Kindermord der Ostiaken.

[202] Plutarch erzählt in der Geschichte des Lycurg's, daß dieser Gesetzgeber alle schwächlichen Kinder habe umbringen lassen. »Die Väter, sagt er, waren nicht befugt, ihre Kinder nach ihrem Belieben zu erziehen. Denn so bald, als ein Kind gebohren war, mußte es der Vater selbst an einen Ort, Namens Lescha, tragen, wo es die versammelten Aeltesten aller Stämme besehen mußten. Fanden sie es nun wohlgebildet, stark und bei Kräften, so gaben sie Befehl, es zu ernähren, und wiesen ihm von den 9000 Portionen eine zu seinem Erbtheile an. Fanden sie es hingegen übelgestaltet, gebrechlich, oder schwächlich; so ließen sie [202] es an einen Ort, Apothetes genannt, werfen, welches ein eingesunkenes Loch bei dem Berge Taigetus war, weil sie es weder für die Kinder selbst, noch für die Republik dienlich erachteten, daß es leben bleibe, weil es von seiner Geburt an so beschaffen war, daß es seine ganze Lebenszeit hindurch weder stark noch gesund werden konnte. In eben derselben Absicht durften auch die Wehmütter die neugebohrnen Kinder nicht in Wasser, sondern in Wein baden, um zu versuchen, ob sie von guter Art und Leibesbeschaffenheit wären. Denn man glaubte, daß die kränklichen und mit der fallenden Sucht behafteten Kinder vor Mattigkeit stürben, weil sie die Kraft des Weins nicht ertragen könnten; dahingegen die gesunden dadurch nur desto stärker und dauerhafter gemacht würden.«

So barbarisch dieses Verfahren ist, so hat es doch nicht nur Aristoteles, ein so großer Weltweiser, im 8ten Buche seiner Politik, gebilliget, sondern man findet es noch durchgängig, wiewol nicht mit so vorsetzlich scheinenden Thätlichkeiten, [203] bei den meisten ungesitteten Völkern. Thun z.E. die Ostiaken wol etwas anders, als daß sie Lycurg's Gesetze beobachten, wenn uns Weber von ihnen erzählt, daß die Weiber auf ihren Heerzügen im härtesten Winter oft ihre Kinder stehend gebären, sie hierauf alsobald in den Schnee scharren, bis sie zu weinen anfangen, damit sie hart werden sollen, und sie alsdann in den Busen stecken, und mit der Gesellschaft ihren Weg weiter fortsetzen. Nach Verlauf von 4 bis 5 Wochen wird in der Mitte ihrer Hütte ein Feuer angemacht, worüber die Wöchnerinn dreimal hinspringet, welches der Beschluß ihrer Wochen ist, da sie sich dann wieder zu ihrem Manne begiebet, welcher sie nebst dem Kinde, nach seinem Belieben, entweder aufnimmt oder fortjaget.

Quelle:
[Anonym]: Sitten, Gebräuche und Narrheiten alter und neuer Zeit. Berlin 1806, S. 202-204.
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