Fünfte Wahrnehmung.

[292] Die Menschen urtheilen nach ihren Vorstellungen, und handeln da, wo nichts sie hindert, nach ihren Urtheilen. Ihre Vorstellungen aber, mithin auch ihre Urtheile, Neigungen, Gewohnheiten und Handlungsweisen, hängen ursprünglich und größtentheils nicht von ihrer eigenen Wahl, sondern von den Lagen und Umständen ab, worin sie sich von ihrer Geburt an bis auf den gegenwärtigen Augenblick befanden. Ein wichtiger Satz, den wir, wenn wir in der Beurtheilung unserer Nebenmenschen gerecht und billig sein wollen, nie aus den Augen verlieren müssen.

Daß ich diesen und keinen andern Gedankenvorrath in meiner Seele habe, woher kommts? Unstreitig daher, daß ich in dem Laufe meines Lebens gerade diese und keine andere Vorstellungen einzusammeln Gelegenheit und Veranlassung hatte; daß die Umstände, in denen ich mich von Jugend auf befand, meiner Empfindungs- und Erkenntnißkraft keine andere Gegenstände vorführten. Wäre ich auf [292] Otahite oder in Grönland geboren und erzogen; gewiß würde dann auch die Masse meiner Vorstellungen ganz anders ausgefallen sein. Daß ich die Dinge, die ich erkenne, gerade so und nicht anders wahrnehme, gerade so und nicht anders darüber urtheile, als ich wirklich thue, woher kommts? Unstreitig daher, weil diese Dinge sich mir in meiner Lage, unter meinen Umständen und bei der besondern Beschaffenheit meiner äußern und innern Empfindungs- und Erkenntnißwerkzeuge gerade von diesen und keinen andern Seiten, gerade in dieser und keiner andern Gestalt darstellten. Wäre ich taub und blind geboren, oder wäre ich mit andern, als menschlichen, Sinneswerkzeugen ausgestattet worden: sicher würde ich die Dinge umher mir ganz anders vorstellen und ganz anders darüber urtheilen, als jetzt. Also hängt nicht nur die bestimmte Summe unserer Vorstellungen, sondern auch der Grad ihrer Klarheit, Deutlichkeit, Vollständigkeit und Lebhaftigkeit, also auch ihre größere oder geringere Richtigkeit und Wirksamkeit, wo nicht ganz, doch größtentheils, von den besondern Lagen ab, worin wir uns von unserer Entstehung an bis auf den gegenwärtigen Augenblick befanden. Hieraus fließen drei für die richtige Menschenbeurtheilung und für unser Verhalten gegen die Menschen gleich wichtige Folgen ab.
[293]

Die erste: Wenn, wie wir jetzt erkannt haben, der Vorrath und die Beschaffenheit unserer Vorstellungen, größtenteils durch die Lagen und Umstände bestimmt werden, worin wir uns von unserer Kindheit an befanden; und wenn, wie jedem nachdenkenden Menschen sogleich von selbst einleuchtend sein muß, unter allen Menschen von Anbeginn der Welt her, nie zwei in völlig gleichen Lagen sich befanden oder je sich befinden werden: so ist es ja klar, daß es, so lange die Welt steht, nie zwei Menschen von völlig einerlei Vorstellungsarten gegeben habe, jetzt geben werde; und so ist es ja der Thorheiten größte, eine solche unnatürliche Gleichheit der Vorstellungsarten bei ihnen, sei's worin es wolle, vorauszusetzen oder von ihnen zu verlangen und ihnen zur Pflicht machen zu wollen. Thor, der du dieses begehrst, hast du auch je bedacht, woher du selbst, du, der du dein dürftiges Gedankenmaß zum allgemeinen Maßstabe des menschlichen Verstandes zu machen dich unterwindest, deine eigenen Vorstellungen bekommen habest? Hast du jemahls erwogen, warum, du, der du Schnee und Eis gesehen hast, dir das Wasser nicht bloß als einen flüssigen, sondern auch als einen lockern und als einen festen Körper denken kannst und warum die Bewohner des heißen Erdgürtels dieses nicht vermögen? Hast du nie eine gewisse Art zusammengesetzter Bilder gesehn, die von der einen Seite betrachtet diesen, von einer andern[294] jenen Gegenstand darbieten? Lerne, daß alle Gegenstände unsers Denkens mehr oder weniger einem solchen Täuschbilde gleichen; und daß es bei ihnen auf den Stand-ort des Betrachtenden, auf die schärfere oder stumpfere Sehe-kraft seines Erkenntnißvermögens, auf die ganze Stimmung und Vorbereitung seiner Seele ankommt, wie sie ihm erscheinen sollen, als Berg oder Maulwurfshause, als Sonnen oder Nachtlampen! so wie es nun unmöglich ist, daß ein anderer Mensch mit dir zugleich auf einem und eben demselben Fleck stehe, durch deine Augen kucke, mit deinen Vorurtheilen oder Vorbegriffen und in deiner Seelenstimmung wahrnehme: so ist es auch durchaus unmöglich, daß ein Anderer gerade eben das zu sehen bekomme, was du siehst, und gerade eben das dabei empfinde, was du dabei empfindest. Geh, Tropf! und lerne, bevor du unmögliche Forderungen an die Menschheit machest, erst das A B C der Seelenlehre kennen!


