12. In Bezug auf die sechszehnte Wahrnehmung.

[511] 1. Halte die Menschen nie für das, was sie auf ersten Blick zu sein scheinen; denn in der Regel sind sie etwas ganz anders, oft gerade das Gegentheil davon. Ich sage, in der Regel; denn es ist Gottlob! nicht zu läugnen, daß man hin und wieder auch wol zuweilen noch auf solche flößt, die sich gleich beim ersten Anblicke für das ankündigen, was sie sind, und die den ersten Eindruck, den sie auf uns machten, in der Folge vollkommen bestätigen. Aber diese ungeschminkten und unbelarvten Menschen sind leider! selten; und man thut daher wohl, nicht Jeden, der das Ansehen einer solchen Ausnahme zu haben scheint, nun auch gleich dafür zu nehmen, sondern vielmehr sein Urtheil über ihn so lange aufzuschieben, bis die Erfahrung uns erst die nöthigen Vordersätze dazu geliefert hat.


2. Nimm die unter gesitteten Leuten gewöhnlichen Höflichkeitsbezeigungen, Artigkeiten und Freundschaftsversicherungen nie für das, was sie anzudeuten oder zu sagen scheinen, sondern theils für leere Formeln und Gebräuche ohne Sinn,[512] theils – doch dis nur in seltenen Fällen – für Bemäntelungen ihrer ungünstigen Gesinnungen gegen dich, also in jedem Falle für etwas, worauf du weder rechnen, noch dir etwas zu gute thun darfst. Versichert dich jemand seiner Achtung und Ergebenheit schlechtweg; so heißt das gemeiniglich weiter nichts, als du seist ihm völlig gleichgültig. Thut ein Anderer dir die nämliche Versicherung mit anscheinender Wärme und in übertreibenden Ausdrücken; so heißt das entweder eben so viel, oder wol gar: mein gutes Kind, ich mache mich im Herzen über dich lustig, und ich stehe in Begriff, dir eine Nase zu drehen! Lobt dich jemand über dis oder jenes mit anscheinender Begeisterung ins Angesicht; sei ja nicht so einfältig, dir einzubilden, daß er aus Empfindung zu dir rede! Man lobt in der großen Welt, theils, weil man sich angewöhnt hat, jedermann etwas Verbindliches zu sagen, um von jedermann etwas Verbindliches zurück zu erhalten; theils, weil man gerade nichts anders zu reden weiß; theils aus Spötterei, theils endlich, weil man unsere Eitelkeit in irgend einer bestimmten oder unbestimmten Absicht zu bestechen sucht. Selten, höchstselten ist das Herz die Quelle des Lobes.


3. Um Menschen überhaupt und versteckte Menschen insbesondere kennen zu lernen, muß man niemahls[513] aus einzelnen Zügen, Reden oder Handlungen schließen, sondern alles zusammenfassen, was man von ihnen bemerken oder in Erfahrung bringen kann, und nur dasjenige für etwas Eigenthümliches an ihnen halten, worin nicht bloß die meisten, sondern auch die sichersten Beobachtungen über sie zusammentreffen. Einen Menschen aus einzelnen Zügen, Reden oder Handlungen beurtheilen zu wollen, ist in gleichem Grade unsicher und ungerecht zugleich. Denn wo ist der Taugenichts, der nicht hin und wieder auch etwas Gutes äußerte, und wo ist der vollkommene Sterbliche, der nicht in einzelnen Stücken noch immer tadelnswürdig bliebe? Auch muß man nicht glauben, daß ein in der Verstellungskunst geübtes Herz sich bei irgend einer Gelegenheit auf einmahl ganz ertappen lasse. Aber gegen eine fortgesetzte Aufmerksamkeit auf Blicke, Mienen, Geberden, Gang, Stellung, Kleidung, Stimme, Reden und Handlungen, vornehmlich aber gegen eine sorgfältige Vergleichung aller dieser Karakter-äußerungen unter einander, und zwar zu verschiedenen Zeiten und unter verschiedenen Umständen, hält auch die künstlichste Larve nicht lange Stich; sie fällt, ehe man es sich versieht, und die entlarvte Seele steht in ihrer Blöße da. Denn glücklicher Weise hat die Natur dafür gesorgt, daß jeder herrschende Karakterzug in alle die äußeren Dinge, die ich jetzt nannte, Spuren seines Daseins eindrucken muß, welche[514] zwar überkleistert, aber für den aufmerksamen Menschenbeobachter nie ganz unkenntlich gemacht werden können. Uebe dich fleißig, diese Naturschrift zu lesen; aber sei nicht eher sicher, den rechten Sinn herausgebracht zu haben, bis dir der Beobachtete selbst zu den Mitlautern, welche die Gesichtskunde an die Hand gibt, die Selbstlauter und die Unterscheidungszeichen – seine Handlungen, meine ich – hinzugesetzt hat. Ein einiges Strichlein oder Pünktchen mehr oder weniger, hier oder dorthin gesetzt, verändert den Sinn der physiognomischen, wie der Bücherschrift, oft gar sehr!


