Pythagoras und Xenophanes

[757] In derselben Zeit ist die ionische Weisheit nach Großhellas gebracht worden. Der Samier Pythagoras1078, der Sohn des Mnesarchos, siedelte aus seiner Heimat nach dem befreundeten Kroton über und verkündete hier seine mystischen Lehren. Pythagoras ist ein Sektenstifter so gut wie die Orphiker und von diesen aufs stärkste beeinflußt, zum Teil vielleicht durch Vermittlung des Pherekydes von Syros, den die Alten seinen Lehrer nennen. Mit [757] den Orphikern teilt er die Lehre von der Seelenwanderung und von den Strafen im Jenseits, ferner die Askese, die Forderung der Reinheit, besonders von Blutschuld, die Weihen und geheimnisvollen Symbole, den Zusammenschluß seiner Jünger zu einem Orden, überhaupt den mystischen Charakter, mit dem er sich und seine Lehre umgab. Das hatte zur Folge, daß sich, auch wenn er nicht selbst als Wundertäter aufgetreten ist, sofort ein geheimnisvoller Schleier um seine Persönlichkeit gelegt hat und die Tradition zahlreiche Wundergeschichten nach Art des Epimenides, Aristeas, Abaris von ihm berichtet. Daß er von seinen früheren Existenzen, von seiner Identität mit dem Troer Euphorbos, mit einem Sohne des Hermes u.a. selbst erzählt hat, ist wohl möglich. Wie er sich zu den Göttern des Volksglaubens stellte, wissen wir nicht; daß die Anknüpfung an apollinische Anschauungen mehrfach hervortrat, ist wohl glaublich. Die volkstümliche Auffassung machte indessen zwischen pythagoreisch und orphisch so wenig einen Unterschied, daß Herodot beides als identisch ansieht (II 81), daß Ion von Chios (Diog. Laert. VIII 8. Clem. Alex. strom. I 131) und zahlreiche Spätere die orphischen Schriften von ihm oder von Pythagoreern verfaßt sein lassen, daß ganz allgemein dem Pythagoras die orphische Enthaltung von aller Fleischnahrung und die Verpönung des Bohnengenusses zugeschrieben wird, während Aristoteles' Schüler Aristoxenos (fr. 7; vgl. Aristot. fr. 194. 195 Rose), der die letzten Vertreter der Schule kannte und selbst ein halber Pythagoreer war, berichtet, er habe lediglich den Genuß des Pflugstiers und des Widders (dazu kommen wohl noch die Seetiere) gemieden, Bohnen dagegen gerade mit Vorliebe gegessen. – Mit dem orphischen Mystizismus hat Pythagoras nun aber die ionische Wissenschaft verbunden. Vor allem sind es die mathematischen Probleme, die sein Denken beschäftigt haben. Er zuerst hat die Geometrie über die elementarsten Erkenntnisse hinausgeführt. Von dem Problem, die Basis eines Quadrats zu finden, das doppelt so groß ist als ein gegebenes, gelangte er zu dem Satz von den Quadraten der Seiten des rechtwinkligen Dreiecks; damit war zugleich das Problem der Inkommensurabilität gegeben, welches im mathematischen Denken der Griechen immer [758] eine zentrale Stellung eingenommen hat. Auch die fünf regulären Körper und manches andere soll Pythagoras entdeckt haben. Noch eingehender beschäftigte er sich mit der Arithmetik, mit den Problemen des Geraden und Ungeraden, der Quadratzahlen, der harmonischen Zahlen usw., der Entstehung der Zahl überhaupt. In der Mathematik entdeckte er die allgemeinen ewigen Sätze, welche alle Erscheinungswesen gleichmäßig und unabänderlich beherrschen. In den Zahlen und ihren Verhältnissen glaubte er daher das Wesen der Dinge zu erkennen; auch die geometrischen Figuren sind ihm nur eine Verwirklichung der Zahl, und ebenso die Tongebilde, deren Erforschung daher einen wesentlichen Teil der Pythagoreischen Weisheit ausmacht. Auch alle ethischen Gegensätze werden auf die Zahlen zurückgeführt. Natürlich sind ihm die Zahlen etwas Reales, die Substanz der Dinge; indem sie sich verwirklichen, ist die Welt entstanden. Das führte weiter zu kosmischen Spekulationen, die bei den nächsten Generationen zu immer kühneren Folgerungen fortschritten, zu der Anschauung von der Kugelgestalt der Erde, von dem Zentralfeuer, um das sie sich zusammen mit der für uns immer unsichtbaren Gegenerde dreht, von den sie umschließenden Sphären, in denen die Gestirne sich bewegen – kühne Phantasien, die aber für die Ausbildung des wissenschaftlichen Weltbildes von der allergrößten Bedeutung geworden sind. Die große Eins ist der Urgrund der Dinge, die Gottheit und zugleich das Weltall, der Himmel; jenseits desselben liegt das Unbegrenzte, aus dem der Himmel den Atem und die Zeit und das Leere einatmet – auch hier tritt die Verbindung orphischer Ideen mit der ionischen Weisheit des Anaximander deutlich hervor. Auch sonst hat Pythagoras möglichst viel Wissen zu umspannen gestrebt: »Pythagoras, der Sohn des Mnesarchos, hat mehr Kenntnisse zusammengesucht als irgendein Mensch«; sagt Heraklit (fr. 129, vgl. 40), »daraus hat er sich seine Weisheit, sein Vielwissen, seine schlechte Kunst zurechtgemacht«1079. Er ist weit [759] gereist; daß er in Ägypten gewesen ist, wird mit Unrecht bezweifelt1080. Viele Lehrsätze kann er von den Ägyptern nicht entnommen haben, denn von den Grundsätzen seines Systems ist diesen kein einziger bekannt. Um so stärker muß die Geschlossenheit der ägyptischen Kultur, die uralte Weisheit, die in geheimnisvoller Form überliefert wird und das gesamte Leben regelt, auf ihn gewirkt haben; die Grundrichtung seines Denkens und Lehrens ist dadurch nicht geschaffen, aber bestätigt und auf die gleiche Bahn gewiesen worden1081.

