XXIV.

Erste Flüchtlingsjahre in der Schweiz.

2.

[135] Man arbeitete, aber man ging auch gern dem Vergnügen nach. Nicht daß aller Welt das Leben wonniglich blühte. Einen wirklich reichen Mann gab es nicht in der Stadt, sondern nur mäßige Wohlhabenheit in einer Anzahl Familien. Die »herrschenden Geschlechter«, wenn dieser Ausdruck damals noch gerechtfertigt war, brauchten mit wenigen Ausnahmen die mancherlei bescheidenen Besoldungen aus ihren vielfachen Ämtern und Ämtlein zur Erhöhung ihres Einkommens und zur Wahrung einer gewissen Präponderanz in ihrer Stellung nach außen hin. Weit und breit keine Industrie, kein beträchtlicher Handel; bei den Krämern und Handwerkern der Stadt versorgte sich die Bauersame rings umher, und so erhielten sich auch lebhafte Beziehungen zwischen Stadt und Land und ein reger Verkehr durch den gegenseitigen Austausch der Waren.

Ein Vergnügen ganz eigner Art waren unsere kriegerischen Übungen als Glieder der Garde civique. Nichts verpflichtete mich, als einen Fremden, das soldatische Gewand anzulegen und einen Stutzen über die Schulter zu nehmen, um, ganz gegen meine revolutionäre Vergangenheit, die »heilige Obrigkeit, die Familie und das Eigentum« vor gewaltsamen Umsturz zu beschützen. Aber die ganze männliche Bevölkerung der Stadt gehörte der Garde civique an, man betrachtete es als eine Ehrenpflicht der liberalen Bürgerschaft, die aus dem Sonderbundskrieg hervorgegangene neue Ordnung zu unterstützen und vor der[135] Wiederkehr der Jesuitenherrschaft zu behüten. Alle meine Freunde machten mit. So erklärte ich mich auf geschehene Anfrage ebenfalls bereit, und Herr Sturmfels, der Feldwebel sandte mir den Uniformrock, den Stutzen mußte ich mir selbst anschaffen. Es war der erste der neuen Ordnung für Spitzkugeln, mit Handhabe am eisernen Ladstock. Ich war sehr stolz auf meine Waffe. Sie gehört mit samt ihrem damals neuesten Mechanismus schon längst zum alten Eisen. Die Toten und die modernen Schießgewehre reiten schnell.

Unser streitbares Korps bestand aus einer starken Schützenkompanie und etwas Artillerie. Unter den Offizieren der letzteren sehe ich noch unsern kernfesten Dr. Huber, einen vortrefflichen, allgemein beliebten und geachteten Arzt. Unteroffizier war Herr Weger, für mich eine der interessantesten Persönlichkeiten, denen ich in der Schweiz begegnet bin. Er war aus Bayern auf der Wanderschaft nach Murten gekommen, hatte dort als Buchbindergeselle gearbeitet, nach dem Tode seines Meisters die Witwe desselben geheiratet und wurde nach und nach, weil man in ihm den tüchtigen Menschen erkannt hatte, kraft seiner natürlichen Bescheidenheit, seines liebenswürdigen Charakters und seiner sich niemand aufdrängenden starken Intelligenz eines der geschätztesten Triebräder im öffentlichen Gemeinwesen. Lange Jahre mit richterlichen Funktionen betraut, hatte er als Autodidakt und auf dem Wege der Praxis zum Juristen sich ausgebildet; er wurde endlich Gerichtspräsident, und genoß in seinem schwierigen Amte und bei einer gemischten zweisprachigen Bevölkerung das allgemeine Vertrauen, wie es größer nicht einem Wahrer des Rechts zu Teil wird, der in seiner Jugend bei den ersten Pandektisten seine Studien gemacht hat.

