IV. Die Probe von Turandot.

[50] Ich war noch sehr jung, aber doch schon fähig – meine Anlagen entwickelten sich frühzeitig –, den Werth einer jungen Actrice anzuerkennen, die gleich bei ihrem ersten Auftreten, zwar noch nicht auf der Bühne, sondern blos auf einem Balle vorläufig, von allen Jünglingen mit stürmischer Hochachtung empfangen wurde. Und das war kein Wunder. Sie hatte das zweckmäßigste Gesichtchen bekommen; ein neben mir Stehender behauptete – von der gütigen Natur, und setzte geistreich hinzu: Sie ist ein Engel. – Und ihre Gestalt? Sie war noch zweckmäßiger, als die eines gewöhnlichen Engels auf Bildern und in Kirchen. Ach, liebe Leser, da begann eine schwere Zeit für mich! Bis zu dieser Periode meines würdigen Daseins hatte ich keine anderen als falsche Quinten- und verbotene[50] Octaven-Sorgen gekannt – nun trat zu dem Generalbaß noch die Liebe! Ein fürchterlicher Kampf zwischen beiden feindlichen Mächten entbrannte in meiner armen Seele. Aber er war bald entschieden. Die Liebe siegte und der Generalbaß unterlag. Von nun an folgte ich meiner Angebeteten auf allen ihren Schrittchen und Trittchen. Zwanzig bis zweiundzwanzig Ellen hinter ihr, die Elle zu 309,95 Pariser Linien gerechnet, hatte ich mich, so zu sagen, in Permanenz erklärt und war stets daselbst zu treffen. In dieser Distanz von ihr besaß ich Geist, Muth, Beharrlichkeit, Entschlossenheit, kurz, alle die herrlichen Eigenschaften, welche ich stets an mir bewundert habe. Versuchte ich dagegen, die Entfernung von ihr nur um ein Weniges abzukürzen, so ging eine schauerliche Veränderung in mir vor. Mit jedem Schritte, den ich ihr näher rückte, schuppte sich mein Geist gleichsam, d.h. eine nach der andern jener Eigenschaften fiel ab. War ich ihr um etwa fünf Ellen näher gekommen, so hatte sich z.B. mein Muth schon gänzlich aus dem Staube gemacht und an dessen Stelle die erbärmlichste Verzagtheit frech eingenistet. Kurz, ich verwandelte mich von Elle zu Elle in immer nachtheiligerer Weise, dergestalt, daß, als mich einstmals der heimtückische Zufall unerwartet um eine Hausecke[51] herum gerade vor die Holde hinstellte, der angehende Don Juan plötzlich sich in den steinernen Gast verwandelte!

Ach! – Und sie blieb so freundlich, lieblich, gütig vor mir stehen! Und sie wartete mit wahrhaft himmlischer Geduld, mehrere Secunden lang, etwas verschämt, mit niedergesenktem Blick mich gleichsam stumm fragend – ob ich ihr vielleicht Etwas zu sagen habe? – –

Aber ich hatte ihr Nichts zu sagen!

Da ging sie endlich sanft erröthend weiter. – –

An einem dunkeln Herbstabende war Probe von Turandot. Ich hatte in Erfahrung gebracht, daß sie in diesem Stück zum ersten Mal auftreten werde. Wohl eine halbe Stunde vor Anfang der Probe stieg ich, wie ein verruchter Dieb, durch ein Hinterfenster ins Orchester; aus dem Orchester schwang ich mich gewandt über eine Barriere ins Parterre, und dort hätte ein aufmerksamer Beobachter bemerken können, wie ich geheimnißvoll hinter einem Pfeiler verschwand.

