Im Kampf mit der Reaktion

Das Sozialistengesetz sollte am 30. September 1884 ablaufen und einige Wochen später sollten die Neuwahlen zum Reichstage stattfinden. Bismarck bereitete zeitig die Verlängerung des Ausnahmegesetzes vor um mit dieser furchtbaren Waffe kräftig in den Wahlkampf eingreifen zu können.

Die Sozialdemokratie hatte sich nunmehr vollkommen für den bestehenden Zustand eingerichtet und glaubte mit einem langen Leben der gesetzgeberischen Mißgeburt. Sozialistengesetz genannt, rechnen zu müssen. Dabei gewann die verfemte Partei tagtäglich an Terrain. Während bornierte Junker in diesem Ausnahmegesetz das beste Mittel zur Bekämpfung der »Umsturzbewegung« erblickten, war der intelligente Teil der liberalen Bourgeoisie dessen schon längst überdrüssig; sie fühlte wohl, wie das politische Leben vergiftet wurde.

Zuerst bereute Lasker, den man halb spaßhaft als den Vater des Sozialistengesetzes zu bezeichnen pflegte, die Sünde dieser seiner Vaterschaft. Schon 1880, als die erste Verlängerung des Ausnahmegesetzes beantragt wurde, stimmte Lasker dagegen, indem er der Regierung mit Recht vorwarf, sie habe die Zusicherungen, die sie betreffs objektiver Anwendung des Gesetzes gegeben, nicht innegehalten.

Lasker war damals schon ein gebrochener Mann und ich hatte Gelegenheit, seinen Niedergang in der Nähe beobachten zu können.

Am 4. Juni 1883 sollte ich in einer Volksversammlung zu Bielefeld über die Bismarcksche Sozialreform sprechen. Im Bahnhof Friedrichstraße stieg Lasker in den Schnellzug zu mir. Er trat damals jene Reise nach Nordamerika an, von der er nicht wiederkehren sollte. Eine Menge Freunde und Freundinnen gaben ihm das Geleite und die letzteren warfen eine Menge Kränze und Blumensträuße ins Kupee. »Leben Sie wohl, Herr Doktor!« ertönte es vielstimmig, als der Zug sich in Bewegung setzte.

Nach herzlicher Begrüßung begann er sofort eine lebhafte Unterhaltung mit mir. Körperlich schien er sehr müde, aber er plauderte so eifrig, wie ich ihn nur jemals gehört. Da er sich in der Gegenwart nicht mehr zurecht fand, klammerte er sich um so eifriger an die Vergangenheit. Er sprach von Sturm und Drang der Jugend und wie er 1848 zu Wien in Reih und Glied der akademischen Legion gefochten; von Bem und Messenhauser; er erzählte von den Kämpfen mit Bismarck und Roon im preußischen Abgeordnetenhause in der Konfliktszeit und er prophezeite, daß das Sozialistengesetz im nächsten Jahre fallen und Bismarck nach sich ziehen werde. Alles mit außerordentlicher Lebendigkeit.[105]

In Hannover hatten wir eine halbe Stunde Aufenthalt und stiegen aus. Da sah ich erst, wie gebrochen er war. Er lief wie ein Kind hinter mir her und tat alles, was ich tat. Ich kaufte mir eine Zeitung – er auch; ich nahm im Restaurant einen Likör – er auch; ich ließ mir ein Butterbrot einschlagen – er auch, und dann täppelte er wieder hinter mir her ins Kupee zurück. Als wir durch Bückeburg fuhren, tummelten sich auf den Wiesen viele Bauernmädchen in grellroten Röcken, was ihm eine so kindische Freude machte, als habe er dergleichen noch niemals gesehen. Dann fragte er mich, ob ich in meiner Versammlung auch mit Gegnern zu kämpfen haben werde. »Jawohl«, meinte ich, »dort werde ich mit Anhängern Stöckers zu tun bekommen.« Das regte ihn auf. »Sagen Sie denen nur tüchtig die Wahrheit!« rief er.1

Wir schieden tief bewegt; ich konnte nicht ohne Rührung diese Ruine sehen, die einen so berühmten Namen trug.

Bismarck nahm gegenüber diesem Manne, der ihm so viele Dienste geleistet, den er aber so oft öffentlich brüskiert, auch nach dessen Tode eine nicht gerade ritterliche Haltung ein. Das Repräsentantenhaus zu Washington hatte dem in Nordamerika verstorbenen Lasker in einer Resolution seine Sympathie ausgedrückt und die Resolution statt an den Präsidenten des Reichstages an den Reichskanzler Fürsten Bismarck geschickt, um sie dem Reichstage zu übermitteln. Bismarck weigerte sich dessen, wies eine diesbezüglich von den Freisinnigen an ihn gerichtete Interpellation grob ab und setzte den toten Lasker persönlich herunter. – Dessen Schrift: »Bekenntnisse einer Mannesseele« ist von seinen Freunden aufgekauft worden.

Inzwischen dämmerte der Schimmer einer Möglichkeit auf, daß der von Lasker prophezeite Fall des Sozialistengesetzes wirklich eintreten könnte. Am 5. März 1884 vereinigten sich die Reste der alten Fortschrittspartei unter Eugen Richter und Virchow mit der liberalen Sezession, das heißt mit den »unentwegten« Freihändlern Braun, Bamberger, Forckenbeck u.a., die wegen Bismarcks Schutzzöllnerei aus der nationalliberalen Partei ausgeschieden waren. Sie bildeten zusammen die neue Deutsche Freisinnige Partei. In dem Programm dieser Partei[106] befand sich auch die Forderung: »Gleichheit vor dem Gesetz ohne Ansehen der Person und der Partei.

