Die Zentralgewalt. Rechtspflege. Die Kanzlei

[38] Die Äußerlichkeiten des Hofs haben die Neugier gereizt und die Phantasie der griechischen und orientalischen Erzähler lebhaft beschäftigt. Über die Administration des Reichs dagegen sind wir nur dürftig unterrichtet; vor allem über die Art, wie die Zentralgewalt ausgeübt wurde, haben wir kaum irgendwelche Kunde. Und doch muß es Beamte gegeben haben, welche den einzelnen Zweigen der Verwaltung vorstanden, die Finanzen, das Heerwesen, die Rechtspflege leiteten, die Bittschriften für die Entscheidung des Königs vorbereiteten, die Befehle an die Statthalter ausfertigten. Sie müssen große Büros mit zahlreichen Beamten gehabt haben. Wichtige Entscheidungen, wie die über die Einrichtung der jüdischen Gemeinde unter Artaxerxes I., werden in einer großen Ratsversammlung unter dem Vorsitz des Königs getroffen, zu der alle hohen Reichsbeamten geladen sind52. An ihrer Spitze stehen die sieben Räte des Königs, deren Zustimmung im Dekret ausdrücklich ausgesprochen wird. Das mögen die Reichsminister gewesen sein; ihr Präsident war vielleicht der Chiliarch, der Hofmarschall und Wesir53. Mehr noch als er tritt das »Auge des Königs« hervor, der Beamte, dem der König die Kontrolle über das ganze Reich und die Aufsicht über alle Beamten anvertraut hat. Sein Platz ist an der Seite des Herrschers, auch in der Schlacht; nicht selten aber wird er in die Provinzen zur Inspektion oder auf andere Missionen entsendet54.

[39] Der König ist die Quelle aller Belohnungen und Strafen, der höchste Richter, der in letzter Instanz die Rechtsprechung selbst übt. Im allgemeinen sind die Achämeniden, wenn wir von den Ausschreitungen des Kambyses absehen, ernstlich bemüht gewesen, ein gerechtes Regiment zu führen und als Richter keine Parteilichkeit, als Regenten keine unbillige Bedrückung der Untertanen aufkommen zu lassen. Dem Richter, dem Bestechung nachgewiesen wurde, war die schwerste Bestrafung sicher (vgl. Herod. V 25; VII 194). »Deswegen brachte mir Ahuramazda Hilfe und die übrigen Götter, welche es gibt,« sagt Darius (Bis. IV 13f.), »weil ich nicht feindselig (gegen den Gott?), kein Lügner, nicht gewalttätig war, weder ich noch mein Geschlecht. Nach dem Gesetz herrschte ich, weder Unrecht (?) noch Gewalt übte ich. Wer meinem Hause beistand, den habe ich wohl beschützt, wer (ihm?) Schaden tat, den habe ich streng bestraft. Du, der du nach mir König sein wirst, einen Lügner und einen Übeltäter bestrafe streng!« In Erfindung langer Martern und grausamer Hinrichtungen sind die Perser vielleicht noch raffinierter gewesen als die Assyrer. Aber trotz arger Frevel, trotz manches jähzornigen und ungerechten Urteilspruchs – namentlich wenn die gutmütigen aber schwachen Herrscher der späteren Zeit sich von einer Palastintrige umgarnen oder von einer raschen Laune hinreißen ließen- tritt die Neigung, milde zu verfahren55 und Gnade zu üben, deutlich hervor. »Um eines einzigen Vergehens willen läßt weder der König jemanden hinrichten, noch straft deshalb ein Perser seinen Sklaven in nicht wieder gutzumachender Weise«, berichtet [40] Herodot I 137 (vgl. VII 194 und auch den Erlaß an Gadatas), »sondern sie ziehen alle seine Handlungen in Erwägung, und nur wenn sie finden, daß die Übeltaten mehr und größer sind als seine guten Dienste, lassen sie ihrem Zorn freien Lauf56.« Eine häufige Strafe für vornehme Männer ist die Verbannung auf eine der heißen und öden Inseln an der persischen Küste57; auch daß zur Sühne eine außerordentliche Leistung aufgelegt wird, kommt vor (Herod. IV 43). Wenn bei Hochverrätern, wie es in anderen despotischen Staaten und ebenso in den griechischen Republiken beim Sturz eines Tyrannen ständiger Brauch ist, die Hinrichtung der ganzen Familie nicht selten ist (z.B. Herod. III 119, Plut. Artax. 2), so haben doch im allgemeinen die Perserkönige den Grundsatz befolgt, die Sünden der Väter nicht an den Söhnen heimzusuchen und z.B. den Kindern von Rebellen oft genug sogar ihr väterliches Erbe zurückgegeben (Herod. III 15). – Wie zu strafen hat der Herrscher zu lohnen. Wer dem König oder dem Reich einen Dienst erwiesen hat, wird in die Liste der Wohltäter (ὀροσάγγαι) eingetragen und erhält ein Ehrenkleid, ein königliches Roß und Land und Leute zum Eigenbesitz. Es ist der höchste Ruhm des Königs, daß er jedem seine Verdienste durch größere Wohltaten vergilt und sich dadurch die Treue und den Eifer der Untertanen sichert58.