Es war finster, und nur die großherzogliche Loge, auf der andern Seite des Hauses, der Bühne gegenüber, durch zwei matt flackernde Kerzen erhellt. Wir befanden uns nämlich damals noch in der vorhund-aubri'schen Zeit, wo Goethe meist bei den Hauptproben zugegen zu sein pflegte.[52]

Auch in dieser sollte er erscheinen; und bald machte sich ein leises fernes Rollen hörbar, welches in schnellem Crescendo rasselnd näher kam und schnell abbrach: Das mußte Goethe's Wagen sein. Denn in den Gesprächen des Schauspieler-Personals, das sich nach und nach auf der Bühne eingefunden hatte, trat plötzlich eine Generalpause ein und die Mimen verzogen sich still in die Coulissen. Nur der alte Regisseur Genast, der Vater des jetzigen berühmten Künstlers, blieb auf der Bühne zurück. Kurz darauf trat Goethe in die Loge. Auf den ehrerbietigen Gruß und die Frage Genast's, ob Excellenz befehle, daß die Probe beginne, erwiderte Goethe mit seiner vollen sonoren Stimme freundlich: »Wenn's beliebt.« Er setzte sich, die Theaterklingel ertönte und die Probe begann. Gott! Hätte ich ahnen können, was mir darin bevorstand!

In dem ersten Act von Turandot treten bekanntlich nur Männer und ein altes Weib auf. – Die gingen mich Nichts an. Ich rührte mich daher auch nicht in meinem Versteck. Zwar klopfte mein Herz unaufhörlich höchst ungestüm in mir – sodaß ich nicht ohne Grund vermuthete, es wolle durch- und ausbrechen – aber ich blieb fest.

Im vierten Auftritt des zweiten Acts erschien[53] endlich Turandot. Diese Rolle spielte die junge Theaternovize zwar noch nicht, aber eine der zwölf Sklavinnen der Prinzessin darzustellen, war ihrem Talente bereits anvertraut worden. Sowie dieser Sklavinnen-Zug die Bühne betrat, wurde mein dramatisches Interesse augenblicklich rege und ich fühlte mich mächtig von der Handlung angezogen. Unglücklicherweise wurden die Sklavinnen, je sechs an beiden Seiten der Bühne, ganz nahe den Coulissen, aufgestellt und meine specielle Sklavin kam gerade an die Seite, wo ich stand. Hierdurch wurde sie natürlich meinen Blicken gänzlich entzogen. Ich wollte aber sehen und nicht blos sie sehen, ich fühlte auch den unwiderstehlichen Drang, ihr meine Gegenwart bemerklich zu machen. Um beide schöne Zwecke zu erreichen, mußte ich aus meinem Hinterhalte hervor. Ich versuchte es zunächst mit einem schüchternen Schritt; der half nicht; ich wagte, einen zweiten zuzugeben – die Mädchenreihe kam mir etwas ins Gesicht, aber die Eine und Einzige konnte mich noch immer nicht bemerken. So rückte ich denn allmälig in süßer Selbstvergessenheit, mein ganzes Wesen nur auf Einen Punkt fixirend, weiter und weiter vor, bis ich endlich mitten im Parterre zu Jedermanns Ansicht dastand! Wohl erreichte ich meine Absicht,[54] Sie erblickte mich wirklich; – man denke sich in meine edle Seele! – sie neigte ihr reizendes Köpfchen mir alsobald leise grüßend zu, wurde aber auch gleich nach dieser schönen That mit Purpur ganz übergossen und stand, ihre langen, schwarzen Wimpern über ihre blitzenden schwarzen Aeuglein eilig herabfallen lassend, da, wie ein schlafendes, aber süßträumendes Kind.

Dies sehend, vergaß ich den letzten Rest der Welt, den ich bis dahin, wenn auch wie von einem starken Nebel umhüllt, um mich herum bemerkt hatte, und ohne mich weiter an Etwas zu kehren, begann ich ihr so oft und lange gegengrüßend zuzuwinken, bis sie es unter ihren halbgeöffneten Wimpern hervorlugend mit zufriedener Miene bemerkte.