Es war kein gutes Vorzeichen, daß die neue freisinnige Fraktion des Reichstages, welche 110 Mann stark war, vom Volke sogleich spöttisch als die »Goldenen Hundertzehn«2 bezeichnet wurde. Immerhin war dies nur ein Volkswitz. Bedeutsamer war schon, daß die Partei, die mit dem baldigen Ableben des 8«jährigen Kaisers Wilhelm I. rechnete, sich als »Kronprinzenpartei« auftat. Der Kronprinz, der zu ihrer Begründung gratuliert, wollte für seine Regierung eine große liberale Partei haben. Dies genügte, um den Haß, den Bismarck von jeher gegen alles Fortschrittlertum hegte, ins Ungemessene zu steigern, da er von einer solchen liberalen Aera seinen Sturz erwarten mußte.

Die schneidige Kritik, welche von den Sozialisten an dem System Puttkamer geübt wurde, hatte auch auf die fortschrittlichen Wähler gewirkt und sie drängten darauf, daß die neue Fraktion gegen die Verlängerung des Sozialistengesetzes stimmen solle, was auch von einigen Führern zugesagt wurde. Aber


»Wer ist es, der erwärmen mag

Gefrorne Professoren?«3


Der berühmte Historiker Theodor Mommsen, Mitglied der neuen Partei, richtete an seine Wähler ein Schreiben, worin er das Mühlrad aufwies, das in seinem Kopfe herumging. Er sagte: »Das Gesetz nützt nicht bloß recht wenig, sondern es ist positiv schädlich, es fördert die Krankheit, die es bekämpfen will.« Aber dann sagte er, daß er für die Verlängerung des Gesetzes stimmen werde, wenn die Regierung nicht mit dessen Beseitigung einverstanden sei. Für »die Verkehrtheit einer unveränderten Verlängerung« mache er die Regierung, nicht den Reichstag verantwortlich.

Jämmerlicher als dieser berühmte Professor benahm sich höchstens der Philosoph des Unbewußten, Eduard von Hartmann, der unentwegt von der »erzieherischen Wirkung« des Ausnahmegesetzes faselte.

Als dem alten Kaiser Wilhelm eine Deputation des Reichstages zu seinem Geburtstage gratulierte, sagte der Monarch, er werde eine Ablehnung der Verlängerung des Ausnahmegesetzes als gegen seine Person gerichtet betrachten. Darauf knickten die Freisinnsmannen völlig zusammen, denn sie wußten nun, daß Bismarck bei den Neuwahlen alle seine Machtmittel gegen sie spielen lassen werde, wenn sie sich widerspenstig zeigten. Wir trugen uns nicht mit Illusionen. In der Diskussion, die am 8. Mai begann, beschränkte sich die sozialdemokratische Fraktion darauf, tatsächliche Unwahrheiten zurückzuweisen, und ließ durch Liebknecht eine Erklärung abgeben, in der es heißt:[107]

»Wir halten es unter unserer Würde, durch feige Schmiegsamkeit die verachtungsvolle Duldung der feindlichen Parteien und Regierungen zu erkaufen ... Daß durch die Verlängerung des Sozialistengesetzes die Wahrscheinlichkeit eines friedlichen Verlaufes der großen sozialen Revolution, innerhalb deren wir uns befinden und an der ausnahmslos alle Parteien mitarbeiten, wesentlich gemildert wird, das kann niemand bezweifeln, der die menschliche Natur und die menschlichen Entwicklungsgesetze kennt ... Für uns ist die Situation nicht verändert; wir werden fortfahren, den Weg zu wandeln, den die Pflicht uns vorschreibt, und wir werden nach wie vor alle unsere Kräfte daran setzen, um den Sieg, der als naturnotwendige Frucht der gesamten sozialpolitischen Entwicklung des neunzehnten Jahrhunderts uns zufallen muß, möglichst bald an das Banner der Sozialdemokratie zu fesseln.« –

Am 10. Mai 1884 fand in zweiter Lesung die entscheidende Abstimmung statt, durch welche mit 189 gegen 157 Stimmen das Sozialistengesetz verlängert wurde.

Die Tragikomik, welche dieser Sitzung des Reichstages anhaftete, wird mir unvergeßlich bleiben.

Als wir den Sitzungssaal betraten, hatten wir uns mit der Tatsache der unvermeidlichen Verlängerung des Ausnahmegesetzes bereits abgefunden. Wir hatten etwas davon läuten hören, daß die ehemaligen Nationalliberalen, die sich nun bei den Freisinnigen befanden, umfallen würden, um nach oben hin zu beweisen, daß sie immer noch ein »staatserhaltender Faktor« seien; wir wußten auch, daß der im freisinnigen Programm befindlichen Satz von der »Gleichberechtigung aller vor dem Gesetz ohne Ansehen der Person oder Partei« diesen edlen »Mannesseelen« kein unüberwindliches Hindernis bereiten würde. Was wir aber noch nicht wußten, war, daß Eugen Richter durch seinen Adjutanten, den Abgeordneten Hermes, den Mitgliedern der ehemaligen Fortschrittspartei hatte schreiben lassen, es sei nicht nötig, daß sie zu der entscheidenden Abstimmung im Reichstage erschienen. Die Sache kam später an den Tag. Der Wortlaut der betreffenden Briefe wurde veröffentlicht. Richter verkroch sich hinter dem Vorwand, die Abkommandierung sei nicht im Auftrage des Parteivorstandes geschehen. Das wurde von niemand ernst genommen.

Freisinnige, Zentrum, Sozialdemokraten, Welfen, Deutsche Volkspartei – von den Elsaß-Lothringern und »Wilden« abgesehen – verfügten als wirkliche oder angebliche Gegner des Sozialistengesetzes zusammen über 234 Stimmen; die absolute Mehrheit betrug 199. Nun fielen vom Zentrum 39 und von den Freisinnigen 27 um, zusammen 66, woraus sich eine Mehrheit für das Sozialistengesetz ergab.4[108]

Damals wurde die namentliche Abstimmung nicht mit Karten, sondern durch Namensaufruf vollzogen.