Unter den Schützen, zu denen ich gehörte, sehe ich, seine Kameraden fast um Haupteslänge überragend, den stets zu allem guten Tun herrlich aufgelegten Rektor der Stadtschule, meinen alten Freund, den Dr. Brunnemann. Er war gleichzeitig mit mir als Flüchtling in die Schweiz gekommen und in Freiburg unter vielen Bewerbern zum Leiter der Jugenderziehung in Murten gewählt worden. Ein gut geschulter preußischer Gymnasiallehrer, hatte er seinem Examinator in Freiburg, einem alten Kanonikus, der sein Latein längst vergessen hatte, durch sein Verständnis des Horaz sehr imponiert. Wir legten weniger Wert auf sein Latein, als auf seinen liebenswürdigen Charakter, seine[136] heitere Laune, seine anregende Gesellschaft, seine Gradheit und Herzlichkeit. Brunnemann war ein geborener Berliner, Sohn eines Geistlichen; er war in Stettin noch nicht lange im Amte, als ihn der Strom der Revolution in seine Wogen zog. Wir nahmen das Mittagsmahl an gemeinsamem Tisch. Da er einige Jahre älter war als ich und es wirklich gut mit mir meinte, folgte ich gerne seinem Rat, namentlich in ästhetischen Dingen, denn – ich bitte, nicht allzu sehr zu erschrecken! – ich hatte von Bern den ersten Akt eines Trauerspiels »Marcel«, mitgebracht, und ich war damit beschäftigt, es seiner Vollendung entgegenzuführen.

Der Stoff zu meinem historischen Trauerspiel war glücklich gewählt, und diese Wahl erklärt sich leicht aus den politischen Ereignissen, die ich eben selbst erlebt hatte. Während der blutigen Wirren, welche Frankreich in der Mitte des vierzehnten Jahrhunderts infolge der bei Poitiers von den Engländern erlittenen Niederlage und der Gefangennahme des Königs Johann heimsuchten, hatte das Haupt der Pariser Bürgerschaft, Etienne Marcel, eine Rolle gespielt, die an das Auftreten eines Cromwell dreihundert Jahre später erinnert, und in Frankreich vierhundert Jahre später von den Häuptern der großen französischen Revolution erneuert wurde. Die Jacquerie, welche in dieselbe Zeit hineinfiel, gab dem inhaltreichen Stoff einen sehr bewegten Hintergrund. Dramatische Anregungen hatte ich schon als Knabe genug erhalten durch Herrn von Sommerfeld, den Herausgeber der Berliner Theaterzeitung, der, wie schon erzählt, den sechzehnjährigen Burschen nicht selten an seiner Statt ins Schauspielhaus geschickt hatte, um die Mühe des Schreibens einer Rezension von sich auf ihn abzuwälzen. Das Jahr 1848 und das Frühjahr des Jahres 1849 und was ich dabei erfahren, belebten die frühe Absicht, mich auf dramatischem Gebiet zu versuchen, und so entstand mein Marcel. Die Diktion ist noch ungelenk genug, durch das ganze Stück jedoch pulsiert ein frisches, jugendliches Blut, es ist vom Feuer des jungen Knappen durchglüht, der in der ersten Schlacht sich die Sporen verdienen will, und so kam es, daß »Marcel« bei seiner ersten Aufführung in Bern, und zwei Jahre später in Zürich eine beifällige Aufnahme fand, die den jungen Dramatiker zu weiteren Bühnenstücken ermutigten, über die er jetzt sehr kühl und nüchtern denkt.

