9) Der Neugierige.

[76] Die Wißbegierde will Kenntnisse erwerben, um den Geist zu bereichern; die Neugier dagegen strebt nur nach der Kenntniß von Dingen, welche die Angelegenheiten anderer Menschen betreffen. Die Wißbegier ist daher eine löbliche Eigenschaft, die Neugier aber ein großer Fehler und der Neugierige kann sehr lästig werden, ist sogar unter gewissen Umständen als ein höchst gefährlicher Mensch zu betrachten und deßhalb zu meiden.

Ein Neugieriger nimmt oft in einer Gesellschaft nur wenig Theil an der allgemeinen Unterhaltung; in eine[76] Fenstervertiefung zurückgezogen oder hinter einem Vorhange versteckt, belauscht er die einzelnen Gespräche, erspäht er die Bewegungen, die Blicke, erschnappt er ein gleichgültiges Wort außer allem Zusammenhange und weiß sich Alles auszulegen. Hat er Verstand, so treffen seine Auslegungen oft so ziemlich die Wahrheit; ist er dagegen ein Tropf, so setzt er sich allerhand Dummheiten zusammen, die er aber nichtsdestoweniger sehr häufig für Wahres ausgiebt.

Macht der Neugierige Besuche, so wird er erst mit dem Portier oder dem Hausmeister sprechen, ehe er die Treppe ersteigt. Thut er dieß, so sieht er sich überall spähend um und bemerkt dabei jede nur irgend auffallende Kleinigkeit. In dem Vorzimmer weiß er die Bedienten auf geschickte Weise auszufragen und auszuforschen. Betritt er endlich das Zimmer Dessen, den er besucht, so erfaßt sein Luchsauge Alles ringsumher, er bemerkt den kleinsten Gegenstand, der nicht an seinem gehörigen Platze steht, bevor er den Besuchten begrüßt.

Liegen Papiere auf dem Tische, so lies't er sie – verstohlen, wenn er bescheiden, ohne alle Umstände, wenn er zudringlich oder dummdreist ist. Er betrachtet die Adressen der Briefe, die zufällig gesiegelt oder geöffnet auf dem Schreibtische liegen. Beobachtet man ihn nicht, so hält er sie gegen das Licht, um wo möglich die Unterschriften zu lesen. Ach, wie gern wagte er es, sie zu öffnen!

Muß er warten, während der, welchen er besucht, im Nebenzimmer mit irgend Jemand beschäftigt ist, so horcht er an der Thür, oder er sieht durch das Schlüsselloch.

Die Folge alles Dessen, was wir so eben erwähnten, ist, daß der Neugierige schon nach kurzer Bekanntschaft überall mit Kälte behandelt wird, daß selbst seine besten Freunde mißtrauisch gegen ihn sind und daß er vielleicht sogar den beschimpfenden Verdacht auf sich zieht, er sei Polizeispion.[77]

Der Neugierige sollte stets des Sprichwortes eingedenk sein:

Der Horcher an der Wand

Hört seine eig'ne Schand!


und gewiß wird er es oft dadurch bestätigt finden, daß er bei seinem Spioniren Dinge zu hören bekömmt, die ihm durchaus nicht angenehm sind.

Einem Menschen sein Geheimniß zu stehlen, ist oft schlimmer, als wenn man ihm die Börse stiehlt. Das Eine kann eben so strafbar sein, als das Andere.

An die Verschwiegenheit eines Neugierigen kann Niemand glauben; deßhalb darf er auch nie darauf rechnen, daß man ihm Vertrauen beweise.

Mit dem System der Auslegung gelangt der Neugierige stets dahin, mehr zu wissen als die Wahrheit.

Ein Mensch, der seine Neugier nicht zu bezwingen vermag, wird auch andere böse Neigungen nicht unterdrücken können.

Eine unbesonnene Schwatzhaftigkeit kann größeres Unglück bewirken, als ein Degenstoß.

Quelle:
Fresne, Baronesse de: Maximen der wahren Eleganz und Noblesse in Haus, Gesellschaft und Welt. Weimar 1859, S. 76-78.
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