Die zweite: wenn die Dinge, die wir zu jeder Zeit wahrnehmen und die Art, wie wir sie wahrnehmen, größtentheils nicht von unserer Wahl, sondern von den Umständen, worin wir uns jedesmahl befinden, von unsern Sinneswerkzeugen und von unserer unwillkürlichen Seelenstimmung abhängen; und wenn unser Urtheil sich nothwendig nach der Art und Weise richten muß, wie wir die Dinge sehen und wie[295] der Eindruck, den sie auf uns machen, beschaffen ist: so ist es ja abermals höchstunvernünftig, zu verlangen, daß alle Menschen über einerlei Gegenstände einerlei Urtheile fällen sollen. Sollte man, wenn die Erfahrung uns nicht täglich Beispiele davon zeigte, es für möglich halten, daß es jemahls Menschen gab, die in ihren ungeheuern Anmaßungen gegen Andere so weit gehen konnten, ihnen vorschreiben zu wollen: ihr sollt eben das für wahr und eben das für unwahr halten, was ich dafür zu halten geruhe! Welche unsinnige Foderung! Sagt sie wol etwas anders, als: ihr sollt gerade an meinem Platze stehn, sollt nicht mit euren, sondern mit meinen Augen, gerade die nämlichen Dinge, welche ich, und zwar gerade so sie sehen, wie ich sie sehe? Oder auch, ihr sollt eure Selbstheit verläugnen, zernichten; sollt alle Eindrücke, die ihr empfangen, alle Vorstellungen, die ihr bis dahin eingesammelt habt, jene aus euren Nerven, diese aus eurer Seele ausglätten und vertilgen; sollt, statt ihrer, auf einmahl alle diejenigen Eindrücke empfangen, alle diejenigen Vorstellungen aufnehmen, welche ich von dem Augenblicke meines Entstehens an empfangen habe; sollt also in mir und durch mich empfinden, denken und urtheilen, sollt Ich mit allen und jeden Bestimmungen meiner Ichheit werden? Noch einmahl: welche Foderung! Wo ist der Unsinnige, der da weiß, was sie sagen will, und sie dennoch zu wiederholen wagt?
[296]

Die dritte: Wenn wir, ob es uns gleich möglich ist, gegen unser eigenes Urtheil zu handeln, doch in allen denjenigen Fällen, wo weder innerer Trieb zum Gegentheil, noch äußere dazu zwingende Gewalt eintritt, nach unserm eigenen Urtheile zu Handlungen uns bestimmen und nothwendig bestimmen müssen: so ist es, bei der erkannten Unwillkührlichkeit unserer Urtheile, abermahls klar, daß auch unsere Handlungsweise größtentheils von den Lagen und Umständen abhängt, worin wir uns ehemahls befanden und jetzt befinden. Ist aber dieses, so muß man ja gestehn, daß auch bei den Handlungen der Menschen, trotz aller ihrer Freiheit, weit weniger Verdienst und Schuld, also auch weit weniger Zurechnung Statt finden, als wir gemeiniglich zu glauben pflegen. Könnten die Menschen ihre angebornen Fähigkeiten, ihre Körper, ihre Lagen und Schicksale, also alles, was zur Bestimmung ihres Einzelwesens (Individuums) etwas beitrug, gegen einander austauschen; so würden sie wahrscheinlich auch ihre eigenthümlichen Gemüthsarten und Handlungsweisen verwechseln; Sokrates würde vielleicht Nero, und dieser jener sein. Diese, mehr als wahrscheinliche Vermuthung darf die Obrigkeit freilich nicht abhalten, die Handlungen der Menschen durch Gesetze zu beschränken und diesen ihren Gesetzen durch Belohnungen und Strafen den gehörigen Nachdruck zu verschaffen, weil diese Dinge mit zu den Umständen und Bewegursachen[297] gehören, welche unser Thun und Lassen bestimmen können: aber wir Andern, die wir keine Gesetzgeber sind, müssen uns dadurch zur Demuth, beim Gefühl unserer etwanigen Vorzüge vor Andern, wie zur Nachsicht und Milde bei der Beurtheilung der fehlerhaften Handlungen unserer Nebenmenschen deswegen lassen. Für uns, sage ich, die wir nicht nach der Strenge der Gerechtigkeit, sondern nach, dem sanftern Gesetze der Billigkeit zu urtheilen Beruf haben, ist es weise und gut, bei den Fehltritten unsers Bruders zu uns selbst zu sprechen: wäre dieser an meiner und ich an seiner Stelle, so würde er vielleicht wie ich, und ich wie er, handeln.

Quelle:
Campe, Joachim Heinrich: Vaeterlicher Rath für meine Tochter. Braunschweig 1796 [Nachdruck Paderborn 1988], S. 292-298.
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