21. Wanderjahre und Landung im Hafen.

[185] Das Haus an der Alster war mit dem Beginn der kälteren Jahreszeit wieder bewohnt, aber nur selten und flüchtig hatte ich Beziehungen mit dessen Bewohnern.

Wieder kam Ostern heran, und in der Schule erhielt ich meine letzten Arbeiten zurück. Das Heft steckte ich nicht in den Ranzen, ich hatte beim flüchtigen Umblättern gesehen, daß ein langer, roter Satz unter den[185] Aufsätzen stand. Konnte mir der Professor wohl etwas sehr Schlimmes unter meine Arbeit geschrieben haben, da er mich doch so freundlich, und mit so vielen guten Wünschen entließ? – An der nächsten Straßenecke stand ich still und las klopfenden Herzens:

»Auch diese beiden Arbeiten beweisen den Fleiß und die guten Fortschritte, die du gemacht, zwar war der Stil von Anfang an sehr ausgebildet, aber er hat doch wohl noch gewonnen. Sehr schnell aber sind die vielen orthographischen Fehler, die zuerst die Arbeiten verunzierten, verschwunden. Es wäre sehr wünschenswert, wenn du die mit so gutem Erfolg betriebenen Übungen nicht liegen ließest. Cellarius.«

Das hatte ich doch nicht erwartet, das beschämte mich tief. Nun aber mit dem Heft an die Alster! – Lisette erschien am Küchenfenster und nickte mir freundlich zu.

»Gutes Zeugnis!« rief ich.

»Komm doch und zeig!«

»Nein, erst soll Frau Doktor es sehen.«

Frau Doktor saß an ihrem Schreibtisch, bei meinem Eintritt sah sie mich fremd und kalt an, so daß mein Fuß unwillkürlich stockte, dann sagte sie langsam:

»Ich muß dich wohl zu deiner Mutter schicken, ich höre gar nichts Gutes von dir.«

Schweigend legte ich mein Heft auf den Schreibtisch, Frau Doktor las länger, als der Satz es erforderte. Sie bot mir dann einen Stuhl an und fragte allerlei, dann schrieb sie, faltete den Brief zusammen und sagte: »Diesen Brief gib den Damen. Dieser Aufenthalt war vielleicht ein Irrtum meinerseits. Morgen werden deine Sachen geholt, du kommst um zwölf her, so daß du zum Frühstück hier bist. Auf Wiedersehen, morgen!«

O, ein Irrtum von ihr? Das sagte sie zu mir? Sie sah mir wohl meine Freude und mein Glück an, sie[186] lächelte mir freundlich zu, da faßte ich mir ein Herz und fragte:

»Darf ich nun wieder für immer hier bleiben?«

»Nein,« sagte sie, »nur vorübergehend. Du wirst bald erfahren, wohin ich dich schicke, und das wird dann hoffentlich kein Irrtum!«

Zur bestimmten Zeit kam ich mit meinem Bücherranzen, und schon von weitem sah ich zwischen Palmen und Blattpflanzen das schöne Gesicht von Frau Doktor. Sie lächelte, nickte und winkte. Ich brauchte nicht zu klingeln, sie kam selbst heraus, öffnete die Tür, nahm mich in die Arme und küßte mich. Wer war glücklicher als ich! Ich war in einem Fieberrausch von Schwärmerei, und ich sehnte mich nach großen Heldentaten, um Frau Doktor zu beweisen, was ich alles für sie tun könnte. – Es wurde aber gar nichts Außergewöhnliches von mir erwartet, ich half an meiner Ausrüstung nähen.

Einige Wochen danach stand Frau Doktor vor einem Reisekoffer. Sie sah heute ganz hausmütterlich aus in ihrer weißen Schürze. Sie packte eigenhändig meinen Koffer, und besonders gerührt war ich, als sie einen Sonnenschirm hineinlegte, wobei sie mir erzählte, den hätte ihr einst ihr Vater in Paris gekauft. – Dann gab sie mir lächelnd ein Papier:

»Ich hab's diesmal noch gnädig gemacht mit dem Stundenplan, du wirst dich in diesem Jahr noch nicht zu Tode arbeiten. Denke aber an deine schwache Seite: die Sprachen! Wenn du deine Pflicht getan hast, lauf nur in Berg und Wald herum, das ist dir jetzt ebenso notwendig wie das Lernen. Grüß mir meine liebe Wartburg und mach mir Freude!«

Als mir Lisette auf der Treppe begegnete, sagte sie: »Du kommst doch noch mal herunter und nimmst Abschied von uns?«[187]

Natürlich tat ich das, aber wie verwundert war ich, als mich Lisette vor ein kleines Tischchen führte, wo ganz feierlich einiges aufgebaut war.