[41] Die erhaltenen Urkunden zeigen, wie sehr die Zentralregierung sich um die Einzelheiten der Verwaltung kümmerte. Wo immer ein Anlaß vorlag, griff sie direkt ein; einen Instanzenzug kennt sie nicht. Beschwerden der Untertanen, z.B. von der Priesterschaft des Apolloheiligtums bei Magnesia gegen den königlichen Domänenverwalter Gadatas wegen Heranziehung ihrer Gärtner zu Abgaben und Frohnden, werden an den König gerichtet und von ihm entschieden. In wichtigeren Fällen, z. B. über die Zulassung des Baus des Tempels und der Mauern von Jerusalem, berichtet der Satrap der Provinz oder auch der Statthalter des Bezirks an den König und holt seine Befehle ein. Konstitutive Maßregeln, wie Steuerprivilegien oder die Ordnung der Stellung und Rechte der ägyptischen; jüdischen, griechischen Priesterschaft und ihres Kultus, können nur vom König erlassen werden. Der Verkehr zwischen den Behörden und dem König erfolgt schriftlich, durch Depeschen (aram. הרגא ἄγγαρος u. S. 63, 1); die Schreiben (ןותשנ) öffnet der königliche Sekretär, der jedem Statthalter beigegeben ist (Herod. III 128). Jede Verfügung des Königs, die in offizieller Form, mit Nennung seines Namens und unter seinem Siegel, erlassen ist, gilt als Reichsgesetz (dâta התד) und ist unwiderruflich (Esther 8, 8): der Herrscher bindet sich selbst und seine Nachkommen durch die offizielle Kundgebung seines Willens. Gerade absolute Monarchien können einen derartigen Grundsatz am wenigsten entbehren. Durch schwere Strafandrohungen wird ihre Befolgung eingeschärft. Durch einen solchen Erlaß ist z.B. von Artaxerxes I. das jüdische Gesetzbuch für die Juden in Syrien zum »Königsgesetz« erhoben worden, zu dessen Befolgung sie verpflichtet sind. Ob und wieweit allgemeine Rechtssätze für das ganze Reich oder für das persische Volk vom König erlassen sind, wissen wir nicht; in der Regel wird hier die Einholung eines Gutachtens von den »Rechtsträgern«, den königlichen Richtern (o. S. 30), den Bedürfnissen genügt haben.

Die ganze Verwaltung wird, wie seit den ältesten Zeiten im Orient, schriftlich geführt; auch über die gerichtlichen Entscheidungen wird ein Protokoll aufgenommen. Am Perserhof wird wie ehemals in Ägypten, Babylon, Assyrien, an den Fürstenhöfen von [42] Israel und Juda alles sorgfältig aufgezeichnet, was der König vornimmt. Selbst in der Schlacht sind ihm die Sekretäre zur Seite, um die Namen der Krieger und Heerführer, die sich im Kampfe auszeichnen, für die Liste der »Wohltäter« zu notieren. In diese Protokolle wird jede königliche Verfügung eingetragen; die einzelnen Akten werden zu »Tagebüchern« oder »Memorandenbüchern« zusammengestellt und in den Archiven niedergelegt, die sich in den Schatzhäusern von Susa, Babylon, Egbatana u.a. befinden. So kann jeder Vorgang und jede Entscheidung jederzeit urkundlich kontrolliert werden. Im Estherroman wird erzählt, wie König Xerxes sich in einer schlaflosen Nacht aus dem Protokollbuch vorlesen läßt und dabei den Namen Mardochais findet, der eine Verschwörung entdeckt, aber noch keine Belohnung dafür erhalten hat. Die hohen Beamten und namentlich die Statthalter haben unzweifelhaft gleichartige Aufzeichnungen gehabt, die von ihren Kanzleien geführt wurden59.