Als die Abstimmung begann, herrschte bei den Freisinnigen eine große Aufregung; manchem schlug denn doch das Gewissen. Die Abstimmung wurde ihnen nicht leicht gemacht. »Aha!« – »Oho!« – »Pfui!« erscholl von unseren Bänken, wenn einer umfiel. 51 Abgeordnete fehlten. Als der Präsident von Levetzow das Resultat der Abstimmung verkündete, herrschte eine lebhafte Bewegung im Saale und es wurden mehr oder minder heftige »Komplimente« ausgetauscht. Eugen Richter war am aufgeregtesten; es schien ihm jetzt erst recht zum Bewußtsein zu kommen, was seine Partei getan. Ich hörte ihn deutlich rufen: »Wenn so etwas noch einmal vorkommt, trete ich aus der Partei aus!« Und doch hatte er selbst sein vollgerüttelt Maß zu diesem Ausgange der Sache beigetragen.

Nach der Abstimmung trat der Abgeordnete Kämpffer an mich heran, ein Achtundvierziger und ein fester Demokrat, der sich der freisinnigen Partei angeschlossen. Er trug einen an Eugen Richter adressierten Brief in der Hand.

»Sehen Sie«, sagte er, »das enthält die Erklärung meines Austritts aus der freisinnigen Partei.«

»Was wohl Richter dazu sagen wird?« meinte ich.

»Das ist mir gleichgültig«, erwiderte Kämpffer. »Ich kann nicht in einer Partei bleiben, die sich so benimmt.«

Ich sah wie Eugen Richter den Brief las und ein recht langes Gesicht dazu machte. –

Inzwischen war das »Berliner Volksblatt« gegründet worden, aus dem sich der heutige »Vorwärts« entwickelt hat. Das Blatt war notwendig geworden gegenüber den Umtrieben der Anarchisten und den Wühlereien sozialdemagogischer Reaktionäre à la Stöcker in Berlin. Singer gab die Mittel zu dem Blatte her. Es wäre gut gewesen; wenn man das Blatt gleich in größerem Stil hätte auf den Plan treten lassen; allein dazu reichten die disponiblen Mittel nicht aus. Es war auch sehr begreiflich, daß niemand ein größeres Kapital an ein Unternehmen wagen wollte, dem jeden Augenblick von der Polizeifaust der Kragen umgedreht werden konnte.

Das Blatt mußte also unter sehr schwierigen Verhältnissen ins Leben treten. Die Leitung der Redaktion wurde mir übertragen und Hasenclever lieh mir in der ersten schwierigen Zeit seine Unterstützung. Am 25. März 1884 erschien der von mir verfaßte Prospekt des Blattes, den die Polizei unbeanstandet zirkulieren ließ. Am 1. April kam die erste Nummer heraus.

Zum Mitredakteur hatte man mir den ehemaligen preußischen Leutnant und späteren »Naturapostel« Johannes Guttzeit gegeben, den irgend jemand bei Singer empfohlen hatte. Guttzeit war gewiß ein guter Kerl, der die ganze Menschheit unaussprechlich liebte, aber in die Redaktion eines sozialdemokratischen Blattes paßte er nicht hinein. Überhaupt war[109] ihm die journalistische Welt völlig fremd. Er zeichnete das Blatt als verantwortlicher Redakteur und erhielt eines Tages eine Vorladung vor den Untersuchungsrichter. Ich instruierte ihn dahin, daß er, wenn er bei der Vernehmung nach dem Verfasser des inkriminierten Artikels gefragt werde, einfach sagen solle, er kenne den Verfasser nicht. Daraufhin antwortete er auf Grund seiner Naturphilosophie entrüstet: »Aber ich muß doch die Wahrheit sagen!« – Er sah schließlich selbst ein, daß er am unrechten Platze, und verfiel auf den Gedanken, sich der Partei als Agitator anzubieten, wofür sie ihn nur mit der nötigen Quantität von Äpfeln und Schrotbrot – er war strengster Vegetarier – zu versehen brauche.

Parteigenossen, die in der sozialdemokratischen Bewegung hervorgetreten waren, konnten nicht angestellt werden, da sie sonst ausgewiesen worden wären, wie auch mit Rödiger geschah; mich selbst schützte, solange der Reichstag beisammen oder vertagt war, mein Reichstagsmandat. Es kam an Guttzeits Stelle ein sehr tüchtiger Berliner Journalist namens Horn; auch Kurt Baake machte hier seine journalistische Lehrzeit durch.

Das Blatt kämpfte schwer gegen die überlegene Konkurrenz der bürgerlichen Presse. Es erschien nur vier Seiten stark und sollte doch alles berücksichtigen. Dabei waren die Berliner Parteiverhältnisse damals nicht so, daß auf sie gestützt ein Blatt rasch in die Höhe kommen konnte. Außerdem mußte ich die Fußangeln des Sozialistengesetzes vermeiden, was zur Folge hatte, daß sich alsbald die unerbittlichen Dränger einstellten, welche mit überlegenem Tone forderten, das Blatt müsse »radikaler« werden. Ich erinnere mich einer Konferenz bei Singer, wo die gleiche Forderung von einem inzwischen sehr gemäßigt gewordenen Parteigenossen gestellt wurde. Ich erwiderte, daß das Blatt nur dann einen Zweck habe, wenn es überhaupt bestehe, und daß ich es an der äußersten Grenze des unter dem Gesetze Möglichen dahinsteuere. Aber wie einst Cato die Zerstörung Karthagos, so forderte der andere immer wieder: »Das Blatt muß radikaler werden.« – Singer schüttelte den Kopf und sagte nachher lachend: »Laß dir das Leben nicht sauer machen; du hast ja Humor!«

Immerhin hatte das Blatt in drei Monaten 2400 Abonnenten errungen. Als die Reichstagssession von 1884 zu Ende war, mußte ich aus der Redaktion scheiden, um nicht ausgewiesen zu werden.

Der Grund war gelegt, auf dem weiterzubauen nicht so schwierig war wie der Anfang.