Pythagoras hat seine Weisheit nicht wie Anaximander und seine Nachfolger in einem Buche niedergelegt. Er ist ein Prophet; in kurzen mystischen Sätzen, für die er seine ganze Autorität einsetzt, verkündet er die erlösende Erkenntnis. Denn dadurch unterscheidet sich seine Spekulation von der Anaximanders, daß all seine Theorien nur das Mittel sind, um die Seele aus dem Gefängnis der Leiblichkeit zu befreien und vor den Qualen der Höllenstrafen zu schützen. Der praktische Zweck ist die Hauptsache; die geheimnisvollen Lehren von der Einheit und Zweiheit, von der heiligen Vier und der heiligen Zehn bilden nur die Grundlage der Erkenntnis des Wahren und damit des Guten, auf denen sich die Erziehung des Menschen zu seinem wahren Beruf, die Leitung auf den richtigen Weg aufbaut. Wie sich freilich die mystische Theosophie [760] mit der mystischen Spekulation zu einer einheitlichen Erlösungslehre verbunden hat, wissen wir im einzelnen nicht; das sind die Geheimnisse, die nur den Geweihten überliefert werden. – Auch an Pythagoras scheint sich der Spruch bewährt zu haben, daß der Prophet in seinem Vaterlande nichts gilt. Um so glänzender war sein Erfolg in Kroton. Die ganze adlige Jugend strömte ihm zu, um sich von ihm den richtigen Weg weisen zu lassen; es scheint glaubwürdig, daß der Athlet Milon (o. S. 629) ein eifriger Schüler des Pythagoras wurde, daß in seinem Hause die Zusammenkünfte und die mystischen Übungen stattfanden. Selbst Frauen sollen seine Lehre angenommen haben. Auch in die Nachbarstädte verbreitete sich sein Ruhm, und ebenso erzählte man sich im Mutterlande von dem seltsamen Weisen – schon früh ist der eigenartige Götter- und Unsterblichkeitsglaube der Geten auf seinen Einfluß zurückgeführt worden (Herod. IV 95). Natürlich fehlte daneben die Opposition nicht; nach dem Falle von Sybaris1082, als ein großes Gebiet erobert war und seine Verteilung gefordert werden konnte, scheint sie kräftiger ihr Haupt erhoben zu haben. Unter Führung des Kylon empörte sich die Menge gegen den adligen Geheimbund, der in der Gemeinde das Regiment zu führen suchte. Pythagoras mußte Kroton verlassen; er ist nach Metapont gegangen und hier in hohem Alter gestorben. Seine Schule hat sich weit durch die unteritalischen Städte verbreitet; die große Erhebung der Massen, durch die die Pythagoreer vernichtet wurden, fällt erst in die Mitte des 5. Jahrhunderts1083.

Das Gegenbild zu Pythagoras ist Xenophanes (o. S. 704f.), der etwa um dieselbe Zeit, nachdem ihn das Schicksal lange umhergetrieben hatte, in der neu erblühenden phokäischen Kolonie Elea [761] an der Westküste Italiens das Ziel seiner Wanderungen fand. Auch er sucht, wie wir gesehen haben, die Verbindung zwischen den orphischen Lehren und der Erkenntnis; auch ihm ist die Weisheit das höchste Gut und der rechte Leitstern des Lebens; er beansprucht, weit mehr wert zu sein und dem Staat weit mehr nützen zu können als die von den Städten sinnlos geehrten Athleten und Sieger im Wettrennen (fr. 2 DIEHL). Aber von der Mystik will er so wenig wissen wie von der alten Dichtertradition. Pythagoras ist ihm ein Scharlatan, die Seelenwanderungslehre und der Glaube, daß Menschen in Tiergestalt wiedergeboren werden, ein lächerlicher Schwindel (fr. 6). Auch er versucht ein Weltbild aufzubauen, aber auf empirischer Grundlage, ähnlich den ionischen Philosophen; er vertritt eine Dualität der Elemente: Erde und Wasser, sucht die Spuren der Einwirkung des Wassers überall auf der Erde und beobachtet die Versteinerungen; er erklärt die Himmelskörper für leuchtende Dunstmassen, die schließlich erlöschen und am nächsten Morgen neu entstehen; ihre Kreisbewegung erklärt er für optische Täuschung, in Wirklichkeit bewegen sie sich geradlinig über den Himmel wie die Wolken. Im Zentrum seines Denkens aber steht die Idee der Einheit des Seins und der Gottheit; sie führt ihn an die Grenze, wo alle Erkenntnis aufhört und alle Erscheinung zum Schein wird. Auch er hat in der neuen Heimat Schüler gefunden; der Eleat Parmenides ist es gewesen, der seine Grundsätze zu einem geschlossenen System verarbeitet und die bahnbrechenden Konsequenzen aus ihnen gezogen hat.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 41965, Bd. 3, S. 757-762.
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