Bedingungen der Kolonisation

[388] Die Höhe der Volkszahl beruht überall auf den Ernährungsbedingungen, unter denen ein Volk steht. Diese sind zum Teil von der natürlichen Beschaffenheit des Landes, vor allem aber von dem Kulturzustande des Volks, von seinen sozialen, ökonomischen und politischen Verhältnissen abhängig; unter normalen Verhältnissen ist die Volkszahl eines Gebiets genau so groß, wie sie unter den gegebenen Bedingungen sein kann571. Da aber jede Bevölkerung die Tendenz hat, sich zu vermehren, so entsteht immer aufs neue das Bedürfnis, für den Überschuß oder für die gesteigerte Gesamtbevölkerung durch Änderung der Ernährungsbedingungen Raum zu schaffen; und so wird für die Geschichte eines jeden Volks, soweit sie nicht von zufälligen äußeren Ereignissen, wie der Verdrängung oder Unterjochung durch mächtigere[388] Gegner, bedingt ist, sondern sich von innen heraus entwickelt, das natürliche Wachstum der Bevölkerung einer der wichtigsten Faktoren aller Bewegung und allen Fortschritts. Er zwingt die Nomaden, die halbseßhaften Stämme, die Bewohner begrenzter Gebirgstäler stets von neuem zu dem Versuch, ihr Gebiet zu erweitern oder in die Ferne zu wandern; wo diese Möglichkeit fehlt und wie in Wüstengebieten eine andere Lebensgestaltung unmöglich ist, verzehrt sich die überschüssige Kraft eines Volks in inneren Kämpfen zwischen den einzelnen Stämmen, bis sie schließlich doch einmal eine Gelegenheit zum Ausbruch findet. In anderen Fällen aber führt das Anwachsen der Bevölkerung zu höherer Zivilisation, zum Ackerbau und zur Seßhaftigkeit, zu gesteigerter Intensität der Bodenkultur, zur Entwicklung neuer Erwerbszweige, namentlich des Handels und der Industrie. Doch auch umgekehrt sind diese Sätze richtig. Solange die Möglichkeit vorhanden ist, die Ernährungsbedingungen zu verbessern oder zu vermehren, sei es durch Eroberung oder durch Emigration, sei es durch Erschließung der Hilfsmittel, welche der Boden und welche die gesteigerte Kultur bieten, sei es durch alle diese Faktoren zusammen, solange wächst die Bevölkerung ungehindert, und mit ihr die Macht und die Prosperität des Volks. Fallen diese Bedingungen weg, so wird auch die Bevölkerung notwendig stabil. Ist aber die Möglichkeit weiteren Fortschritts ausgeschlossen, sind alle Hilfsquellen erschlossen, tritt gar eine Erschöpfung derselben oder eine Umgestaltung der politischen und kommerziellen Verhältnisse ein, so ist ein noch weit stärkerer Rückschlag unvermeidlich, und er wird nur um so schwerer empfunden, je höher Kultur und Wohlstand und damit die Anforderungen an das Leben gesteigert sind. Mit der rückläufigen Bewegung, der Abnahme der Volkszahl, sinkt die Bedeutung des Volkes, sein Wohlstand und zuletzt auch seine Kultur dahin572.