Ich denke oft noch an die zwei kleinen Stübchen; die wir Zimmerstraße 44 parterre innehatten; im vor deren waltete der heutige Reichstagsabgeordnete Ewald als Expeditionsleiter seines Amtes, im hinteren hauste ich mit meinem jeweiligen Mitredakteur. Aus solch winzigem Anfang ist heute das mächtige Geschäft des »Vorwärts« in der Lindenstraße entstanden.[110]

Hier muß ich noch einige Bemerkungen zu meiner persönlichen Verteidigung einflechten gegen Anschuldigungen, die nachher gegen mich erhoben worden sind.

Als Reporter für Versammlungen usw. hatte sich der alte Herr von Hofstetten gemeldet und ich hatte diesem gerne die Stelle übertragen. Aber er bereitete mir arge Verlegenheiten. Denn er brachte seine Berichte in der Nacht noch an bürgerliche Blätter und erst am folgenden Tage kam er damit zu mir. So kam es, daß ich mit meinen Berichten über Versammlungen, auch wenn es sozialistische waren, stets um einen Tag nachhinkte, was mir die heftigsten Vorwürfe eintrug. Ich machte Hofstetten darüber Vorhalt, wodurch er sich gekränkt fühlte und woraus er Anlaß nahm, sich vom Blatte zurückzuziehen.

Nach seinem Tode war in unseren Blättern zu lesen, ich hätte »einen alten verdienten Parteigenossen« mit unangebrachter Härte behandelt.

Die so schrieben, waren dazu nicht berufen, denn sie kannten Hofstettens Geschichte nicht.

Der Baron Jean Baptist von Hofstetten war erst Schauspieler und dann bayerischer Offizier an der Suite des Königs. Er heiratete eine Gräfin Strachwitz mit etwas Vermögen. Kurz zuvor hatte er, wie aus den 1872 veröffentlichten Tuilerienbriefen hervorging, an Napoleon III. geschrieben und diesem eine Zusammenkunft vorgeschlagen, um ihm Enthüllungen über den bayerischen Hof zu machen. Hofstetten erschien in Straßburg, aber Napoleon erschien nicht. Später wurde Hofstetten mit Herrn von Schweitzer bekannt und legte diesem den Plan vor, daß er, Hofstetten, als Agent des von Lassalle gegründeten Deutschen Arbeitervereins, den damaligen Kronprinzen und späteren König Ludwig II. von Bayern dafür beeinflussen solle, mit der auf 120000 Mann zu bringenden bayerischen Armee Deutschland zum Einheitsstaat zu machen. Dieses tolle Projekt, von dem auch Lassalle gewußt haben soll, fand natürlich keinen Anklang.5 Von da ab schloß sich Hofstetten eng an den Herrn von Schweitzer an, nachdem er aus der Armee ausgeschieden, und fungierte als Mitherausgeber beim Schweitzerschen »Sozialdemokrat«. Es scheint, daß Schweitzer ihm unerfüllbare Versprechungen gemacht und ihn ausgenutzt hat; das Vermögen von Hofstettens Gattin ging jedenfalls drauf. Nun schickte Schweitzer seinen Freund Hofstetten nach Wien, um dort ein Arbeiterblatt zu gründen, und Hofstetten ließ sich dort verleiten, beim König von Hannover und dem Pater Greuter, dem Führer der Klerikal-Feudalen, um Geld nachzusuchen. Als dies bekannt wurde, war seine Rolle in Wien ausgespielt.6 Schweitzer ließ ihn nun auch im Stich. Hofstetten wirkte als Journalist bei bürgerlichen Blättern, konnte aber keine feste Stellung gewinnen und war eine Zeitlang[111] auf dem Polizeipräsidium zu Berlin mit Schreibereien beschäftigt, die sich auf die Ausweisung von Deutschen aus Frankreich bezogen. Diese letztere Sache halte ich für harmlos, denn mit der politischen Polizei hatte Hofstetten nichts zu tun. Wie es hieß, war seine Frau mit dem Polizeipräsidenten von Wurmb verwandt.

Diese Dinge waren den Berliner Parteigenossen, die mich wegen der Behandlung Hofstettens tadelten, nicht bekannt. Mir aber waren sie bekannt und ich habe ihn mit Rücksicht auf seine Notlage doch als Berichterstatter akzeptiert. Daß er diese Stellung aufgab, war nicht meine Schuld; man hätte sich verständigen können, wenn er nicht gleich so sehr gekränkt gewesen wäre. Er war eben den Baron noch nicht los geworden. Jedenfalls lag keine Veranlassung vor, hinterher ein solches Geschrei zu erheben, wie es in Berlin einige vollkommen Unberufene getan. –

Alle Aufmerksamkeit und Tätigkeit der Parteien richtete sich nun auf die Neuwahlen zum Reichstage, die im kommenden Herbst stattfinden sollten. In unseren Fraktionsverhandlungen aber hatten wir eine Sache zu erledigen, von der nachher noch oftmals die Rede war, nämlich den Fall Rittinghausen.

Rittinghausen, der Abgeordnete für Solingen, war ein Eigenbrötler und sein Steckenpferd war die direkte Gesetzgebung durch das Volk. In den Unterhaltungen über die französische Revolution, die wir oft und gern miteinander pflogen, ging er so weit, daß er die Girondisten über die Jakobiner stellte, nur weil die ersteren im Prozeß des Königs vorgeschlagen hatten, daß eine Volksabstimmung über das Schicksal des gestürzten Monarchen entscheiden solle. Aber es gab bald ernstere Differenzen. Schon nach dem Kopenhagener Kongreß hatte er sich einem dort gefaßten Beschluß widersetzt. Nun hatte Bismarck im Sommer 1883 eine außerordentliche, ganz kurze Session des Reichstages angesetzt, um dessen Zustimmung zu einem Handelsvertrag mit Spanien einzuholen. Die sozialdemokratische Fraktion beschloß, gegen den Handelsvertrag zu stimmen, weil es mit diesem auf eine Begünstigung der Agrarier und namentlich der großen Schnapsbrenner, zu denen Bismarck bekanntlich selbst gehörte, abgesehen war. Es wurde eingewendet, der Vertrag biete sonst viele Vorteile, namentlich für einzelne Wahlkreise, was damit zurückgewiesen wurde, daß die Fraktion keine Wahlkreispolitik treiben könne.