Über die Einrichtung der persischen Kanzleien geben uns die erhaltenen Urkunden einigen Aufschluß. Am Hof und im Verkehr mit den persischen Beamten gebrauchte man natürlich die persische (arische) Sprache, die mit einer sehr vereinfachten, nur aus 36 Zeichen bestehenden Form der Keilschrift geschrieben wurde, die den Charakter einer Silbenschrift nahezu abgestreift hat. Aber für den Verkehr mit den Untertanen reichte die Sprache der Herrscher nicht aus. Ob im Osten noch andere Sprachen verwertet sind, wissen wir nicht. Für den ganzen Westen wird das [43] Aramäische, das schon seit der Assyrerzeit als Sprache des Handels und der Diplomatie weite Verbreitung gefunden hatte (Bd. III2 S. 24, 90f., die offizielle Sprache der persischen Behörden weit über die Grenzen der semitischen Welt hinaus. In Ägypten gebraucht man im Privatleben die Volkssprache mit ihrer aus den Hieroglyphen abgekürzten Kursivschrift, das sog. Demotische; aber die Eingaben an die Beamten, die Prozeßurkunden, die öffentlichen Rechnungen, und infolgedessen auch viele Privaturkunden werden aramäisch abgefaßt. Daß in Kleinasien die Satrapen und Heerführer sich für ihre Geldprägungen aramäischer Aufschriften bedienen, daß ein persisches Gewicht in Löwenform aus Abydos in Troas einen aramäischen Eichvermerk trägt, zeigt, daß auch hier das Aramäische die Reichssprache gewesen ist. So wird wohl auch in Babylon von den Reichsbeamten und ihren Kanzleien aramäisch, nicht babylonisch geschrieben worden sein. Daher findet das Aramäische auch im Privatgebrauch stets weitere Verbreitung; wie schon im 8. und 7. Jahrhundert manche Assyrer und Babylonier, verwenden es jetzt nicht wenige Perser für ihre Siegel. In noch weiterem Umfang als die Sprache ist die aramäische Schrift verwendet worden; vielleicht hat man die Keilschrift, die mit dem Griffel in Tontafeln eingedrückt wird, beim Schreiben mit dem Rohr auf Papyros oder ähnlichem Material überhaupt niemals gebraucht – wie sie dazu denn auch ganz ungeeignet ist –, sondern in diesem Fall auch für das Persische die bequeme und allgemein bekannte aramäische Schrift benutzt. Daraus ist später das sog. Pehlewi (d.h. die »parthische« Schrift) der Arsakiden und Sassaniden hervorgegangen. Daher ist die aramäische Schrift schon in der Perserzeit ins westliche Indien eingedrungen und wird hier zum Schreiben der einheimischen Sprache gebraucht (s.u. S. 92). Auch die Verwilderung von Sprache und Schrift in den Keilinschriften des zweiten und dritten Artaxerxes dürfte so zu erklären sein. – Im Verkehr mit den Griechen endlich verwertet die persische Kanzlei die griechische Sprache. Allen Erlassen, die zur Kenntnis der Untertanen gelangen sollen, wird eine Übersetzung in die betreffende Sprache beigefügt und eine Kopie derselben (pers. ןגשתפ) allen, die es [44] angeht, zugestellt. Auch bei Eingaben an den König haben die Statthalter, wenn ihr Inhalt den Untertanen bekanntwerden sollte, dem persischen Original eine aramäische Übersetzung beigegeben60.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 61965, Bd. 4/1, S. 38-45.
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