Von der schlechten Erziehung.

[29] Es giebt selbst unter den gebildeteren Ständen nur wenige Familien, welche es verstehen, ihre Kinder wirklich gut zu erziehen. Denn zu einer wirklich guten Erziehung genügt keineswegs, daß die Eltern für die wissenschaftliche Erziehung ihrer Kinder Sorge tragen und in dieser Beziehung keine Kosten scheuen; daß sie auf deren körperliche Entwickelung und Kräftigung bedacht sind; daß sie im Allgemeinen auf Sittlichkeit und Moralität achten; – sondern sie müssen auch mit der größten Aufmerksamkeit und Sorgfalt schlimme Beispiele, sowohl durch sich selbst, als durch Fremde, von ihnen fern halten, und vom zartesten Alter an auch nicht den kleinsten Fehler, nicht die unbedeutendste Unart durchgehen lassen, denn in diesen liegt der, wenn auch oft nicht geahnte erste Keim zu spätern Untugenden, Fehlern und sogar Verbrechen.

Wie die riesige Eiche aus der kleinen, unscheinbaren Eichel entsteht, so entwickeln sich auch die gröbsten Laster nur allmählig aus anfangs unbedeutenden oder harmlos erscheinenden kindischen Unarten, und diese sind es daher, die man ausrotten muß; denn sind sie erst zu Lastern geworden, dann sitzt die Wurzel bereits zu tief und fest, um sie noch ausreißen zu können.

Zu dieser Beseitigung und consequenten Unterdrückung kleiner Unarten der Kinder gehört indeß eine beständige Aufmerksamkeit, welche für viele Eltern, ja für die meisten, lästig ist, und sie lassen dergleichen kleine Unarten lieber neun Mal unter zehn ungestraft und sogar ungerügt hingehen, als daß sie ihre Bequemlichkeit stören oder sich dem kleinen Aerger aussetzen, der beinahe von jeder Bestrafung eines Kindes unzertrennlich ist.[30]

Außerdem sind dazu eine Ruhe und eine sich immer gleichbleibende Gerechtigkeit erforderlich, welche die wenigsten Eltern, namentlich aber die wenigsten Mütter, besitzen, und es fehlt überdies Vielen der Scharfsinn und die Beobachtunsgabe, bei scheinbar ganz unbedeutenden Thatsachen die Schlußfolgerungen zu ziehen, die möglichen spätern Folgen zu erkennen und zu berechnen.

Wir führen zum Belege des Gesagten nur ein Beispiel an, welches dem aufmerksamen Beobachter aber zu der Erkenntniß genügen wird, wie mächtig und nothwendig es ist, bei den Kindern auch den geringsten Keim des Bösen zu ersticken.

An einem schönen Sonntag im Monat Mai ging ein Vater mit seinem Söhnchen spazieren. Die Bäume waren mit ihrem ersten frischen Grün bekleidet und die Blüthenknospen öffneten ihre duftenden Kelche.

»Ach, Väterchen, brich mir einen solchen schönen Blüthenzweig ab!« bat der Knabe.

Anfangs schlug der Vater die Bitte ab, endlich aber ließ er sich durch die Wiederholung derselben bewegen, bog mit seinem Stocke einen Ast herunter, brach einen reich mit weißen Blüthen bedeckten Zweig ab und gab ihn seinem Knaben, der über das schöne Geschenk in laute Freudenäußerungen ausbrach und jubelnd voransprang, seinen Zweig schwingend.

Der Vater hatte bei seiner Handlung nur die Freude bedacht, die er seinem Kinde machte und die er aus Mangel an Ueberlegung für eine vollkommen unschuldige hielt. Und doch hatte er, indem er den Blüthenzweig abbrach, dem Knaben das erste Beispiel der Nichtachtung fremden Eigenthums gegeben. Denn statt den Wunsch des Knaben nicht bloß, wie er es zuerst gethan, einfach abzuschlagen, hätte er ihn darauf aufmerksam machen müssen, daß der Baum, an welchem der Zweig saß, nicht ihm, sondern dem Besitzer des Gartens gehöre, in welchem der Baum stand, daß er also kein Recht hätte, davon auch nur den kleinsten Zweig abzubrechen.[31] Bei der Wiederholung der Bitte hätte er dann aber consequent bei seiner Weigerung bleiben und den Grund derselben dem Kinde begreiflich machen müssen.

Wie gefährlich das Beispiel war, welches auf solche Weise der Vater selbst seinem Sohne gegeben hatte, das sollte sich nur zu bald zeigen, denn als die Früchte jenes Baumes reiften, da wurde der Knabe von dem Gartenbesitzer überrascht, wie er sie mit einem Stocke herunterschlug und mit eben diesem Werkzeuge seines Frevels derb gezüchtigt. Hätte aber der Vater ihm die Blüthen verweigert, weil sie fremdes Eigenthum waren, so würde der Knabe sich schwerlich erdreistet haben, die Früchte abzuschlagen.

Sollte nun der Knabe zufällig später ein Dieb geworden sein, wer könnte dann behaupten, daß es nicht der Vater gewesen sei, der ihn auf den Weg des Verbrechens brachte, indem er ihm von einem fremden Baume den Blüthenzweig brach?

Wie in diesem Falle, so läßt sich noch in manchem andern durch die erste Vernachlässigung der Erziehung viel sündigen, was auf das ganze Leben der Heranwachsenden von Einfluß ist.

Was aber hier von moralischen Eigenschaften gilt, das findet ebenso gut auch seine Anwendung auf die gesellige Bildung und die Lebensart der Kinder. Werden sie von dem zartesten Alter an und bei jeder Gelegenheit an Artigkeit und Sittsamkeit gewöhnt, so werden diese ihnen zur andern Natur, und es ist ihnen in späteren Jahren, selbst wenn sie öfters schlechte Beispiele sehen, ganz unmöglich, sich grob, roh oder ungesittet zu benehmen.

Quelle:
Fresne, Baronesse de: Maximen der wahren Eleganz und Noblesse in Haus, Gesellschaft und Welt. Weimar 1859, S. 29-32.
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