Rittinghausen erhob in der Fraktion keinen Widerspruch. Aber im Plenum gab er, nachdem der Fraktionsbeschluß von Vollmar begründet worden, die Erklärung ab, daß er für den Handelsvertrag stimmen würde. Die Stellungnahme der Fraktion zu dieser Angelegenheit wurde bis zur nächsten Session verschoben. Sie wurde in mehreren Sitzungen gründlich behandelt. Rittinghausen beharrte eigensinnig darauf, daß er sich den Beschlüssen der Fraktion nicht zu unterwerfen brauche, und verweigerte auch seine Unterschrift zu dem Aufrufe an die nordamerikanischen[112] Parteigenossen, in dem diese zu Geldsammlungen für die Reichstagswahl aufgefordert wurden. Uns allen war die Eigenbrötelei sehr zuwider und auch ich, der ich Rittinghausen von den Fraktionsmitgliedern vielleicht am nächsten stand, erklärte ihm, wenn er auf solchen Vorrechten bestehen, könne er nicht mehr für die Partei kandidieren. Rittinghausen wurde gestützt durch eine Clique meist freireligiöser Elemente in seinem Wahlkreise, die dem alten Manne vorspiegelten, sie seien stark genug, ihm auch gegen die Parteileitung bei der nächsten Wahl wieder zu einem Mandat zu verhelfen. Darin sollten sie sich sehr täuschen. Aber dies war der Anfang von jenen Streitigkeiten im Solinger Kreise, die bis heute andauern und die auch ich als Vorsitzender der Neunerkommission des Frankfurter Parteitags von 1894 vergeblich zu schlichten versuchte.

In Nr. 20 des »Sozialdemokrat« erschien alsdann folgende einstimmig beschlossene Erklärung:

»Durch verschiedene, zum größten Teil in weiteren Parteikreisen bekannte Vorkommnisse sah sich die sozialdemokratische Fraktion, nachdem[113] die Angelegenheit schon vorher in mehreren Sitzungen gründlich erörtert worden war, in ihrer Sitzung vom 7. ds. Mts. veranlaßt, in Ausführung des Kopenhagener Kongreßbeschlusses an Herrn Rittinghausen7 die Anfrage zu richten:

Ob er im Falle seiner Wiederwahl in den Reichstag sich nicht nur voll und ganz auf den Boden des Parteiprogramms stellen, sondern auch sich der Parteidisziplin, den Kongreß- und Fraktionsbeschlüssen unterwerfen und an allen durch Parteibeschluß herbeigeführten Aktionen sich beteiligen werde?

Herr Rittinghausen lehnte es ab, die geforderte bindende Erklärung abzugeben. Infolgedessen hat derselbe aufgehört, der Parteivertretung anzugehören, und kann derselbe seitens der Partei nicht mehr als Kandidat für ein Reichstags- oder sonst ein Parteimandat aufgestellt werden.

Berlin, 9. Mai 1884.

Bebel, Blos, Dietz, Frohme, Geiser, Grillenberger, Hasenclever, Kayser, Kräcker, Liebknecht, Stolle, Vollmar.«

Mir tat der alte Mann trotz alledem leid und ich stimmte nicht in die geringschätzige Art ein, mit der ihn andere behandelten, denen jedes Augenmaß für die eigene Bedeutung fehlte. –

Während der Debatten über die Verlängerung des Sozialistengesetzes hatte Bismarck ein kleines demagogisches Kunststück geleistet; er hatte ein »Recht auf Arbeit« verkündigt, das im preußischen Landrecht enthalten sei. Darauf brachten einige sozialdemokratische Abgeordnete, unter denen auch ich mich befand, den Antrag ein, Bismarck möge vom Reichstag aufgefordert werden, einen Gesetzentwurf betreffend das Recht der Arbeit vorzulegen. Dies war natürlich ironisch gemeint. Die politische Welt begriff dies auch. Der Antrag kam indessen nicht zur Verhandlung. –

Die Wahlbewegung hatte schon im Frühjahr 1884 begonnen. Unser Zentral-Wahlkomitee ließ zeitig einen energisch gehaltenen Wahlaufruf in anderthalb Millionen Exemplaren unter die Massen gehen, der einen tiefen Eindruck machte. Der Polizei waren vom Reichstag einige Riegel vorgeschoben worden. Dieser hatte beschlossen, daß Wahlversammlungen nicht unter das Sozialistengesetz fielen, wenn sie von einem Sozialdemokraten angemeldet wurden; auch durften auf sozialdemokratische Namen lautende Stimmzettel nicht mehr beschlagnahmt werden. Aber wenn auch der Puttkamerschen Polizeiwirtschaft dadurch Schranken gezogen waren, so lastete sie immer noch schwer genug auf uns.[114]

Mir war in Reuß älterer Linie die Kandidatur wieder übertragen worden. Eine öffentliche Versammlung konnte ich dort nicht abhalten, das verhinderte der dort regierende »renitente Hesse«, den ich, wie erwähnt, im meiner Rede zum Unfallversicherungsgesetz im Reichstage gekränkt hatte.

Mein Gegner war ein großer Textilwarenfabrikant namens Arnold, der die Stimmen seiner Arbeiter dadurch zu gewinnen suchte, daß er, wenn sie die Fabrik in Masse verließen, an ihnen vorüber fuhr und gnädigst den Hut vor ihnen zog. Hätte er gewußt, wie sie sich darüber lustig machten, so hätte er es sicherlich nicht getan. Aber solch Protzentum ist von seiner eigenen Großartigkeit so fest überzeugt, daß es absolut nicht bemerkt, wenn es sich lächerlich macht.

Der Wahltag, der 28. Oktober 1884, brachte der Sozialdemokratie einen glänzenden Erfolg. Neun Sozialdemokraten wurden im ersten Wahlgang gewählt und vierundzwanzig Stichwahlen wurden gezählt.