[389] In der griechischen Geschichte ist diese Entwicklung besonders deutlich erkennbar. Das kleine Land mit seinen eng begrenzten Ebenen und Gebirgstälern vermag nur eine beschränkte Bevölkerungszahl zu ernähren, und wie in allen Gebirgsländern, z.B. in der Schweiz, sucht der immer aufs neue sich erzeugende Bevölkerungsüberschuß einen Abfluß in die Fremde573. Nur unter besonders günstigen Verhältnissen kann bei kontinentalen Völkern dieses Drängen gegen die Nachbarländer zu einer Machterweiterung, zur Okkupation neuer Gebiete führen; sind die Nachbarn widerstandsfähig genug, so bleibt den überschüssigen Elementen, wenn sie sich nicht in sich selbst verzehren, nur übrig, sich als Söldner oder als Gewerbetreibende und Kaufleute in der Fremde ihr Brot zu verdienen. Die Geschichte der oskischen Stämme, der Kelten, der Germanen, der Araber, der Schweizer, in gewissem Sinne auch die der Juden, bietet dazu Illustrationen in Fülle. Bei den Griechen war eine derartige Entwicklung unmöglich, da ihnen jede Ausbreitung zu Lande durch die Natur ihrer Wohnsitze abgeschnitten ist. Dagegen lag ihnen das Meer nach allen Seiten hin offen. Sobald eine gewisse Kulturhöhe erreicht war, mußte die Ausbreitung zur See beginnen. Die äußere Geschichte des griechischen Volkes besteht wesentlich in einer ununterbrochenen überseeischen Auswanderung. Zunächst erscheint sie als Okkupation immer neuer Küsten des Mittelmeers; dann als die Verhältnisse neue Koloniegründungen nur noch ausnahmsweise ermöglichen, als Auswanderung von Söldnern und Kaufleuten. Ihren Höhepunkt erreicht die Bewegung, als durch Alexander den Großen dem griechischen Volk der ganze Osten erschlossen wird und die griechische Nationalität und Kultur die[390] Weltherrschaft gewinnt. Eben dadurch aber wird für das griechische Mutterland ein Rückschlag herbeigeführt, der immer größere Dimensionen annimmt, je mehr Griechenland aus dem Zentrum der Weltgeschichte fortrückt; erst in der Gegenwart bahnt sich wieder ein neuer Aufschwung des Landes an.

Für eine überseeische Kolonisation liegen, solange an den Küsten, auf die sie gerichtet ist, noch primitive Zustände herrschen und keine festeren politischen Gebilde bestehen, die Aussichten weit günstiger als für eine Ausbreitung zu Lande, weil sie nicht in einem einmaligen Akt, sondern in einer kontinuierlichen, oft Jahrhunderte umfassenden Reihe von Einzelvorgängen sich vollzieht. Nur wo die einheimische Bevölkerung von einem starken Selbständigkeitsgefühl beseelt und militärisch gut organisiert ist, oder wo sie selbst Seefahrt treibt und daher den Wert der eigenen Küsten zu schätzen weiß, ist eine Kolonisation unmöglich, es sei denn, daß die Fremden von Anfang an mit entschiedener Übermacht auftreten. Sonst aber hat der Meeresstrand für die Einheimischen geringen Wert, die Fremden bringen ihre Waren und Erfindungen ins Land und kaufen die einheimischen Produkte auf, sie zahlen auch wohl einen Grundzins für den abgetretenen Küstenstrich, sie sind daher zunächst in der Regel willkommene Gäste. Eine Gefahr erblickt man in ihnen nicht, dazu sind sie nicht zahlreich genug. Entsteht aber ein Zwist, so sind die Fremden, da sie von Anfang an zur Vorsicht gezwungen sind und es sich um ihre Existenz handelt, den zersplitterten einheimischen Stämmen gegenüber meist im Vorteil; sie werden sich an günstig gelegenen Punkten oder hinter rasch angelegten Verschanzungen verteidigen und zumal, wenn sie Nachschub aus der Heimat erhalten, in der Regel behaupten, auch wenn sie an sich unter gleichen Bedingungen den Einheimischen keineswegs überlegen sind. So gelangen, wenn die Kolonisation intensiv genug auftritt, d.h. wenn die Zuzüge fortdauern, die Ansiedler allmählich in festen Besitz der fremden Küste574. Je nach der Lage der[391] Dinge werden sie sich entweder zu Herren der binnenländischen Bevölkerung machen oder in freundlichem Verkehr mit ihr stehen. Erst unter wesentlich geänderten Verhältnissen macht diese den Versuch, sich zu emanzipieren, und es tritt der unausbleibliche Rückschlag ein, dessen Verlauf wir hier noch nicht zu verfolgen haben.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 41965, Bd. 3, S. 388-392.
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