Ich rieth dir: nicht bloß auf das, worin die meisten, sondern auch vornehmlich auf das zu achten, worin die sichersten Karakter-äußerungen der Menschen zusammentreffen. Und welches sind diese? Vernimm, was eigene Erfahrung mir darüber gelehrt hat in folgenden Regeln:


4. Unter den physiognomischen Karakterzeichen achte vornehmlich auf die des Auges und des Mundes, weil beide bei jeder Gemuthsbewegung unter allen äußeren Theilen des Körpers die stärkste, unmittelbarste und merklichste Veränderung leiden.[515] Zwar lügen bei versteckten Menschen auch diese so gut, als jeder andere Theil ihres Körpers, aber doch unter allen am wenigsten. Sie können nur blickweise, nicht fortdauernd lügen. Die Augen des Menschen sind gleichsam die Fensterthüren zum Schmollkämmerchen (Boudoir) der Seele, wo ihre Verstellung auf hört, und wo sie gesehen werden kann, wie sie ist, mit allen ihren Launen, Grillen und Leidenschaften. So wie man nun mit jemandes Person, Wesen, Sitten und Lebensart geschwinder und besser bekannt wird, wenn man von Zeit zu Zeit durchs Fenster in sein Kabinet hineinzusehen Gelegenheit und Erlaubniß hat, als wenn man bloß die Außenseite seiner Wohnung betrachtet: so gelangt man auch geschwinder und sicherer zur Kenntniß der Seele eines Menschen, wenn man ihm mehr und aufmerksamer in die Augen, als aus die ganze Außenseite seines Körpers, auf dessen Haut, Mienen, Muskelnlage und Knochengebäude sieht. Der Mund ist vermuthlich deswegen ein so vorzüglich unterscheidender Theil des Körpers, weil er derjenige ist, den die Seele am meisten gebraucht, um ihre Empfindungen und Gedanken auszudrucken.[516]

Die etwaigen Beobachtungen, die auch ich über das Auge und den Mund in dieser Hinsicht gesammelt haben mag, für dich und Andere hier öffentlich aufzustellen, finde ich aus mehr als Einem Grunde zu bedenklich, als daß ich mich dazu entschließen könnte. Denn wenn auch diese Beobachtungen an sich völlig bestimmt und ohne Ausnahme richtig wären: so ist doch die Sprache der Gesichtskunde noch viel zu neu, zu arm und unbestimmt, als daß man hoffen dürfte, sich so deutlich, vollständig und allgemein verständlich darüber auszudrucken, daß das Gesagte keiner Mißdeutung und keiner verkehrten Anwendung ausgesetzt bliebe. Ich kann daher, wenn ich meinem Gewissen Gehör geben will, außer dem allgemeinen Rathe, auf den Ausdruck des Auges und des Mundes ganz vorzüglich zu achten und dir nach und nach selbst Bemerkungen darüber zu sammeln, nur noch die Regel für dich hersetzen: daß du an der Vollständigkeit und Richtigkeit deiner Beobachtungen über einen Menschen zweifeln mögest, so lange du in seinem Munde etwas Verzogenes oder Verbissenes, in seinem Auge und den nächst-angränzenden Theilen etwas findest, was mit[517] jenen Beobachtungen nicht recht zusammenstimmt oder ihnen geradezu zu widersprechen scheint. Was dies Etwas sei das darf ich aus besagtem Grunde hier nicht zu beschreiben versuchen; das muß ich deinem eigenen, durch eigene Beobachtungen zu schärfenden und zu berichtigenden physiognomischen Gefühle überlassen.


