12. Die große Woche.

[102] Hierunter versteht man die letzte Woche zunächst vor Ostern, welche die letzte und 7te Woche der großen vierzigtägigen Fasten war. Sie hat verschiedene Namen: Sie heißt die große Woche, die stille Woche, die Marterwoche, die Karwoche. Die große Woche soll sie nach einigen darum heißen, weil in derselben so viele und grosse Wunder verrichtet worden sind. Andre meinen, dieser Ausdruck sey eine Nachahmung der Juden, welche einen großen Sabbath und einen großen Passahtag hatten. Diese Meinung ist sehr wahrscheinlich, da die ersten Christen in allen Stücken den Juden nachahmten, ihre Feste beibehielten, und ihnen nur allmählig das Andenken christlicher Begebenheiten unterschoben. Sie wollten im neuen Testamente nicht weniger haben, als die Juden im alten hatten.

Die stille Woche heißt sie entweder darum, weil nach der Verordnung des Kaisers Constantin[103] alle Arbeit in derselben ruhen mußte, und sie als ein Fest gefeiert wurde; oder deswegen, weil der Gottesdienst in dieser Woche ganz in der Stille gehalten wurde, ohne alles Geräusch. Der Gesang wurde nicht mit Orgeln oder andern musikalischen Instrumenten begleitet; und am stillen Freitage wurden nicht einmal die Glocken geläutet.

Warum sie die Karwoche heißt, darüber sind die Meinungen getheilt. Einige wollen das Wort Char von dem lateinischen Worte Charus, lieb, ableiten, und da soll Charwoche so viel seyn, als liebe, werthe Woche, weil uns keine Woche lieber und werther seyn müsse, als diese, in welcher der Grund zu unsrer ganzen Glückseeligkeit in Zeit und Ewigkeit gelegt worden sey.

Andre schreiben Kar-Woche und leiten das Wort Kar her, von einem alten deutschen Worte, Kar, welches bei den Gerichten eine Geldstrafe für ein Vergehen, und im kirchlichen Sinne eine Faste von einigen Tagen mit bloßem Brod und Wasser bedeutete.

[104] Diesem ist das Carêma gleichsam quadragema oder Quarentema in der römischen Kirche ähnlich, welches eine Faste, oder eine Buße von 40 Tagen bedeutet, welche von einem Priester dem Laien und von einem Abte den Mönchen aufgelegt zu werden pflegt. Diese Meinung hat viel für sich, da nemlich diese Woche in den ältesten Zeiten der christlichen Kirche mit einer ausserordentlichen Strenge zugebracht wurde. Denn in dieser Woche mußte ein jeder, der in den Tempel kam, sich auf die Erde niederwerfen; man stieß auf kein fröhlich Gesicht; man hörte um sich her nichts als Weinen, Seufzen, wobei häufige Thränen aus den Augen flossen; jeder übte so viele Werke der Barmherzigkeit aus, als ihm nur möglich war; sie aßen kein Fleisch, keine delikaten Speisen, tranken kein erquickendes Getränke, nur trocknes Brod war ihre Speise, und Wasser ihr Trank; die Beiwohnung der Weiber war ihnen gänzlich untersagt.

Es scheint also höchst wahrscheinlich zu seyn, daß diese Woche daher den Namen habe, und [105] daß man eigentlich Kar-Woche d.i. Fasten- oder Buß-Woche schreiben sollte.

Noch andre wollen das Wort Char von dem alten Worte Gara, welches eine Zubereitung heißt, ableiten.

Quelle:
[Anonym]: Sitten, Gebräuche und Narrheiten alter und neuer Zeit. Berlin 1806, S. 102-106.
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