Sechzehnte Wahrnehmung.

[337] Die meisten Menschen aus derjenigen Klasse, von der ich jetzt rede, sind mehr oder weniger unwahr, sind mehr oder weniger eine bloße lustige Erscheinung, welche von dem wirklichen, was dabei zum Grunde liegt, oft eben so verschieden ist, als die Gestalt, die wir im Spiegel erblicken, von dem Spiegel selbst. Du wunderst dich, mein Kind? Ich wunderte mich auch, da ich zum erstenmahle aus dem süßen Traume der Kindheit erwachte, und nun auf einmahl zu meiner nicht geringen Befremdung wahrnehmen mußte, daß alle die feinen, artigen, gefälligen, theilnehmenden und herzlichen Leute, mit allen ihren erkünstelten Mienen der reinsten Güte und des wärmsten Wohlwollens, mit allen ihren geschliffenen verbindlichen Worten, und mit allen ihren Versicherungen von Freundschaft und Achtung, nichts mehr und nichts weniger, als kalte gefühllose Schaupuppen wären, welche durch den Draht des Welttons in Bewegung gesetzt werden, und bei den lebhaftesten Aeußerungen von Güte und Gefälligkeit gemeiniglich nicht mehr empfinden, als die hölzerne Puppe bei den Worten, die der Mann hinter der Schirmwand ihr in den Mund zu legen weiß.

Aber laß uns gerecht sein, mein Kind, und nicht jede Unwahrheit, die wir in den Reden, Geberden[338] und Handlungen unserer Mitmenschen wahrnehmen, sogleich für Falschheit erklären. Es gibt mehr als Eine Art derselben, welche sogar der Weise und Tugendhafte sich zu erlauben kein Bedenken tragen darf. Es gibt sogar Fälle, wo es Pflicht ist, nicht nur die Wahrheit zu verschweigen, sondern auch eine wirkliche Unwahrheit an ihre Stelle zu setzen. Das sind nämlich alle diejenigen Fälle, wo die Entdeckung der Wahrheit eines Theils nicht ohne Unredlichkeit geschehen könnte und andern Theils Schaden verursachen würde, wo hingegen die Verheimlichung derselben theils zu unserer Pflicht gehört, theils zum Wohlsein Anderer unentbehrlich ist. Was das bloße Verschweigen der Wahrheit insbesondere betrifft, so kann es, wie du ohne mein Erinnern begreifst, überall rechtmäßig geschehen, wo keine einzige unserer natürlichen oder gesellschaftlichen Pflichten uns zu reden gebietet. Denn wo keine Verbindlichkeit Statt findet, da findet auch kein Unrecht statt. Von dieser Art von Verstellung also, welche in einer weisen, oft pflichtmäßigen Zurückhaltung besteht, kann hier nicht die Rede sein.

Auch nicht von einer zweiten Art von Unwahrheit, welche eben so unschädlich ist, und deren Keiner, der nicht allen Zusammenhang mit der menschlichen Gesellschaft abbrechen und mit Diogenes in eine Tonne kriechen will, sich erwehren kann. Es gibt nämlich[339] unzählbare Höflichkeitsbezeugungen und Gebräuche, bei denen Keiner, der nicht seit gestern erst aus dem Monde herabgefallen ist, sich jemahls einfallen läßt, das zu denken, was die Worte eigentlich besagen, oder was die äußern Zeichen, deren man sich dabei bedient, ihrer Natur nach anzudeuten scheinen; sondern welche bloße, durch allgemeines Einverständniß festgesetzte Zeichen sind, wodurch Einer dem Andern zu erkennen gibt, daß er seinen Stand und den damit verbundenen Grad von bürgerlicher Ehre wisse, und daß er wider beide nichts Erhebliches einzuwenden habe. »Dergleichen Worte und Gebräuche sind gleichsam, wie ein ungenannter Schriftsteller sich ausdrückt, heruntergesetzte Münzen, deren herabgesetzten Werth Jeder kennt, und womit also Keiner betrogen werden kann. Derjenige, welcher dergleichen Aeußerungen thut; derjenige, dem sie geschehen, und Alle, die sie hören, sind gleich gewiß überzeugt, daß sie falsch sind. Sie geschehen auch gar nicht in der Absicht, um geglaubt zu werden. Sagt Einer zu dem Andern: ich bin sehr erfreut, Sie wohl zu sehn, so heißt das weiter nichts, als: es ist mir gleichgültig, oder Sie wohl sind, oder nicht. Ein Glück, wenn es nicht gar heißt: wollte Gott, daß Sie nicht wohl wären! Sagt er: ich empfehle mich Ihnen, so heißt das nichts mehr und nichts weniger, als: ich will nun nach Hause gehn. Da nun Alle über den Werth solcher[340] Ausdrücke eins sind; so kann gar kein Mißverständniß darüber entstehen, und wer sie nach diesem, durch allgemeines Einverständniß herabgesetzten Werth im Umlauf bringt, handelt weder falsch noch unredlich.«