Die erste Aufführung des »Marcel« beraubte mich der Teilnahme an einer für den Kanton Freiburg interessanten, ebenfalls historisch-dramatischen[137] Handlung. Während ich nämlich dem Schicksal meines Helden auf den Brettern des Berner Theaters beiwohnte, hatte Carrard, ein Parteigänger des gestürzten Jesuitenregiments, einen Putsch in Freiburg versucht, war jedoch mit seinen Bauern an der Überwältigung der liberalen Regierung gehindert und in die Flucht geschlagen worden. Es war freilich schon alles vorbei, als das Korps der Garde civique de Morat stolz in der Hauptstadt einrückte. Carrard aber war nicht ganz entmutigt, er wiederholte mehrere Monate später den Versuch eines Handstreichs und verlor dabei das Leben. Wer weiß, ob nicht ein Jesuitenzögling kommender Jahrhunderte den Tod dieses Helden dramatisch verherrlicht, wie ich den Tod »Marcels«, des Pariser Rebellen? Die Murtener Garde civique kam auch diesesmal erst nach dem Ereignis nach Freiburg. Wir hatten keine Gelegenheit, von unserer Tapferkeit Zeugnis abzulegen. Als wir nach drei Tagen uns wieder auf den Heimweg begaben, ließ uns unser Hauptmann auf eine Wiese, rechts von der Straße, abschwenken, und dort in die geduldige Mutter Erde unsere Gewehre entladen.

Es war uns die Ehre zu Teil geworden, die Kantonshauptstadt vor etwaigen erneuten revolutionären Angriffen zu schirmen und diese Ehre teilten wir mit den Bürgerwehren verschiedener anderer Ortschaften, die auf höheren Befehl herangezogen wurden. So hatte ich die Freude, an der Spitze des Kontingents von Chatel St. Denis meinen Freund, Dr. d'Ester, als Chef de la fanfare zu erblicken. Dem ehemaligen Mitglied der äußersten Linken in der preußischen Nationalversammlung hatte es ein besonderes Vergnügen gemacht, in seinen Mußestunden einige junge Dörfler zu einem Trompeterkorps auszubilden, und es war ihm nach redlicher Anstrengung gelungen, ihnen die Marschmelodie des damals so beliebten, entsetzlichen Liedes »Zin, zin, rataplan! Vivent les rouges, à bas les blancs!« beizubringen, sodaß sie es ziemlich erträglich in den Straßen der erstaunten Stadt ertönen ließen. Wir hatten bei unserem nicht allzu strengen Dienst viele heitere Stunden. Ich erinnere mich einer Nacht, wo wir, etwas mehr als ein Dutzend, in einem feuchten Wachtlokal eingepfercht waren, das, von einem schmierigen Öllämpchen karg beleuchtet, von den unedelsten Gerüchen erfüllt war, welche in einem seit Monaten ungelüfteten Raum eine von dickem Tabaksqualm und den Hochgenüssen aus der nächsten Fuhrmannskneipe[138] verpestete Atmosphäre nur zu erzeugen vermochte. Da plötzlich bemerkte man, daß wir einen Wehrmann weniger zählten. Der Syndic, d.h. Gemeindeamtmann eines welschen Dorfes aus der Nachbarschaft von Murten, war verschwunden. Der Mann stand schon in reifen Jahren, er war nicht, wie viele von uns, Krieger aus Neigung, sondern aus Pflicht und Schuldigkeit, wie das Gesetz der neuen Regierung es den Beamten vorschrieb. Es war ihm sicherlich an der Erhaltung der radikalen Regierung blutwenig gelegen; der Not gehorchend, nicht dem eignen Triebe, marschierte er in unseren Reihen und bei der damaligen engen Marschordnung passierte es ihm sehr häufig, daß er seinem Vordermann auf die Ferse trat, was seine Beliebtheit im Korps nicht eben verstärkte.