»Katalischen, das ist mein Bild,« und Lisette fuhr gerührt mit der Hand über die Augen, »du vergißt mich doch nicht?!«

»I, Lisette, wie könnte ich Sie je vergessen?«

Marie schenkte mir Briefbogen, und Johann –? ein Stammbuch! Es lag ein Zettel darauf: Zur Erinnerung an Johann Knickrehm! – –

Das mußte ich Frau Doktor zeigen! Sie lachte herzlich, und meinte: »Na, jedenfalls müssen sie dich unten recht gern gehabt haben!« – –

Andern Tags fuhr eine Droschke vor, Johann setzte sich auf den Bock, Hans kam zu mir in den Wagen, und Lisette kam noch im letzten Augenblick, und schob einen Korb hinein. »Für unterwegs!« sagte sie weinend, und streichelte mir zärtlich die Hände.

Die Droschke brachte mich an die Petrikirche. Da stand der Omnibus, der mich dann mit der Fähre nach Harburg hinüber brachte. Johann öffnete die Tür des Omnibus, sah sich unter den verschiedenen Leuten um, dann wandte er sich an einen jungen Mann und fragte: »Sie sind doch Gehrts von der Fabrik?« Der Mann lüftete seinen Hut und nickte.

»Sehen Sie mal, Gehrts, dies ist das junge Mädchen, das Sie nach Harburg begleiten sollen. Der Herr läßt Ihnen sagen, Sie möchten ihr ihre Sachen gut durch den Zoll besorgen, ein Billet nach Eisenach nehmen, ihr im Coupé einen guten Platz aussuchen und warten, bis der Zug abgefahren ist.«

»Soll alles pünktlich besorgt werden,« sagte der junge Mann.

Hans und Johann drückten mir herzlich die Hand,[188] Johann vermahnte mich, kein Heimweh zu kriegen und rief mir schließlich noch nach: »Nicht vergessen! in Kassel umsteigen! Nachts um drei kommst du in Eisenach an, aber sei man nicht bange, du wirst sicher abgeholt.«

Fort rummelte der Omnibus!

Ich hörte, wie eine Frau zur andern sagte: »Ja, ja, so ein verhätscheltes Ding aus reichem Hause! Ein Diener vorn und einer hinten!«

Punkt drei lief der Zug in Eisenach ein, ich wurde von der Dame selbst und einigen jungen Mädchen, deren eine eine große Stallaterne trug, in freundlichster Weise abgeholt. Diesmal war es kein Irrtum! –


***

Vor Ablauf eines Jahres kam ein Brief von Frau Doktor, darin hieß es: »Ich verstehe recht gut, daß Du gern noch länger in Eisenach bliebest, und es freut mich, daß dies ein so glückliches und fröhliches Jahr für Dich war. Aber Du bist jetzt in dem Alter, wo man Dir schon tüchtige Arbeit zumuten kann. Ostern packe Deinen Koffer und reife nach Wolfenbüttel. Du bist da angemeldet. Ich mache Dich darauf aufmerksam, daß Du jetzt auf Jahre hinaus Glied einer großen Gemeinschaft wirst. Benutze die Gelegenheit und lerne tüchtig. Es sind viele Ausländerinnen im Institut, übe Dich in den fremden Sprachen! Achte in jeder Beziehung auf Dich, auch was Deinen äußeren Menschen anbetrifft, damit Du Dir eine geachtete Stellung unter Deinen Genossinnen erwirbst. –«

Vier Jahre war ich in Wolfenbüttel, drei als Schülerin und eins als Lehrerin. Hier traf mich die Nachricht vom Tode meines Vaters.


***

Nach Verlauf dieser Jahre kam wieder ein Brief: »Ich habe Dir heute zwei Vorschläge zu machen: »Willst[189] Du eine Stelle in Hamburg? Für den Fall hättest Du Anschluß an uns. Oder möchtest Du nach London –?«

Nach einigem hin und her, wählte ich London, und ich habe es nicht zu bereuen gehabt. Ich war sehr gern in England und habe nach allen Seiten hin nur gute Erfahrungen gemacht. –

Frau Doktor rief mich zurück in die deutsche Heimat, sie stellte mir eine lehrende Tätigkeit an den Kieler Krankenhäusern in Aussicht. – Ja, das Haus an der Alster war verkauft; Doktors bewohnten in Kiel ein Haus vor der Stadt. Die Kieler nannten es bewundernd: »Das Schloß am Meer«. Hier war der Garten nicht durch hohe Planken eingeengt, nein, müde konnte man sich laufen, ehe man den großen Park durchwanderte. Für diesen Fall waren Ausruhpunkte und Lusthäuschen zu finden, so: das Schweizerhäuschen und die Fischerhütte, unten am Ostseestrande. Bei meiner Rückkehr öffnete Johann den Wagenschlag, ich reichte meinem alten Bekannten die Hand, und er sagte: »Na, Fräulein, ist man gut, daß Sie wieder zu Hause sind. Hier haben wir inzwischen die Franzosen besiegt, – aber das wissen Sie ja.«

