Die Götter und die Gesetzmäßigkeit der Natur

[130] 69. Neben der Fülle der Einzelvorgänge, welche das mythische Denken auf den Willensakt eines Geistes oder einer Gottheit zurückführt, steht die Gleichmäßigkeit und regelmäßige Wiederkehr der Erscheinungen, die jede Willkür ausschließt und sie einem Gesetz unterordnet. Auch sie bleibt, so wenig sie schon zu klaren Begriffen führen kann, dem primitiven Denken keineswegs fremd: rechnet doch der Mensch bei allem was er tut, z.B. wenn er einen Speer schleudert oder ein Feld bestellt, ebensosehr mit der inneren Notwendigkeit, welche die Konsequenzen seiner Handlungen beherrscht, wie [130] mit den Zufällen, welche sie durchkreuzen und das Ergebnis sehr verschiedenartig gestalten können. In weitem Umfang nimmt er beides als selbstverständlich hin, als gegebene Bedingung seines Handelns; und indem er seine Tätigkeit oder z.B. seine Waffen und Geräte diesen Bedingungen genauer anpaßt, aus der Erfahrung lernt, wird er zum Herrn der Natur und mehrt den Bestand seiner Kulturerrungenschaften. Da ist ihm die Natur etwas Lebloses, ohne eigenen Willen. Aber daneben tritt, je nach der momentanen Auffassung, nach der Bedeutung, die er dem Einzelvortrag beilegt, und nach der Denkweise, welche die überkommenen Vorstellungen gestaltet haben, immer die individuelle Auffassung, welche in den Vorgängen einen selbständigen dem seinen entgegengesetzten oder geneigten Willen erkennt: es beruht auf dem Eingreifen einer Gottheit, ob sein Speer einen Feind trifft und tötet oder nicht, ob er, wenn er zur Jagd zieht, Beute findet. Das gleiche gilt von den allgemeinen Naturerscheinungen. Es ist der gegebene Gang der Dinge, daß der Mensch altert und stirbt, daß die Jahreszeiten in gleichmäßiger Folge sich ablösen, daß die Pflanze blüht und Frucht trägt; aber zugleich tritt darin in jedem Einzelfalle eine selbständige göttliche Macht wirkend in die Erscheinung. Wenn die Sonne oder die Sterne in regelmäßigem Lauf über den Himmel wandeln, so ist es doch ein Gott, der immer von neuem seine Bahn zieht, sei es in einem Schiff oder zu Roß oder auf einem Kriegswagen oder als Vogel mit leuchtenden Augen; und im Wechsel der Mondphasen oder im Keimen und Welken der Vegetation treten die persönlichen Schicksale und Leiden einer Gottheit zu Tage. Die regelmäßige Wiederkehr, das Gesetz, an das sie gebunden ist, macht eben ihr innerstes Wesen aus. Eben diese Ordnung liegt jedem Festcyklus, der Verknüpfung bestimmter Jahrtage mit den Schicksalen der Götter, ihrer Geburt, Erscheinung, Sieg und Tod, zu Grunde.

70. Allerdings sind auch die Götter einmal entstanden, gezeugt, zum ersten Male in die Erscheinung getreten und [131] im Kampf mit anderen Mächten zur Herrschaft gelangt – denn der Kausalitätstrieb kennt keine Grenze, sondern fordert in endlosem Rückgang für jedes Bestehende einen Anfang und eine Ursache und für diese wieder eine neue Ursache. Aber das gehört der Vergangenheit und dem Mythus an: für den religiösen Glauben sind sie ewige Mächte, die nicht altern und sich nicht ändern. Selbst wenn sie alljährlich sterben, so leben sie immer von neuem in gleicher Gestalt wieder auf, und gerade in dieser regelmäßigen Veränderung, diesem gesetzmäßigen Wesen besteht ihr göttliches Wesen; und wenn ein gestorbener Gott verehrt wird, wie Osiris und später der selige Apistier Sarapis bei den Aegyptern oder wie die griechischen Heroen und in etwas anderer Weise z.B. Christus und Buddha, so ist eben dieses Totsein und das Wirken in und aus der Totenwelt heraus seine wahre Erscheinungsform; daß er ehemals lebendig auf Erden gewaltet hat, ist nur die Kausalerklärung des Mythus. Mag auch in Zukunft einmal der anfängliche Prozeß sich wiederholen und eine neue Welt entstehen mit neuen Göttern (oder auch mit den gegenwärtigen, die dann ihr Wesen völlig verändern und in andersartiger Erscheinung, mit neuer Macht, sich offenbaren) – Spekulationen, die in manchen Religionen sehr ausgebildet sind und wohl in keiner ganz fehlen –, so besteht doch für die gegenwärtigen Menschen die gegenwärtige Welt als etwas Dauerndes mit festen, einstweilen unabänderlichen Ordnungen. Diese Ordnungen sind das Werk der dauernden Mächte, der Götter; ihre Gegner, über die sie triumphierend zur Herrschaft gelangt sind, sind die Gewalten der Zerstörung, des ungeordneten Urzustandes, aus dem die Götter die Welt gebildet, mit Leben und Bewegung erfüllt, und dem Gesetz unterstellt haben, das sie in allem Wechsel der Erscheinungen dauernd und gleichmäßig erhält. Daneben findet sich manchmal auch der Glaube, daß die Götter die Welt überhaupt erst geschaffen haben; in der Regel aber tritt, dem Dualismus der Kausalität entsprechend (§ 45f.), der Idee der schöpferischen und gestaltenden Gotteskraft die Idee der Beharrlichkeit [132] der Substanz, der Ewigkeit der Materie zur Seite, die als Substrat für die Wirkung der Kraft bereits vor dieser und unabhängig von ihr vorhanden sein muß (§ 51), und von ihr nur das Gesetz ihrer Gestaltung empfängt.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 71965, Bd. 1/1, S. 130-133.
Lizenz:
Kategorien: