Das »griechische Mittelalter«

[267] Die Verteilung der Stämme, welche die großen Wanderungen geschaffen haben, ist nicht wieder umgestoßen worden. Das Zeitalter der Wanderungen und Schiebungen ist zum Abschluß gelangt. Die Zeit, welche jetzt beginnt, bedarf eines zusammenfassenden Namens, der sie von der mykenischen Zeit wie von der folgenden, mit den Ständekämpfen beginnenden Epoche bestimmt scheidet; wir können sie mit einem der Geschichte der christlichen Völker entlehnten Ausdruck als das griechische Mittelalter bezeichnen439. [267] Die alte Kultur ist in sich ausgelebt und von außen über den Haufen geworfen. Auch in den Gebieten, welche wie Attika ihre alte Bevölkerung bewahrt haben, stirbt sie ab. Die Lebensbedingungen sind andere geworden. Durch den Verfall der mächtigen Reiche des Orients werden die orientalischen Kultureinflüsse geringer, der politische Druck von außen fällt ganz weg. An die Stelle der Großreiche der mykenischen Epoche, tritt eine Auflösung der Stämme nach den natürlichen Gliederungen des Landes und damit ein Stilleben, das große Bewegungen und Kämpfe nicht kennt. Denn wenn wir auch, falls wir aus dem 9. und 8. Jahrhundert irgendwelche historische Kunde hätten, von zahlreichen Fehden und scharf ausgeprägten, aber gleichartigen Persönlichkeiten im Stile der homerischen Helden erfahren würden, so ist es doch ebensowenig zweifelhaft, daß große, die Nation im tiefsten bewegende Ereignisse, wie sie die vorige Epoche allerdings gekannt hat, dieser Zeit fremd gewesen sind. Dafür vollzieht sich langsam eine tiefgreifende Umwandlung der inneren Zustände. Alle Stämme gehen zu voller Seßhaftigkeit über, die alte Stammgemeinde löst sich auf, neue politische Gebilde treten an ihre Stelle, schließlich schafft der Fortschritt von Handel und Seefahrt eine neue Erweiterung der Verhältnisse und führt die zersplitterten Gemeinden wieder zu einem allgemeinen politischen Zusammenhang. Die Verbindung mit dem Orient ist zerrissen, von innen heraus und ohne äußeren Zwang kann die Nation sich entfalten. Für Staat und Religion, Recht und Sitte, Kunst und Dichtung, für alles materielle[268] und geistige Leben hat diese Zeit die Formen geschaffen, welche fortan bewußt und unbewußt alle Anschauungen der Griechenwelt beherrschen. Die Grundzüge sind überall die gleichen, die Gestaltung im einzelnen zeigt große Mannigfaltigkeit je nach der äußeren Lage und dem Kulturstand der einzelnen Gebiete. Die Führung haben die Griechen Kleinasiens; hier gestattet der neugewonnene Boden einen raschen Fortschritt. Eine Mittelstellung nehmen die alten Kulturgebiete des Mutterlandes ein, soweit nicht gerade hier die Roheit der Eroberer die primitivsten Zustände bewahrt und unter dem Einfluß der veränderten Lebensverhältnisse zu neuen eigenartigen Gebilden umgestaltet hat. Ganz langsam endlich tritt der Westen in den Kreis der Kultur ein. Diese Entwicklung zu verfolgen ist unsere nächste Aufgabe. Auf bestimmte chronologische Daten können wir sie im einzelnen nicht fixieren; aber die Bedingungen, auf denen sie beruht, die Stadien, welche sie durchlaufen, die Institutionen, welche sie geschaffen hat, sind mit voller Sicherheit erkennbar.

Wie die Institutionen des deutschen Mittelalters nicht aus den Mischbildungen erwachsen sind, welche germanische Häuptlinge auf römischem Boden geschaffen haben, sondern aus einer Fortbildung der ursprünglichen Stammesordnungen, so ist auch die politische Gestaltung des griechischen Mittelalters nicht aus dem mykenischen Staat hervorgegangen. Im Mutterlande ist dieser mykenische Staat verschwunden, in den Kolonien hat sich sein wichtigstes Moment, ein mächtiges Königtum, überhaupt nicht gebildet: wir haben uns die Kolonien entweder als abhängig vom Mutterlande oder von Anfang an als kleine Fürstentümer zu denken. Seine Kultur wirkt nach, die verschiedene Stellung des Adels in den kultivierten und kulturlosen Gebieten geht wahrscheinlich zum Teil auf ihn zurück. Aber der Staat des griechischen Mittelalters beruht in erster Linie auf der Umwandlung der alten Wehrgemeinde der Vollfreien unter der Einwirkung der Seßhaftigkeit. An die Zustände der Urzeit müssen wir daher überall anknüpfen und zunächst von der Besiedlung des Landes ein Bild zu gewinnen suchen.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 41965, Bd. 3, S. 267-269.
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