»Wo ist der Syndic von Courlemont hingekommen?« fragte man mit Besorgnis. Man suchte ihn an allen Orten, wo ein Mann unter den gegebenen Verhältnissen in tiefer Nacht zu suchen war. Verschwunden blieb er, Mann und Gewehr. »Er ist desertiert«, erscholl es wie aus einem Munde. Und die fröhlichen Lieder, die uns bis dahin über den trägen Lauf der Stunden hinweggeholfen, verstummten. »Vor dem Feinde desertiert! Das muß furchtbar geahndet werden.« Es wurde sofort ein Kriegsgericht ernannt und eröffnet. Der Ankläger erhob sich. Mit eindringlichen Worten stellte er die tiefe Verworfenheit des Beamten, des Bürgers, des Wehrmannes dar, der heimlich den ihm anvertrauten heiligen Posten verlassen hatte, auf welchem seine Kameraden mit den schwersten Opfern, mit Einsetzung ihres Lebens ausharrten. Er erinnerte an die vielerlei Zeichen bösen Willens, an das öfters verspätete Erscheinen des Angeklagten auf dem Sammelplatz, an die Unsauberkeit seiner Uniform und Waffe, an die üble Laune, die er zu allen Zeiten gezeigt und namentlich an den schmerzlichen Anstoß, den er so häufig bei seinen Vordermännern erregt hatte. Der Verteidiger erhob sich. In kunstvoll gesetzter Rede versuchte er es, die Richter zur Milde zu stimmen. Er schilderte den fleißigen Landmann, den sorglichen Hausvater, den redlichen Bürger, der seine Steuern stets pünktlich bezahlt, nie gegen einen Bettler ein verderbliches Mitleiden gezeigt, mit aller Welt in Eintracht gelebt hatte, mit dem Herrn Oberamtmann wie mit dem Pfarrer und dem Mönch; er führte in rührenden Bildern die Frau, die Söhne und namentlich die Töchter des Angeklagten vor, die Zierden und der Stolz ihres Dorfes, das niemals, seitdem die ersten[139] Hütten dort gebaut worden einen Verräter in ihrer Mitte gekannt. So sprach der wortreiche und gemütvolle Verteidiger. Aber das Gericht ließ sich nicht irre machen. Es folgte seiner männlichen, soldatischen Überzeugung und Pflicht; es verurteilte den Syndic von Courlemont zum Tode.


Am anderen Morgen erschien der Verurteilte beim Hauptmann. Er sei in dem furchtbaren Raume des Wachtlokals, erklärte er, von einer plötzlichen Übelkeit befallen worden und habe sich zu einem Arzt gerettet, der ihm dann auch ein Zeugnis über seine Krankheit mitgegeben hatte. Der Syndic von Courlemont wurde nicht hingerichtet.


An einem schönen Mittag befand ich mich auf Wache vor dem im Sonderbundskrieg schwer mitgenommenen Jesuitenkollegium. Von meinem hohen Standort aus, an der Zufahrtsstraße, konnte ich rechts hinabsehen gegen das Murtner Tor, links hinab gegen das Romonter Tor. Es war mir befohlen, jede Person, die dem Posten sich nahte, anzurufen. Die Disziplin ist die Mutter des Sieges, ich war selbstverständlich von dem festen Willen erfüllt, den mir gewordenen Befehl pünktlich auszuführen. Da nahte sich tief unten vom Murtner Tor her ein Schatten. Er nahm bestimmtere, er nahm menschliche Formen an. Mein Auge richtete sich immer schärfer auf die verdächtige Gestalt. Es war eine alte Frau, die mühsam ein Bündel Reisig auf dem Rücken, die Höhe hinaufklomm. »Qui vive?« schrie ich sie an, daß es meilenweit zu hören war. »Bah, bah«, schüttelte sie gleichmütig den Kopf. In demselben Augenblick vernahm ich am andern Abhang nach der Seite des Romonter Tors zu das helle Kommando: »Cannoniers, à vos pièces!« Das war die Antwort auf mein »Qui vive?« – Jetzt war die Alte oben. »Passez au large!« rief ich ihr zu. Die Kanoniere standen kampfbereit an ihren Geschützen. Als sie die Alte nun auf sich zukommen sahen, brachen sie in ein Höllengelächter aus, daß man in der guten Stadt Freiburg meinte, die Murtner seien vom Teufel besessen. So wurde uns der Dienst der Freiheit und des Vaterlandes eine Quelle der unschuldigsten Freuden.