Nun denke man sich, wie mir zu Muthe wurde, als in diese zarte Situation, in diesen duftigen Zauber- und Liebestraum – aus der großherzoglichen Loge – Goethe – mit zürnender Stimme – plötzlich (ich erzähle historisch treu) donnernd und in majestätischem Rhythmus die Worte herabschmetterte:


»Schafft mir doch den Schweinhund aus den Augen!«


Wie ein tödtlich getroffener Hase that ich einige Sätze in die Luft, und dann hinter den Pfeiler. Aber[55] auch dort mich nicht sicher fühlend, faßte ich in meiner totalen Geistesverwirrung den unglückseligsten Entschluß – anstatt auf dem Wege, auf dem ich hereingekommen, unbemerkt wieder hinauszuflüchten, was das Leichteste und Vernünftigste gewesen wäre, setzte ich, mich meiner equilibristischen Künste erinnernd, die ich mehreren Bereitergesellschaften abgesehen und abgelernt hatte, mit beiden Händen auf der nächsten Bank an, und schwang mich in fünf bis sechs Absätzen über die Sitze des ganzen Parterre hinweg, nach der gegenüberstehenden Thür – vor den Augen aller auf der Bühne Anwesenden! – Der ganze chinesische Hof, selbst Kaiser Altoum nicht ausgenommen, brach bei dem Anblick meiner gewiß bewundernswerth geschickten, aber an diesem Orte freilich sehr übel angebrachten Bajazzosprünge in ein ganz gemeines deutsches Gelächter aus, und selbst Goethe soll sich eines Lächelns nicht haben enthalten können.

Ich stürzte schamglühend in die düstere Herbstnacht hinaus, jagte wie ein verfolgter Mörder meiner Wohnung zu und warf mich keuchend auf den ersten Stuhl, an den ich anrannte und auf dem ich mich nicht nur an dem Ende meiner Liebe, sondern natürlich auch an dem meines Lebens angelangt zu sein glaubte.[56]

Und nun denke man sich, wie mir zu Muthe ward, als ich am andern Tage erfuhr, daß ich mich ganz umsonst so blamirt hatte!

Im zweiten Acte von Turandot werden die zweite Scene, die vierte und der Ausgang dieses Actes mit Märschen begleitet. Diese Märsche hatte der damalige Correpetitor Eulenstein in der Probe einstweilen am Klavier zu spielen. Besagter Mann war zeitig an seinem Platze erschienen, hatte aber, um der Langeweile des Wartens zu entgehen, cantores amant humores, ein Fläschchen Branntwein mitgebracht, aus welchem er sich, von dem heiligen Dunkel des Orchesters schützend umhüllt, fleißig Bescheid that. Er erfüllte bei dem ersten Marsch seine Schuldigkeit vollkommen. Auch den zweiten, bei dem Auftritt der Turandot, führte er noch gut genug aus, nur daß er hier durch einiges Tempo rubato die wenig musikalisch ausgebildeten Beine der marschirenden Statisten einigermaßen wegen des Takthaltens in Verlegenheit brachte. Von da an aber gerieth er durch die letzten Züge aus seiner Flasche in jenen Zustand, in welchem der Mensch, nach Feuerbach's scharfsinniger Auseinandersetzung in seinen Criminalfällen – (siehe die Stelle, wo sie steht –) unzurechnungsfähig wird, – wo der Trunkene sich zwar jedes gegenwärtigen[57] Momentes bewußt ist, von dem vorhergegangenen aber schon Nichts mehr weiß, und an den zunächstfolgenden durchaus nicht denkt. Als nun Turandot pathetisch zu declamiren begann:


Wer ist's, der sich aufs Neu vermessen schmeichelt

Nach so viel kläglich warnender Erfahrung – –


fing unten der Marsch wieder an, denn daß er (Eulenstein) einen Marsch zu spielen habe, saß fest bei ihm, daß er es aber eben gethan, hatte er bereits wieder vergessen. Die erstaunte Prinzessin hielt natürlich mit ihrer Rede an. Genast, das tiefere Princip nicht ahnend, welches den Künstler unten belebte, raunte ihm leise hinab und zu, daß der Marsch noch lange nicht, erst am Schlusse des Actes, zu wiederholen sei.