5. Aber noch mehr, als auf die Augen und den Mund eines Menschen, den du zu ergründen wünschest, achte auf seine Handlungen; und unter diesen wiederum mehr auf die kleinen häuslichen, unbedeutenden, mit Einem Worte, mehr auf diejenigen, die man gleichsam im Vorbeigehn und ohne überlegte Absicht verrichtet, als auf die großen, bedachten und öffentlichen Handlungen desselben. Jene, nicht diese, sind die wahren Karakter-äußerungen; denn bei diesen zeigt man sich, wie man sich zeigen will, bei jenen, wie man ist; bei diesen ist die Seele im Feierkleide, bei jenen in Schlafrock und Pantoffeln. Begleite also den glänzenden Schauspieler, wenn du den Menschen in ihm kennen lernen[518] willst, bis hinter die Bühnenwände; habe Acht, wie er hier seine Mienen, seine Blicke, seine Sprache, sein ganzes Wesen verändert; siehe ihm ins Gesicht, wenn er die Schminke abgewaschen, die gemalten Augbraunen ausgerieben, die schimmernde Bühnenkleidung ausgezogen hat; laß kein Wort von dem, was er nunmehr als Mensch, nicht mehr als Schauspieler, zu seinen gleichfalls abgetretenen Mitspielern, zu den theatralischen Handlangern, zum Lichtputzer u.s.w. spricht, auf die Erde fallen; höre ihn hier über seine Rolle, über die Zuschauer Anmerkungen machen, und kommt von ungefähr sein Hund oder seine Katze dazu: so achte es nicht zu geringe, auch sein Benehmen gegen Hund und Katze zu beobachten. So oder niemahls wirst du deinen Zweck erreichen, den Mann vom Schauspieler gehörig unterscheiden zu lernen.

Achte, wie gesagt, hiebei ganz vorzüglich auf alle diejenigen beiläufigen Urtheile oder Aeußerungen, die auch den feinsten Weltleuten, wenn ihre Aufmerksamkeit gerade auf etwas anders gerichtet ist, zu entwischen und dem aufmerksamen Zuhörer gemeiniglich mehr zu sagen pflegen, als dem Redenden lieb[519] ist. Ich kann dir hierüber, in vertrauter Unterredung, einige merkwürdige Beispiele erzählen.


6. Suche es dahin zu bringen, daß eine solche Person, an deren genauer Erforschung dir gelegen ist, Veranlassung bekomme, viel, und zwar viel von sich selbst zu reden, und über allerlei Fälle und zwar in sittlicher Hinsicht, sein Urtheil zu sagen. Die Vortheile, die der Beobachter daraus ziehen kann, sind zu offenbar, als daß ich sie erst anzeigen dürfte.


7. Benutze zur Erforschung eines Menschen von versteckter Gemüthsart vornehmlich diejenigen Augenblicke, in welchen eine gemeinschaftliche Angelegenheit, worein euer beiderseitiger Vortheil gleich stark verflochten ist, gemeinschaftlich betrieben werden soll, und laß ihn dabei die dazu erfoderlichen Mittel und Maßregeln selbst in Vorschlag bringen. Dis kann dir auf einmahl den Schlüssel zu seiner[520] Denk-art geben. Denn jetzt, da eure beiderseitigen Vortheile in einander geschlungen sind, und es nur darauf ankommt, gemeinschaftliche Sache zu machen, wird er auf einen Augenblick vergessen, daß ihr zwei verschiedene Personen seid, und in diesem entscheidenden Augenblicke wird er reden und handeln, als wenn er allein wäre. Das ist aber der Augenblick, in welchem man Augen und Ohren gebrauchen muß, seinen Mann schnell zu durchsehen und zu durchhören; denn eine Minute danach wird seine Klugheit vielleicht schon wieder Schildwacht stehn und die Thür seines Herzens auf lange Zeit von neuen verschlossen halten.


8. Nichts aber kann uns die Bemühung, einen solchen Menschen bis auf den Grund kennen zu lernen, mehr erleichtern, als wenn wir Gelegenheit haben, ihn in einem leidenschaftlichen Zustande zu sehn und alsdann Beobachtungen über ihn anzustellen. Feuer und Kälte, Sturm und Ruhe, Leidenschaft und Verstellung können nicht mit einander bestehen; und steht ein Haus in Flammen, so springt auch der[521] heraus, der am meisten Ursache hatte, sich darin verborgen zu halten. So die versteckte Seele, wenn ihr Wohnhaus, der Körper, in leidenschaftlichem Brande steht! Sie springt unangekleidet, ungeschminkt und unverlarvt hervor, und du siehst sie, wie sie ist, nicht wie sie sonst mit erborgten Prunkgesinnungen sich öffentlich zu zeigen pflegte. Das ist abermahls in Augenblick, den ungenutzt der verständige Beobachter nie verfliegen läßt.