Ich sage »des Vaterlandes«. Die Schweiz hatte ich schon liebgewonnen, als ich im Sommer des Jahres 1847 zum erstenmal ihren Boden betrat. Jetzt, drei inhaltsreiche Jahre später, wollte ich mir das Schweizer Bürgerrecht erwerben. Es wurde mir von der Gemeinde Montelier, einem Dorfe dicht bei Murten, zugesagt;[140] die Freiburger Regierung hatte ihre Zustimmung gegeben, der Bundesrat aber versagte die seine.

Als nun meinem Naturalisationsgesuch durch bundesrätlichen Einspruch so unerwartete Schwierigkeiten entgegentraten, suchte ich den großen Berner Politiker Herrn Jakob Stämpfli auf, den ich kurz vorher auf einer Hochzeit im Kanton Bern kennen gelernt hatte, und der mir da mit großer Freundlichkeit entgegengekommen war. Ich besuchte ihn im Gefängnis, wo er eine Strafe für ein Preßvergehen abzusitzen hatte, die er sich mit einer Behauptung über das Verschwinden des Berner Schatzes während der französischen Revolutionszeit zugezogen hatte. Als Gefängnis war ihm ein anständiges Zimmer im Burgerspital, nahe beim jetzigen Bahnhof, angewiesen. Ich traf seine hübsche Frau bei ihm, sie war mit einer Handarbeit beschäftigt und verkürzte ihm plaudernd die Zeit. Herr und Frau Stämpfli nahmen mich sehr freundlich auf. Er schrieb mir einen Empfehlungsbrief an seinen Freund, den Bundesrat Furrer und riet mir, auch einen Besuch bei Herrn Druey zu wagen. Ich ging zu Herrn Bundesrat Furrer. Ich überreichte ihm den Brief des Herrn Stämpfli und trug ihm mein Gesuch vor. Er machte mir auch nicht die geringste Hoffnung auf die Erfüllung meines Wunsches, seine Antwort war ein unzweideutiges, rundes Nein. Der Bundesrat hatte den Beschluß gefaßt, denjenigen Flüchtlingen, welche in ihrer Heimat eine Führerrolle gespielt, eine Einbürgerung in der Schweiz nicht zu gestatten. Mitglieder provisorischer Regierungen waren sogar ausgewiesen worden. Der Mann, der mir ohne alle Umschweife »Nein« sagte, gefiel mir; er hätte ja sein Nein in ein paar versüßende Phrasen wickeln können, die mich vielleicht verleitet hätten, doch noch, was meine Person betraf, an eine Änderung des gefaßten Beschlusses zu glauben. Er tat es nicht, obgleich seine Frau, die zugegen war, mir einen teilnehmenden Blick zuwarf. Und er hatte recht.

Ganz anders benahm sich Herr Druey. Im Gegensatz zu einem ersten, von mir nicht gesuchten Zusammentreffen, nahm er mich mit ausgesuchter Freundlichkeit auf – ich hatte ihn während der Aufführung des »Marcel« im Theater gesehen, ich war also für ihn ein Stück Poet, also doch immer etwas, wenn auch wenig genug – er drückte mich auf das Sofa, schüttelte mir die Hand, sprach mit mir über die Quellen, aus denen ich mein Drama geschöpft, über die Chronik des Froissart, die er vor Jahren mit Interesse gelesen,[141] und schließlich sagte er mir: was mein Naturalisationsgesuch betreffe, so solle ich mir für den Augenblick die Sache aus dem Kopfe schlagen, der Bundesrat könne einen noch so neuen Beschluß nicht jetzt schon zurücknehmen. Die Zeit werde Rat bringen, in einem Jahre, vielleicht schon früher, werde die Geschichte eingeschlafen sein. Dann werde sich alles machen lassen. Er begleitete mich beim Abschied bis an die Tür. Ich war ganz entzückt von dem würdigen und dabei so humanen Manne.

Wir werden bald sehen, wie weit auf dieses Mannes Herzlichkeit zu rechnen war.