Auch ich wurde im ersten Wahlgang in Reuß älterer Linie mit 3890 Stimmen gewählt, während 2922 auf den Konservativen Arnold fielen. Die Freisinnigen erhielten nur 47 Stimmen; ihre Leute hatten meist für Arnold gestimmt.

Zugleich war ich auch in Braunschweig-Blankenburg, als Freund des verstorbenen Bracke, als Reichstagskandidat aufgestellt worden, wie 1881. Damals erhielt ich dort 5700 Stimmen. Nunmehr kam es anders. Ich konnte dort eine Versammlung abhalten, die sich sehr wirksam gestaltete. Es standen mir dort der frühere Abgeordnete, der freisinnige Eisenbahndirektor Schrader, und der nationalliberale Amtsrichter Kulemann gegenüber. Die nationalliberale Partei ließ ein Flugblatt gegen mich verbreiten, in dem unter anderem behauptet war, daß im sozialdemokratischen Zukunftsstaat die Bevölkerung gezwungen würde, blaue Brillen zu tragen.

Aber auch das zog nicht.

Die Sozialdemokratie siegte in 15 Stichwahlen, so daß die neue Fraktion nunmehr 24 Mann stark war.

Auch ich war in Braunschweig I in die Stichwahl mit den Nationalliberalen gekommen. Da in der Stichwahl die Freisinnigen für mich stimmten, so blieb ich mit 10994 Stimmen Sieger, während der Nationalliberale 9994 Stimmen erhielt.

Ich war also doppelt gewählt, was bei dieser Wahl übrigens auch mit Hasenclever geschah, der in Berlin und in Breslau zugleich gewählt wurde.

Auf Beschluß der Fraktion legte ich das Mandat für Reuß älterer Linie nieder und nahm das Braunschweiger an, da es in solchem Falle gebräuchlich war, das weniger sichere Mandat anzunehmen. Zu meinem Nachfolger in Reuß älterer Linie wurde Philipp Wiemer mit fast der gleichen Stimmenzahl gewählt.

Auch in Pforzheim hatte man mir die Reichstagskandidatur übertragen, in welchem noch wenig beackerten Kreise ich 1338 Stimmen erhielt. –[115]

In Braunschweig herrschte unter der Arbeiterbevölkerung eine große Freude. Jetzt endlich sah man das Ziel erreicht, an das Wilhelm Bracke so viel Arbeit und Mühe gewendet und für das er seine Gesundheit geopfert.

In einem Bericht aus Braunschweig über die Wahl, der im »Sozialdemokrat« erschien, heiß es:

»Am Sonntag nach der Wahl wurde schon frühzeitig das Grab Brackes bekränzt. Als wir so am Grabe unseres edlen, leider so früh dahingeschiedenen Freundes und Genossen standen, da drängten sich auf die Lippen aller Anwesenden die Worte: »Hätte dies Bracke noch erlebt!« Die tiefere Bedeutung und das Verdienst unseres Sieges gehört ihm. Er hat zuerst hier den rauhen Boden der Unwissenheit und der Vorurteile bearbeitet, dem Sozialismus die Wege geebnet und so wenig seine Gesundheit geschont wie irgend ein materielles Opfer gescheut, bis ihn mitten in seinem Wirken der Tod ereilte. Ehre seinem Andenken!«

Zwischen Hauptwahl und Stichwahl war in Braunschweig der alte Herzog Wilhelm, der letzte braunschweigische Welfe, gestorben. Als auf dem Rathause sein Testament bekannt gemacht wurde, kamen viele Bürger enttäuscht und zornig herunter, denn sie glaubten, der Herzog würde aus seinem ungeheuren Vermögen die Stadt reichlich bedacht haben. Dies war aber nicht der Fall und man sagte, zahlreiche Bürger, die sonst der Sozialdemokratie durchaus feindlich gesinnt waren, hätten nur aus Erbitterung für mich gestimmt. Ich glaub's nicht.

Da der rechtmäßige Thronfolger, der Herzog von Cumberland, seine »Lande« nicht in Besitz nehmen konnte, weil der Bundesrat es ihm verwehrte, so wurde Braunschweig der Form nach »Republik« und blieb es auch ein Jahr lang, während dessen der Herzog von der Masse der Bevölkerung nicht vermißt wurde. Dann wurde Prinz Albrecht von Preußen zum Regenten gewählt.

Diese nichts weniger als demokratische, vielmehr rein bureaukratische Republik kündete sich bei mir gleich recht merkwürdig an. Der Wahlkommissär teilte mir das offizielle Wahlresultat auf einem Kanzleipapier mit einem schwarzen Rande mit. Nun mochte das Hofzeremoniell wegen des Ablebens des alten Herzogs dergleichen vorschreiben; mich ging dies aber nichts an. Zudem sah es fast aus, als habe man die Gelegenheit benutzt, um der Trauer der Höflinge und der Bureaukratie über den Wahlausfall Ausdruck zu geben, denn ein Zwang zu dergleichen existierte schwerlich. Ich schickte darum meine Erklärung, daß ich die Wahl annehme, auf einem Bogen mit rotem Rand ein.

Doch dies war nur ein kleines, neckisches Vorspiel. Gleich darauf unternahm die regierende Bureaukratie der »Republik« Braunschweig in Anknüpfung an meine Wahl eine große Aktion, die weithin in Deutschland und außerhalb Aufsehen erregte.

Der Kreis-Landwehrverein zu Braunschweig sollte seinen Vorstand neu wählen. Zum zweiten Vorsitzenden wurde der Zahnarzt [116] Weibgen vorgeschlagen und zwar vom Vorsitzenden selbst. Alsbald erhob sich »Kamerad« und Herdfabrikant Albrecht und erklärte, Weibgen könne nicht zweiter Vorsitzender sein, weil er Blos gewählt und dies offen eingestanden habe. Die erwartete »sittliche Entrüstung« blieb aber aus und ein anderer »Kamerad«, Tischlermeister Harms, erklärte ganz trocken, es liege gar kein Grund vor, Weibgen nicht zu wählen; er selbst habe auch für Blos gestimmt.