9. Willst du besonders den Werth seiner Freundschaftsäußerungen prüfen, und erfahren, wie er, wenn du nicht zugegen bist, über dich zu reden und zu urtheilen pflege: so gib acht, wie er es in diesem Stücke mit Andern treibt, die ungefähr in eben dem Verhältnisse mit ihm stehen, wie du, und denen er, so lange sie zugegen sind, eben so viel Achtung, Freundschaft und Vertrauen, als dir, erweiset. Sind diese früher als du aus der Gesellschaft gegangen (und ich rathe dir, es in solchen Fällen geflissentlich darauf anzulegen, daß dieses geschehen möge) und[522] erkennst du dann aus dem Hohnlächeln, dem Achselzucken und dem beißenden Anmerkungen ihrer angeblichen Freunde, wie alle die vorhergehenden Aeußerungen einer herzlichen Zuneigung und einer überschwänglichen Hochachtung gemeint waren: so weißt du zugleich, was du von der angeblichen Achtung und Ergebenheit, welche eben diese gefälligen Leute dir bezeugen, zu halten habest. Es ist für Jeden, der noch nicht selbst darauf geachtet hat, unglaublich, wie weit die Unvorsichtigkeit, selbst bei den feinsten Weltleuten, hierin zu gehen pflegt! Sie lassen gemeiniglich ohne Bedenken eine Larve nach der andern fallen, so wie diejenigen abtreten, um derentwillen sie dieselbe angelegt hatten, nur diejenige nicht, welche für uns, die wir noch zugegen sind bestimmt war. Die armseligen Gaukler! Ob sie uns denn gar kein Vermögen, von Anderer Schicksal auf das unsrige zu schließen, oder so unermeßlich viel Selbstgefälligkeit und Eigendünkel zutrauen, daß wir uns allein für schußfest halten sollten, indeß die Pfeile der Falschheit und der Afterrede den guten Leumund aller unserer Nebenmänner, ohne Schonung links und rechts vor unsern Augen zu Boden[523] strecken? Diese letzte Voraussetzung mag indeß bei Vielen wol nur zu sehr zutreffen.


10. Endlich, mein Kind, gib, um den letzten und sichersten Ausschluß über die Gesinnungen solcher Menschen gegen dich zu bekommen, auf jede erhebliche Veränderung in deinen und ihren Glücksumständen Acht, wodurch das bisherige Verhältniß zwischen deinem und ihrem Stande, zwischen deinem und ihrem Vermögen, zwischen deinem und ihrem Einflusse auf Andere, merklich verrückt wird. Findest du dann, daß ihre Freundschaft und Achtung gegen dich, gleich Bankpapieren steigen oder fallen, je nachdem der Wärmemesser des Glücks höher oder niedriger steht: so weißt du ja, woran du bist, und kannst forthin nicht mehr getäuscht werden. Wie viel angebliche Freundschaften sah ich, während meines kurzen Lebens, an diesem Prüfstein zerschellen! Und die als Trümmer nicht mehr zu verkennenden Bestandtheile derselben waren? – Eigennutz:


Aber wozu, mein liebes Kind, gebe ich dir Anleitung zu einer so ämsigen Erforschung der wahren Gesinnungen,[524] Leidenschaften und Schwachheiten deiner Nebenmenschen? Etwan um Betrug durch Betrug, List durch List zu besiegen? Oder damit du deiner eigenen größern Rechtschaffenheit dich überheben und auf deine schwächern Mitmenschen mit stolzer Verachtung herabsehen mögest? Das wolle Gott nicht! Und wozu denn? Dazu, daß du von keinem mehr erwartest, als er wahrscheinlicher Weise leisten wird; dazu, daß du vom Scheine dich nicht blenden lassest, den Wolf nicht für ein Lamm, den Geier nicht für eine Taube haltest; dazu also, daß du vorsichtig wandeln mögest unter den Menschen, und deine Wohlfahrt nicht in Hände legest, die sich ein Vergnügen daraus machen könnten, sie zu zerknicken. Das ist die einzige wahre Absicht des ganzen zweiten Theils dieses meines väterlichen Raths und jeder darin enthaltenen Belehrung insonderheit; so wie es der einzige wahre Zweck sein muß, zu welchem du dir diese Belehrungen merken und sie benutzen wirst.