Ich habe mich oben lange bei der Garde civique aufgehalten, sie spielte indessen nur die angenehme Rolle der Abwechslung in dem idyllischen Alltagsdasein der kleinen Stadt. Welch gute Menschen! muß ich noch heute mir sagen, wenn ich an alle die Personen denke, denen ich während meines zweijährigen Aufenthaltes in Murten näher getreten bin. Es waren nicht die banalen Leute, denen man überall und allerwegen begegnet. Wie die Mauern und Türme dem Orte selbst einen individuellen Stempel aufdrücken, so haben seine historischen Zeugen und Denkmäler auch auf die Natur und die Physiognomie des einzelnen Bewohners gewirkt. Es leben so manche liebe und dabei originelle Gestalten aus jener Zeit in meiner Erinnerung fort. Ich darf sie nicht ins Leben rufen, weil an ihre Namen leider sich tragische Ereignisse knüpfen. Wenn man einen noch so kleinen Ort während eines so langen Zeitraums wie nahezu fünfzig Jahre zu überblicken vermag – wie viel schwere Schicksalsschläge haben da sich indessen vollzogen! Auch auf dem engsten Raume findet die Welttragödie ihre Helden und Opfer.

Herr Druey, der Chef des eidgenössischen Justiz-und Polizeidepartements, hatte sein liebendes Auge nicht von mir abgewendet. Eines Morgens überraschte mich der mir wohlgesinnte Oberamtmann des Seekreises, Herr Chatoney, in Begleitung des Oberamtsschreibers, um auf Grund eines ihm von Freiburg zugegangenen Befehls Haussuchung in meiner Druckerei und Wohnung zu halten. Ich stand bei der obersten eidgenössischen Behörde in Verdacht, revolutionäre Schriften zu drucken. Dieser Verdacht war vollkommen unbegründet und die Haussuchung brachte in der Tat nichts gegen mich zum Vorschein. Doch hätte es mir leicht schlimm ergehen können. In meinem Schreibtisch lagen verschiedene Briefschaften; der Herr Oberamtmann[142] öffnete einige, diskret nur nach der Unterschrift blickend, und war beruhigt. Mir klopfte das Herz dabei. Hätte er weiter gesucht, so wäre ihm ein Brief in die Hände geraten, in welchem ein Mann, der seither von der Weltbühne verschwunden ist, bei mir anfragte, ob ich geneigt sei, etwas Politisches für Deutschland zu drucken. Ich hatte abgelehnt. Wie aber hätte ich dies beweisen können, und hätte man überhaupt meinen Beweis abgewartet? Kaum war der Herr Oberamtmann mit seinem Schreiber aus meinem Zimmer, als ich rasch jenen unglückseligen Brief hervorholte, ihn anzündete und in den Ofen warf. In diesem Augenblick kam der Schreiber wieder herein. Ich war sehr erschrocken. Er hätte merken können, was vorgefallen war, er hätte das verbrannte Papier riechen können. Der Mann hatte keine Nase. Er hatte seinen Regenschirm vergessen, deshalb war er zurückgekehrt.

Einige Tage darauf erfuhr ich aus dem Munde des Herrn Oberamtmanns, daß er, um kein Aufsehen zu erregen, die Morgenstunde des Sonntags gewählt, wo alle Welt sich in der Kirche, keine Seele sich auf der Straße befand, daß er übrigens sich geweigert hatte, den Befehl auszuführen, weil nach freiburgischem Gesetz eine Haussuchung nur auf richterlichen Befehl gestattet sei, daß der Freiburger Staatsrat Herrn Druey gegenüber denselben Einwand erhoben, jedoch mit der Antwort abgefertigt worden sei, er habe einfach dem Befehle zu gehorchen. Das tat er schließlich, und ich mache ihm daraus keinen Vorwurf. Die Schweiz kann nicht wegen eines kleinen Buchdruckers in Murten den äußersten Widerstand gegen ausländische Zumutungen fortsetzen, wie sie es zu Gunsten des Prinzen Napoleon Bonaparte getan. Und dieser entschloß sich zu gehen, als er merkte, daß es um seinetwillen Ernst werden könnte.