Das war zuviel – so sagt ein Bericht von damals. Der Vorsitzende – übrigens ein Freisinniger (!) – stellte den Antrag auf Ausschluß der zwei »Verbrecher«. Dieser Antrag ward einer Prüfungskommission überwiesen. Und nun widerfuhr dem freisinnigen Vorstand und Sozialistenfresser der Schmerz, daß nicht nur die Prüfungskommission erklärte, sie hielten den Ausschluß der beiden Mitglieder nicht für berechtigt, sondern, daß auch die Generalversammlung des Landwehrvereins mit 167 gegen 120 Stimmen entschied, die beiden Mitglieder könnten im Verein verbleiben.

Da ging ein Heulen und Rasaunen los in der konservativen und liberalen Presse über das Eindringen des »Umsturzgeistes« in die Kriegervereine, daß die Regierung der »Republik« Braunschweig nicht länger ruhig zusehen konnte. Alsbald wurde der Landwehrverein aufgelöst und zwar auf Grund des Braunschweigischen Vereinsgesetzes von 1853, wo es hieß:

»Die Regierung kann einen Verein auflösen, dessen Tätigkeit der kirchlichen, staatlichen oder gesellschaftlichen Ordnung gefährlich wird.«

Auch sollten die Mitglieder des staatsgefährlichen Kriegervereins innerhalb dreier Monate keinen neuen Verein gründen oder einem solchen beitreten dürfen.

Man kann sich denken, welche Flut von Spott und Hohn sich über die braunschweigische Regierung ergoß.

Der Sozialdemokratie wurde mit dieser Maßregel um so weniger Abbruch getan, als sie in den braunschweigischen Kriegervereinen immer eine sehr starke Anhängerschaft hatte und heute noch hat. Die Schnüffeleien gewisser liberaler Streber haben daran nichts ändern können, da kein »Kamerad« den andern verrät. Es kam vor, daß in einzelnen Ortschaften auf dem Lande der bürgerliche Kandidat so wenig Stimmen erhielt, daß diese noch nicht den dritten Teil der Zahl der Mitglieder des Kriegervereins am Orte erreichten. Alles Toben und Wüten der sozialistenfeindlichen Macher half nichts; sie mußten es eben schlucken. –

Die neue sozialdemokratische Fraktion bestand aus Auer (Glauchau), Bebel (Hamburg I), Blos (Braunschweig I), Bock (Gotha), Dietz (Hamburg II), Frohme (Altona), Geiser (Chemnitz), Grillenberger (Nürnberg), Harm (Elberfeld-Barmen), Hasenclever (Breslau-Ost), Heine (Magdeburg), Kayser (Reichenbach in Sachsen), Kräcker (Breslau-West), Liebknecht (Offenbach), Meister (Hannover), Pfannkuch (Berlin VI), Rödiger (Reuß jüngere Linie), [117] Sabor (Frankfurt am Main), Schumacher (Solingen), Singer (Berlin IV), Stolle (Zwickau), Viereck (Leipzig-Land). Vollmar (München II), Wiemer (Reuß ältere Linie).

An Stelle von Rittinghausen, der entgegen dem Fraktionsbeschluß kandidierte, war in Solingen Georg Schumacher mit 8734 Stimmen gewählt worden. Der von einer Clique getäuschte alte Rittinghausen erhielt nur 789 Stimmen.

Es berührt eigentümlich, wenn man heute – wir schreiben 1915 – liest, mit welch glühender Begeisterung diese neue Vertretung der Sozialdemokratie im Deutschen Reichstage von den Sozialdemokraten aller Kulturländer begrüßt wurde. Wird es wieder einmal so kommen?

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Mitten im Wahlkampfe, während dessen Wogen am höchsten gingen, wurde Albert Dulk vom Tode dahingerafft. Er starb, 66 Jahre alt, an einem Schlaganfall, der ihn im Bahnhofe zu Stuttgart traf, am 29. Oktober. Es waren in den letzten Jahren zwischen einigen Stuttgarter Lokalgrößen der Partei und zwischen Dulk Differenzen entstanden, weil Dulk nicht nach der Pfeife der ersteren tanzen wollte. Auch gab es eine Anzahl Parteigenossen, die in Ermangelung selbständiger Auffassung sich von jenen demokratischen Philistern beeinflussen ließen, welche Dulk nicht ernst nehmen wollten oder so taten. Dulk wurde im »Sozialdemokrat« angegriffen und die Kandidatur für Stuttgart wurde nicht mehr ihm, sondern einem gewissen Löbenberg übertragen, der sich bald zum Renegaten entwickelte.

Das stolze Leichenbegängnis, welches die Stuttgarter Arbeiter dem toten Dulk veranstalteten, bewies, daß sie die Bedeutung seiner Persönlichkeit zu werten wußten. In stattlichem Zuge geleiteten sie ihn zur Bahn, von wo er zur Feuerbestattung nach Gotha überführt wurde. Durch Befehl des Gouvernements war das Militär während der Dauer des Leichenzuges in den Kasernen konsigniert und es hieß, die Kavallerie und ein Bataillon Infanterie hätten Instruktionen für den Fall von Ruhestörungen erhalten. Diese Maßregel war völlig deplaziert.

Einem Stuttgarter Lokalblatt ist die nachfolgende Schilderung des imposanten Zuges entnommen:

»Am gestrigen Sonntag schon von 1 Uhr an sah man Tausende dem Feuersee zu sich bewegen, um sich dem Zuge zu der Überführung der Leiche von Dr. Albert Dulk von der äußeren Rothebühlstraße zum Güterbahnhof anzuschließen. Tausende von Neugierigen, Männer und Frauen, standen auf den Trottoirs der Straßen, welche der Leichenzug passieren mußte. An der Kreuzung der Röthestraße mit der Rothebühlstraße hatte der Leichenwagen Aufstellung genommen. Von dort ordneten sich unter außerordentlich starker Kontrolle von Schutzleuten und Landjägern die Teilnehmer am Kondukt; als Anhänger der Sozialdemokratie machten sich viele durch die rote Geranienblüte im Knopfloch oder das aus der Brusttasche[118] hervorstehende Ende eines roten Taschentuchs bemerkbar. Um zwei Uhr eröffnete ein Männerchor die Trauerfeierlichkeit mit dem Vortrag von »Stumm schläft der Sänger«, und als die Töne verklungen, setzte sich der Zug in Bewegung.