Das war eine herzliche Begrüßung nach langer Trennung. – Ich hatte die höchste Eile mich noch zu Tisch zurecht zu machen, als ich im Eßsaal erschien, waren da allerlei fremde Gesichter. Ein junger, bärtiger Offizier, mit dem Arm in der Binde und ein junger Kandidat, ein stattlicher, blonder Herr, wurden mir vorgestellt, und da war noch ein junger Mensch, der mich lächelnd betrachtete.

»Du kennst wohl Hans gar nicht mehr?« sagte Herr Doktor lachend. Nein, Hans war groß und hübsch geworden, und der Herr Kandidat war sein Hauslehrer gewesen, und war jetzt wochenlang zum Besuch da. –

Meine neue Tätigkeit befriedigte mich, ließ mir aber[190] immerhin noch Zeit genug, das weiter zu pflegen, was nun ein Genuß und eine Freude für mich war. –

Eines Tages hatte ich mich in ein englisches Buch vertieft. Die Fischerhütte lag so still und abgelegen, man hörte nur das Zwitschern der Vögel und den leisen Schlag der Wellen. – Da wurde der Eingang plötzlich verdunkelt, der Herr Kandidat kam, er setzte sich nach kurzer Begrüßung auf die andere Bank. Wir lasen nicht immer, wir hatten uns schon öfter über Erziehung unterhalten und unsere gegenseitigen Meinungen ausgetauscht. Unter anderem fragte ich ihn, was er da für ein Buch habe, was ihn so interessiere. Er sagte: »Es ist der Katechismus.«

»Ich dachte,« sagte ich, »den müßten Sie als angehender Pastor längst auswendig kennen.«

Er reichte mir lächelnd das Buch, erstaunt sah ich hinein und fragte:

»Was ist denn das für eine Sprache? Deutsche Buchstaben, und doch verstehe ich kein Wort?«

»Das ist Dänisch,« sagte er lächelnd.

»Lernt man denn das auch noch?« fragte ich erstaunt.

»Wie sie sehen,« sagte er. »Haben Sie Luft? Ich will Ihnen gern Unterricht darin geben.«

»Nie-mals!« sagte ich entrüstet, »das würde ich nie in den Kopf kriegen.«

»Ich wette, daß Sie es noch lernen,« sagte er übermütig, »passen Sie mal auf, daß ich recht behalte!«

Es ist schrecklich, daß die Männer immer recht behalten! –

Als er mir kurze Zeit danach Liebe, Heimat und Namen anbot, da lernte ich wahrhaftig noch Dänisch![191]

Im März nächsten Jahres wanderte ich in Begleitung von Metas Vater am Hamburger Hafen entlang. Wir hielten Ausschau nach der »Susanne Godeffroy«.

Endlich kommt sie. – Alle verlassen nach und nach das Schiff, jeder der vorübergehenden Frauen habe ich gespannt entgegen gesehen. Nun gehen wir aufs Schiff. Der Kapitän kommt auf uns zu, und als er hört wer wir sind, bietet er mir feierlich den Arm und sagt:

»Ihre Mutter ist in großer Aufregung, sie sitzt unten in der Kajüte. Ich werde dafür sorgen, daß dieses Wiedersehen nicht gestört wird, da gehört kein Dritter dazu.« –


***

Später komme ich wieder einmal nach Hamburg. Das Adreßbuch (heute überlasse ich mich nicht dem Zufall) zeigt mich nach der Rosenstraße.

Eine rundliche Dame öffnet auf mein Klingeln.

»Kennen Sie mich?« frage ich, und lege einen eingewickelten Gegenstand in ihre Hände. »Nur zum Ansehen,« sage ich bittend, »denn ich hoffe sehr, Sie machen mir dieses Buch zum Geschenk!«

Die Dame sieht mich lange prüfend an, wickelt das Büchlein aus dem Seidenpapier und sagt zweifelnd:

»Doch – nicht? –!«

»Ja, ja,« sage ich, »sagen Sie es nur, es stimmt schon.« –

Da gab's viel zu erzählen! Ich bat die Frau Pastorin, mich doch wieder »Du« zu nennen.

»Nun gut,« sagte sie, »aber dann soll es gegenseitig sein. – Und nun hast du also endlich eine irdische Heimat gefunden! Aber nicht wahr:


Die Heimat der Seele ist

droben im Licht!«


Quelle:
Bischoff, Charitas: Augenblicksbilder aus einem Jugendleben. Leipzig 1905, S. 185-192.
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