Auf meine eigenen Entschlüsse sollte übrigens derselbe Prinz Napoleon sehr bald einen entscheidenden Einfluß ausüben. Sein Staatsstreich vom 2. Dezember 1851 brachte in mir die schon seit einiger Zeit gehegte Absicht zur Reife, Murten zu verlassen und einen anderen Lebensweg einzuschlagen. Ich hatte oben gesagt, daß ich »Die Geheimnisse des Volkes« von Eugen Sue in deutscher Übersetzung druckte. Infolge des Staatsstreiches sah der französische Dichter sich veranlaßt, die Fortsetzung seines Werkes einzustellen. Für meine Presse fiel nun die Hauptbeschäftigung dahin, anderes fand sich nicht sogleich. Ich konnte meine Buchdruckerei[143] in den ersten Monaten des Jahres 1852 verkaufen und siedelte nach Zürich über, wo ich an der Universität mich inskribieren ließ.

Aber auch hier hatte ich vor Herrn Druey noch nicht vollständig Ruhe. Ob der Käufer meiner Druckerei, ein urchiger Berner, dem man polizeilich nichts anhaben konnte, etwas für denselben, oben nicht genannten Mann, druckte, weiß ich nicht, doch ich bezweifle es sehr. Nachdem ich seit einigen Monaten unbehelligt in Zürich gelebt, wurde ich eines Morgens auf die Polizei geladen. Herr Billeter, der Polizeisekretär, hatte einen Brief in der Hand, auf Grund dessen er mich befragte, ob ich Beziehungen zu dem Käufer meiner Druckerei in Murten habe. Meine Antwort lautete verneinend. Ob ich nicht wüßte, was derselbe jetzt druckte. Ich mußte wiederum meine Unwissenheit über diesen Gegenstand eingestehen. Ich habe ihm kürzlich einen Brief geschrieben, fügte ich hinzu, er solle mir doch recht bald den Rest meines Guthabens einsenden. – Nichts sonst? fragte Herr Billeter. – Sonst nichts! war meine treuherzige und wahrheitsgemäße Antwort. Der Herr Polizeisekretär schenkte zweifellos meiner Aussage volles Vertrauen. Ich stand sehr nahe bei ihm und er hielt den aus Bern eingetroffenen Brief so – war es vielleicht absichtlich? – daß ich ihn lesen konnte. Der von Herrn Druey unterzeichnete Brief hatte folgenden Schlußsatz, der sich fest in mein Gedächtnis eingeprägt hat: »S'il y a moyen d'éloigner Monsieur Born de la Suisse, ce serait le mieux.«

Herr Druey hatte ohne Zweifel geglaubt, mit der Art und Weise, wie er die politische Polizei handhabte, seinem Vaterlande nützlich zu sein. Ich will darüber mit dem Manne, der längst im Grabe ruht, nicht rechten. Die Züricher Regierung war nicht seiner Ansicht, sie ließ mich vollkommen unbehelligt; ich muß sogar sagen, daß sie mir während der nächsten Jahre meinen Weg erleichterte. Dasselbe muß ich überhaupt von den vielen schweizerischen Männern sagen, mit denen ich das Glück hatte, in den fünf verflossenen Dezennien in engere oder entferntere Berührung zu kommen. Man hat mich, wenn ich den einzigen Fall Druey ausnehme, stets mit Rücksicht und Wohlwollen behandelt. Und wenn ich meine Erinnerungen an dieser Stelle abbreche, so geschieht es mit dem Dankgefühl eines Mannes, der unverdienter Weise viel Gutes in dem Lande erfahren hat, das er als Verfolgter betreten hat.

Quelle:
Born, Stephan: Erinnerungen eines Achtundvierzigers. Berlin, Bonn 1978, S. 135-144.
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