammenlebens der Menschen. – Aus dem Gastrecht kann sich ein dauerndes Schutzverhältnis, eine Clientel bilden; so entsteht das Element der Beisassen (Metoeken, bei den Semiten gêr), die nicht zur Stammgemeinde gehören, aber in einem geregelten Rechtsverhältnis und gegen bestimmte Dienstleistungen sich ihr angeschlossen haben. Auch ganze Stämme können in eine solche Clientel zu einem anderen treten: sie mehren alsdann dessen Macht, leisten ihm Heeresfolge, zahlen ihm Abgaben, leisten ihm Frondienste u.a., je nach der Sitte oder den Bestimmungen eines darüber geschlossenen Vertrags. Aber auch die Beziehungen zu unabhängigen Stämmen sucht man in ein Rechtsverhältnis zu bringen. Zwar besitzt man gegen den fremden Stamm keine rechtliche Zwangsgewalt, wohl aber rechtliche Ansprüche, deren Anerkennung man fordert und deren Verletzung man durch Krieg straft. Daraus hat sich bei manchen Staaten, in typischer Gestalt z.B. bei den Römern, ein geregeltes Rechtsverfahren gegen fremde Gemeinden entwickelt, das der Eröffnung des Kriegs vorangehen muß. Andere Stämme freilich beginnen den Krieg je nach Gutdünken, ohne rechtliche Begründung; sie betrachten die Fremden als rechtlose Feinde. [72] Immer aber bleibt die Möglichkeit einer Verhandlung und eines Vertrags gewahrt, der ein Rechtsverhältnis herstellt. Daher gibt es wenigstens éinen Grundsatz des Völkerrechts, der allgemein anerkannt ist: die Boten, welche ein fremdes Volk unter bestimmten Formen entsendet, sind unverletzlich; sie stehen unter dem Schutz des Gastrechts, und ihre Schädigung oder Tötung ist ein unsühnbarer Frevel.


Über den Umfang, bis zu dem das Gastrecht des Fremden ausgedehnt wird, sind die Satzungen natürlich sehr verschieden; aber Volksstämme, die es überhaupt nicht anerkennen, sind seltene Ausnahmen. Die Alten berichten Derartiges von den Taurern der Krim und den thrakischen Stämmen am Schwarzen Meer, vor allem den Bithynern (z.B. Xen. Anab. VI 4, 2. VII 5, 13; bei Nic. Dam. fr. 127 wird ein Unterschied in der Behandlung der Verschlagenen und der absichtlich gekommenen Fremden statuiert, der schwerlich geschichtlich ist). Dabei tritt dann neben der Raubgier oft das Streben hervor, das eigene Volkstum und seine Sitten unvermischt zu erhalten, das z.B. in Sparta zu den ξενηλασίαι geführt hat.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 71965, Bd. 1/1, S. 70-73.
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