Und nun ist es Zeit, diesen für die Größe und Reichhaltigkeit seines Gegenstandes viel zu dürftigen,[525] für seinen nächsten Zweck aber vielleicht schon zu weit läuftigen und zu umständlichen Aussatz zu schließen. Bevor ich aber hiezu schreite, laß mich noch einmahl die Hauptfolge aller der Beobachtungen und den Mittelpunkt aller der Verhaltungsregeln wiederholen, die ich dir in Beziehung auf unsere Mitmenschen hier bekannt machen zu müssen geglaubt habe.

Alle Menschen – also auch wir, du und ich – sind unvollkommene Wesen. Alle haben ihre Schwächen und Fehler; aber auch alle – ihre gute Seite. Da ist kein Reiner unter den Unreinen, unter den Unvollkommenen kein Vollendetet. Laß uns also, im beständigen Bewußtsein dieser ausgemachten Wahrheit, duldsam und nachsichtsvoll im allgemeinsten und würdigsten Sinne des Worts sein; und indem wir die Schwachheiten der Schwachen bedauern, die Thorheiten der Thoren belächeln und die Laster der Lasterhaften von ganzem Herzen hassen und verabscheuen, nie aufhören, die Menschen selbst zu lieben, uns mehr an ihren guten, als an ihren fehlerhaften Seiten zu halten, und nie vergessen, daß auch wir – so redlich und anhaltend unser Bestreben nach höherer Vollkommenheit auch immer sein mag – dem allgemeinen Loose der Sterblichen, dem der Schwachheit[526] und der Fehlbarkeit, doch gleichfalls bis ans Ende unterworfen bleiben.

Auch in dem engern Ausschusse deiner Auserwählten – ungeachtet diese, wie ich zu deinem Verstande und Herzen zu hoffen wage, immer zu den besten und edelsten Menschen gehören werden – erwarte nichts Vollkommenes. Denn auch sie sind Menschen; auch ihnen klebt also die Unvollkommenheit der menschlichen Natur an, und sie werden dieselbe eben so wenig, als du und ich, jemahls ganz verläugnen können. So wie daher deine Schwächen und Fehler von ihnen liebreich übersehen oder geduldet werden: so mußt auch du eben so billig und nachsichtsvoll gegen die ihrigen sein. Ist nur der Grund ihres sittlichen Karakters unverkennbar gut, oder leuchtet nur aus der Summe ihrer Handlungen gewissenhafte Rechtschaffenheit und ein ernstes Bestreben nach sittlicher Vervollkommnung hervor: o so laß uns einzelne Uebereilungen, und einzelne fehlerhafte Eigenheiten, die wir an ihnen bemerken, mit dem großen Mantel der Liebe, dessen wir alle so sehr bedürfen, gern bedecken, und nicht thörichter Weise aus dem Garten der Freundschaft, welcher der fruchttragenden und schattengebenden Bäume nie zu viel haben kann, einen Stamm[527] ausrotten, dem unter den vielen milden und edlen Früchten, die er dir trägt, auch wol je zuweilen ein unreifes oder wurmstichiges Gewächs entfällt.

Endlich mein theures Kind, vergiß nie, was ich dir schon oben mit völliger Zustimmung meiner innigsten Ueberzeugung gesagt habe – und dis müsse dich zugleich beruhigen, wenn die Vielheit der hier gegebenen Vorschriften dich etwa besorgt machen sollte, wie du dieselben alle werdest behalten und befolgen können – daß strenge und gewissenhafte Rechtschaffenheit in allen Fällen die weiseste und sicherste Weltklugheit ist, und daß die obigen Regeln alle, so viel ihrer auch immer sein mögen, sich am Ende größtentheils in der einzigen, allgemein sichern, ohne Ausnahme anwendbaren und ihre Befolger nie im Stiche lassenden Weisheitsregel vereinigen:


Thue recht, und scheue niemand![528]

Quelle:
Campe, Joachim Heinrich: Vaeterlicher Rath für meine Tochter. Braunschweig 1796 [Nachdruck Paderborn 1988], S. 511-529.
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