Funfzehnte Wahrnehmung.

[333] Nirgends zeigt sich die Unfähigkeit dieser durch Verfeinerung und Ueppigkeit geschwächten Menschen, mit ihrer Beurtheilungskraft durch die Oberfläche hindurch in die innere und wahre Beschaffenheit der Dinge einzudringen, deutlicher, als bei ihrem Urtheil über die Gemüthsart, den Werth und die Verdienste der Menschen und ihrer Handlungen. So sonderbar es auch immer klingen mag, so muß ich doch, allen meinen Erfahrungen zufolge, behaupten, daß ein gründlicher Menschenkenner und Menschenbeurtheiler unter Leuten dieser Klasse eine gar große Seltenheit ist. Um diese Behauptung minder befremdlich zu finden, als sie anfangs klingen mag, darf man, außer den obigen Bemerkungen, nur noch dieses erwägen, daß der Umgang in den höhern Ständen selten bis zu einer völligen Vertraulichkeit, Offenheit und Herzlichkeit gedeiht; daß er größtentheils nur auf Leute gleiches Standes, gleicher[333] Sitten, gleicher oder ähnlicher Ausbildung eingeschränkt ist; daß die Glieder der höhern Stände fast nur nach Einem Muster gemodelt sind, und daß fast gar keine Eigenthümlichkeit bei ihnen mehr geduldet wird; und endlich, daß den erzfeinen, nur für die höhern Kreise gebildeten und in diesen aufgewachsenen Menschen für manche menschliche Vollkommenheit, die in jenen Kreisen sich nicht zeigen darf, der Sinn mangelt. Lauter Hindernisse, welche die Erwerbung einer gründlichen und ausgebreiteten Kenntniß des Menschen, nach seinen unendlich mannigfachen Abänderungen, unmöglich machen. Um sich diese zu erwerben, muß man mit Leuten aus allen Ständen Umgang haben; muß man mit Leuten aus allen Ständen bis zur Vertraulichkeit und Herzlichkeit bekannt geworden sein; muß man Gelegenheit haben, die verschiedenen Handlungsarten derselben oft, nahe und anhaltend zu beobachten; muß man so glücklich sein, mit vielen selbständigen Ur-menschen (Originalen) in Verbindung zu gerathen, an denen alles stärker gezeichnet ist und daher besser unterschieden werden kann; muß man selbst keine einseitige-Bildung für einen gewissen Stand erhalten haben, sondern fähig geblieben sein, das Eigenthümliche eines jeden Standes in Ansehung der darin herrschenden Sitten und Lebensart ohne Vorurtheil zu betrachten; muß man endlich häufige Gelegenheiten und Veranlassungen gehabt haben, über die menschliche Natur und über die[334] Gründe der Sittlichkeit unserer Handlungen nachzudenken und seine Begriffe davon zu berichtigen. Weil nun dis alles den Mitgliedern derjenigen Menschenklasse, von welcher hier die Rede ist, abgeht: so stünde schon daraus, ohne noch einmahl die Erfahrung zu Rathe gezogen zu haben, zu vermuthen, daß ihre Menschenkenntniß gar sehr beschränkt, einseitig und unvollständig sein müsse.

Und so ist es denn auch wirklich. Für wahren Menschenwerth hat man in der sogenannten großen Welt überhaupt nur noch wenig Gefühl und wenig unbefangene Beurtheilungskraft. Eine schöne, wenigstens angenehme Gestalt, verbunden mit gefälligen äußern Sitten und einem unterhaltenden Geschwätze – machen das Musterbild eines vollkommenen Weltmannes und einer vollkommenen Weltdame aus, welches man an jeden neuen Ankömmling hält, um seinen Wert, danach zu erproben und darüber abzuurteilen. Findet man diese drei Erfordernisse an ihm, so stehe es übrigens mit seiner Gemüthsart, mit seinen nützlichen Kenntnissen, mit seinem gesunden Menschenverstande, wie es wolle: sein Glück ist gemacht! Er ist ein lieber, vortrefflicher, herrlicher Mann, und – honny soit qui mal y pense! Hat er hingegen diese drei wesentlichen Erfodernisse nicht; ist er unangenehm gebildet; hat er entweder keine Gelegenheit gehabt oder es gar verschmäht, seinen äußern[335] Sitten den bekannten großen Zuschnitt zu geben; ist er obenein blöde und schüchtern, also kurzsilbig, ängstlich, und daher unangenehm in seiner Unterhaltung: so habe er übrigens noch so vielen wahren innern Menschenwerth, so sei sein Verstand noch so aufgeklärt, sein sittlicher Karakter noch so ehrwürdig, sein Verdienst noch so entschieden: sein Urtheil ist gesprochen! Il n'est pas notre homme, und – weg mit ihm!

Ich sage dieses keinesweges, um die höhern Stände zu tadeln und den niedrigern ein Verdienst daraus zu machen, daß ihre Lage in der menschlichen Gesellschaft in diesem Betracht glücklicher, als die der Großen, ist. Dis wäre sehr unbillig gehandelt. Die höhern Stände können ja nicht davor, daß sie der obenerwähnten Gelegenheiten und Hülfsmittel zur Erweiterung und Berichtigung ihrer Menschenkenntniß entbehren müssen, und wir Andern haben uns diese Gelegenheiten und Hülfsmittel ja nicht selbst verschafft. Auch thun die Großen ja wirklich alles, was sie können, um ihre Einsichten in diesem Stücke, so viel wie möglich, durch Erkundigungen bei Andern auszudehnen: denn wer fragt wol mehr, als sie, was man über Diesen und was man über Jenen denke? Wer würdiget seiner Aufmerksamkeit die unbedeutendsten menschlichen Handlungen, die kleinsten Stadt- und Familienbegebenheiten mehr, als sie? Wer wird[336] durch Geschäftslosigkeit und durch Mangel an anderweitiger Unterhaltung mehr als sie, dazu gezwungen? Daß sie bei diesen Erkundigungen nicht immer so bedient werden, wie sie es erwarten; daß man es bedenklich findet, sein Urtheil über Personen und Begebenheiten in ihrer Gegenwart ohne Rückhalt zu äußern; daß sie daher oft schlecht belehrt werden, und die Dinge, die sie zu wissen wünschen, nur halb oder von der unrechten Seite zu sehen bekommen: ist das ihre Schuld? Also noch einmahl, nicht um sie deshalb zu tadeln, sondern weil es uns in unserm Umgange mit ihnen zu Statten kommen kann, daß wir wissen, aus welchen Gesichtspunkten man in diesem Kreise die Menschen anzusehen und zu beurtheilen pflegt, habe ich geglaubt, dir die obige Beobachtung nicht vorenthalten zu dürfen. Daß es übrigens auch hier, wie überall, manche, auch in diesem Betracht ehrwürdige Ausnahme gebe, versteht sich ganz von selbst, und brauche ich dir, die du mit mir das Glück hast, solche Ausnahmen in der Nähe zu verehren, nicht erst ins Gedächtniß zu bringen.

Quelle:
Campe, Joachim Heinrich: Vaeterlicher Rath für meine Tochter. Braunschweig 1796 [Nachdruck Paderborn 1988], S. 333-337.
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