. An der Spitze des Zuges gingen zur Freihaltung des Weges eine größere Anzahl Schutzleute, ebenso zu beiden Seiten Landjäger; inmitten dieses Kordons drei Deputierte der Freidenkergemeinde mit Kränzen. Der eichene Sarg war ohne Bahrtuch und mit roten, schwarzrotgoldenen und weißen Schleifen ganz bedeckt. Zu beiden Seiten des Leichenwagens gingen Mitglieder der Freidenkergemeinde. Hinter dem Wagen folgten die Kinder des Jugendunterrichts der Freidenker, deren Frauenverein und die Familienangehörigen des Verstorbenen, darunter Schriftsteller Dr. Hartung, während die übrigen Mitglieder der Freidenkergemeinde sich anschlossen. Bis hieher hatte das Trauergefolge noch das Gepräge eines gewöhnlichen Leichenzuges, abgesehen von der polizeilichen Überwachung; nun aber kamen Tausende und aber Tausende von Arbeitern, welche die ganze Breite der gewöhnlichen Straßenfahrbahn einnehmend sich dem Kondukt anschlossen, und es wird wohl die Schätzung nicht zu hoch gegriffen sein, wenn wir ihre Zahl auf 3–6000 angeben. Im Zuge bemerkten wir auch die drei hier lebenden sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten Blos, Dietz und Geiser, ferner Mitglieder der bürgerlichen Demokratie, darunter der Reichstagsabgeordnete Karl Mayer. Am Güterbahnhof war der Zugang zu der Rampe, an welcher der Güterwagen zur Aufnahme der Leiche stand, polizeilich freigehalten, und außer dem Herrn Stadtdirektor waren zwei Gendarmerieoffiziere und der Verstand des Stadtpolizeiamts anwesend. Die Familie des Verstorbenen hatte sich auf der Rampe aufgestellt.« –

Aus diesem Bericht ist zu ersehen, wie unter dem Sozialistengesetz ein solches sozialdemokratisches Leichenbegängnis mit einer polizeilichen Wolke überschattet war.

Des weiteren wurden Ansprachen gehalten und Kränze niedergelegt. »Dann ging die Menge«, heißt es weiter, »auseinander und ohne Störung war die Leichenfeierlichkeit, an welcher mit den Zuschauern etwa 25000 Menschen angewohnt haben mögen, beendigt.«

Ungefähr ein Jahr später wurde an dem sogenannten Dulkhäuschen am Eßlinger Bergwald, wo Dulk so oft als Einsiedler geweilt, in Gegenwart einer zahlreichen Versammlung von Sozialdemokraten und Freidenkern die eherne Büste Dulks angebracht, welche der berühmte Donndorf angefertigt hat.[119]

Fußnoten

1 In dieser Versammlung trat mir der streitbare antisemitische Pastor Dietz entgegen, der aber schlecht abschnitt. Er schrieb darüber grimmig in seiner »Neuen Westfälischen Volkszeitung«:

»Daß Herr Blos bei seinen Parteigenossen Beifall und Redakteur Dietz heftigen Widerspruch fand, versteht sich von selber, hat aber nicht viel zu bedeuten. Sehr bedauerlich ist es aber, daß ein gellendes Hohngelächter ausbrach, als Redakteur Dietz sagte, daß unser Heiland Jesus Christus der beste und zuverlässigste Arbeiterfreund sei.«

Die Sache verhielt sich aber anders. Pastor Dietz hatte nämlich, wie ich mich genau erinnere, gesagt, die besten Freunde der Arbeiter seien Jesus Christus und Fürst Bismarck, und die Arbeiter haben nicht über Jesus von Nazareth, sondern über diese deplazierte Verherrlichung Bismarcks, von dem sie doch mit dem Sozialistengesetz verfolgt wurden, ein Hohngelächter ausgestoßen. Darum sah sich der Pastor Dietz auf seine Verdrehungskunst angewiesen.


2 Nach einem Kleiderladen in der Leipziger Straße 110, dessen Inhaber sich durch aufdringliche Reklame bekannt gemacht hatte.


3 Moritz Hartmann in der Reimchronik des Pfaffen Mauritius.


4 Dem Zentrum warf ich in der nächsten Session in meiner Rede über den Kanzelparagraphen diesen Umfall vor, worauf Windthorst und Schorlemer-Alst – letzterer sehr aufgeregt – sich recht schwach verteidigten. Die Haltung des Zentrums war auch sehr schwer zu rechtfertigen.


5 Bernhard Becker hat seinerzeit den Plan im »Nordstern« veröffentlicht.


6 Diese Sache, bei der übrigens Bernhard Becker eine recht unschöne Rolle spielte, habe ich im ersten Band dieser »Denkwürdigkeiten«, Seite 141, schon erwähnt.


7 Die Bezeichnung »Herr« enthält hier keine Spitze. Die Parteigenossen redeten sich früher, wenn sie nicht enger befreundet waren und sich duzten, durchweg mit »Herr« an; auch die Vorsitzenden der Kongresse gebrauchten beim Aufruf der Redner dies Wort. Manchmal wurde auch die Anrede »Bürger« gebraucht; die Anrede »Genosse« kam erst später auf. Aber trotz der »bürgerlichen« Anrede waren früher die Brüderlichkeit und Solidarität unter den Parteigenossen nicht geringer, wie heute, sondern eher großer, was schon aus der enger begrenzten Parteigemeinschaft sich ergab.


Quelle:
Blos, Wilhelm: Denkwürdigkeiten eines Sozialdemokraten. 2 Bde, 2. Band. München 1919, S. 121.
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