Das verstand nun Eulenstein im Augenblick vollkommen, und hörte mit Spielen auf. Wäre Turandot, diese Zeit benutzend, gleich und eilig recitirend eingefallen, so hätte sie vielleicht diesmal ihre erste Rede, die ja nur aus fünf Zeilen besteht, ohne weiteres Hinderniß zu Ende gebracht, und das folgende Ungemach wäre über die stärkere Natur des Kaisers Altoum gekommen. Aber die Frauen lernen den Werth der Zeit nie schätzen! Die Künstlerin hielt sich durch Genast's Erklärung vor weiterem[58] Eingriff in ihr Rederecht gesichert, und verlor durch einiges Räuspern und prinzeßliches Inpositursetzen mehrere kostbare Minuten. Was war die natürliche Folge? Daß Turandot bei ihrem zweiten Versuch nicht einmal so weit wie beim ersten kam, daß der zudringliche Marsch ihr jetzt schon nach der ersten Zeile ins Wort fiel und sie wiederum zum Schweigen brachte.

Nunmehr stieg in Genast ein Ahnung auf. Er eilte abermals ans Proscenium vor, und rief jetzt mit stärker betonter Stimme hinunter, zuerst in Allegro-Tempo: »Um Gotteswillen, haben Sie nicht gehört?« alsdann, in Adagio-Tempo übergehend: »Der Marsch kommt erst am Ende des zweiten Actes!« Er sprach die zweite Hälfte in lauter Spondeen um den Gedanken gewichtiger zu machen und tiefer in Eulenstein's Gedächtniß hineinzuschlagen.

Auch diesmal noch begriff Letzterer, was man von ihm begehre, und zog die Hände von dem Klavier zurück. Genast gab darauf der Prinzessin einen Wink, noch einmal anzufangen. In dieser war aber unterdessen eine große Veränderung vorgegangen, sie hatte einen tiefen Fall gethan, – aus ihrer Rolle nämlich heraus, – und zeigte nur noch die höchlichst gereizte Künstlerin. Mit hochrothem Gesicht, eingekniffenen[59] Lippen und leidenschaftlich wogendem Busen dastehend, schien sie mit sich selbst zu kämpfen, ob sie dem Winke Genast's folgen und sich der Möglichkeit einer neuen Einsprache des schrecklichen Marsches aussetzen, oder geradezu von der Bühne gehen solle. Diese Ueberlegung und der Entschluß, es noch einmal zu wagen, nahm allerdings nicht so viel Zeit in Anspruch, als das Lesen hier in der Beschreibung erfordert, aber der Leser wird bereits ahnen! – – kurz – diesmal war ihre erneute Anstrengung von noch geringerem Erfolg, denn kaum hatte sie mit grimmig blitzenden Augen ihre Worte unmittelbar auf den Unheimlichen unten richtend begonnen:


Wer ist's, der sich aufs Neu – –


als der unvermeidliche Marsch ihr auch aufs Neue in die Rede fiel. Bebend, fast weinend vor Zorn, wollte sie diesmal nicht nachgeben, sondern suchte mit immer mehr verstärkter, zuletzt fast kreischender Stimme das schreckliche Tonstück zu übertönen. Aber auch der Spieler unten wollte seinen Marsch endlich einmal zu Ende bringen und trommelte ihn in wildem Sturm-Tempo, und noch dazu durch viele fehlgegriffene Tasten schrecklich zugerichtet und grausiger gemacht, fort und fort – wie toll! –

Goethe hatte wohl die ersten Ausbrüche und Uebergriffe[60] des Virtuosen nicht bemerken mögen. Jetzt aber wurde ihm die Sache doch zu arg, und nur derohalben jupiterte er die furchtbare Phrase herab, die ich so eitel war, auf mich zu beziehen:


»Schafft mir doch den Schweinhund aus den Augen!«


Das Auge der »Sklavin« hat mich niemals wiedergesehen![61]

Quelle:
Lobe, Johann Christian: Aus dem Leben eines Musikers. Leipzig 1859, S. 50-62.
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