Also auch von dieser Art von unschädlicher Unwahrheit, welche in der gesitteten menschlichen Gesellschaft nun einmahl unvermeidlich ist, kann hier nicht die Rede sein. Und von welcher denn?

Von der Unwahrheit im Karakter; von derjenigen Verstellung, welche mit der Absicht, Andere zu seinem Vortheile und zu ihrem Nachtheile zu blenden, zu hintergehen, verbunden ist; von der, die da macht, daß der verfeinerte Weltmensch vom Scheitel bis zu der Fußsohle in allen seinen Mienen, Geberden, Worten und Handlungen eine einzige lügenhafte Larve ist, welche Freundlichkeit, Wohlwollen, Sanftmuth, Bescheidenheit, Enthaltsamkeit und eine uneigennützige Rechtschaffenheit aushängt, indeß das Herz, welches darunter verborgen liegt, von heimlichem Grolle, von giftigem Neide, von verbissener Wuth, von verstecktem Hochmuth, von wollüstigen Begierden und von der eigennützigsten Selbsucht bis zum Ueberfließen voll ist. Man hat seine Blicke, seine Mienen, jede Bewegung seiner Gesichtsmuskeln, jede Stellung und Haltung seines Körpers, sogar den Ton seiner Stimme unter die Bothmäßigkeit der Verstellungskunst[341] gebracht. Alle Leidenschaften und Laster sind in das Gewand der ihnen entgegengesetzten Gemüthszustände und Tugenden gehüllt. Der Zorn äußert sich nicht mehr durch Schreien, Poltern und Knirschen; sondern, wie sanfte Taubengüte, durch Girren und Lächeln: der Neid ist nicht mehr jene hagere, blaßgelbe, hohläugige Gestalt, unter der die Dichter ihn uns schildern; er trägt jetzt ganz die Rosenfarbe und die gefälligen Zeichen des freudigsten Mitgefühls, der herzlichsten Theilnehmung an Anderer Wohl-ergehn; die Eitelkeit schlägt die Augen nieder, erröthet, gleich der demüthigsten Bescheidenheit, bei jeder Bemerkung ihrer Vorzüge, will es gar nicht an sich kommen lassen, daß sie Vorzüge besitze, spricht mit Uebertreibung von ihren Unvollkommenheiten und Schwachheiten, um eben so übertriebene Lobpreisungen ihrer Vollkommenheiten und Tugenden herauszulocken: der häusliche Tirann seines Weibes, seiner Kinder, seiner Hausgenossen scheint auf der Bühne der feinen Gesellschaft der zärtlichste Gatte, der liebreichste Vater, der gütigste und nachsichtsvollste Hausherr unter der Sonne zu sein: und die häusliche Quälerinn ihres Gatten, die eingefleischte Furie in der Küche und im Schlafgemache, tritt mit der sanften Miene einer frommen Dulderinn und mit der überschwenglichen ehelichen Zärtlichkeit einer zweiten Penelope auf.

So, mein Kind, hat bei dieser Menschenklasse alles seine natürliche Farbe verändert: so haben Leidenschaften[342] und Laster sich hinter die Larve ihres Gegentheils zu verstecken gewußt! Jedermann will hier nur scheinen: um das Sein ist es Keinem mehr zu thun. Mit vielen von diesen Menschen ist es gar so weit schon gekommen, daß sie, im Bewußtsein ihres sittlichen Unwerths, an der Möglichkeit für gut gehalten zu werden, selbst verzweifeln, und daher ihren ganzen Ehrgeiz bloß darauf einschränken, zu verlangen, daß man sich nur äußerlich stellen solle, als hielte man sie für besser, als sie sind. Die Unglücklichen!

Quelle:
Campe, Joachim Heinrich: Vaeterlicher Rath für meine Tochter. Braunschweig 1796 [Nachdruck Paderborn 1988], S. 337-343.
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