V. Noch eine Ahnung.

Ich habe vorstehend schon angedeutet, daß zwischen meiner Stiefschwester Marianne und mir die innigste Liebe bestand; diese ging so weit, daß wir uns weit mehr liebten, als jede von uns ihre rechte Schwester liebte, denn als unsre Eltern sich verheiratheten, brachte Jedes zwei Töchter zu, wovon meine Mutter bald meine jüngere rechte Schwester durch den Tod verlor, so daß ich gänzlich ohne rechte Geschwister blieb.

Marianne war aber auch das sanfteste, beste und liebevollste Wesen, das ich je gekannt habe; sie besaß außerdem Talente und viel Geist; aber die Natur hatte sie verwahrlost und ihr nicht nur einen mißgestalteten, sondern auch einen siechen Körper gegeben. In der frühesten Kindheit hatte man sie einmal fast verbluten lassen, indem man ihr Blutigel legte und dann nicht gehörig darauf sah, daß das Blut gestillt wurde; so fand[121] man sie, dem Tode nahe, am andern Morgen in der Wiege. Durch diesen Umstand hatte sie eine große Schwäche behalten und ihr Leben war bis dahin fast nur durch die Kunst der Aerzte gefristet worden.

Vielleicht trug diese körperliche Schwäche etwas dazu bei, sie so engelssanft und geduldig zu machen, wie sie wirklich war, denn nie habe ich ein Wesen gekannt, das in dieser Hinsicht mit ihr zu vergleichen gewesen wäre.

Nie können aber zwei Kinder einander unähnlicher, sowohl was das Körperliche, als das Geistige anbetrifft, gewesen sein, als wir Beide es waren, und trotz dem liebten wir uns fast mit Leidenschaft. Ich war gesund und kräftig durch und durch; meine Glieder, früh geübt, waren geschmeidig, wie die einer Katze; ich saß am liebsten in den höchsten Wipfeln der Bäume und sang dort mit den Vögeln um die Wette; ich war wild, ausgelassen, heftig, ich ergriff Alles mit Leidenschaft, und haßte und liebte eben so, und Marianne war von Allem das Gegentheil.

Was war es also, das mich so innig mit Mariannen, dem sanften, liebevollen Wesen verband, das nicht einmal die Natur, sondern nur der Zufall mir zur Schwester gegeben hatte? Es war[122] das gleiche, liebebedürftige Herz, das uns zu einander zog, das uns damals noch selbst unklare Gefühl, daß wir einander ergänzten. Marianne bedurfte in ihrer großen Schwäche und Hinfälligkeit so oft meiner physischen Kraft und Gewandtheit, als ich ihrer schönen geistigen Vorzüge bedurfte, ihrer sanften Leitung bei meinem ungestümen Geiste und Charakter, ja, ihres Fürworts selbst, wenn ich dumme, verwegene oder unüberlegte Streiche gemacht hatte, und nie fehlte es ihr bei den Eltern an Entschuldigungen für mich, oft schonte man auch meiner, nur um sie nicht zu betrüben. Dann hatte ich ihr durch meine physische Kraft und meine Geistesgegenwart auch einst das Leben gerettet, und so etwas bindet. Sie gerieth, als wir zusammen zu einer Stunde gingen und um eine Gassen-Ecke bogen, zwischen die Pferde eines uns entgegenkommenden Wagens, ich aber ergriff sie mit einer Kraft, die mir nur die Angst des Augenblicks verleihen konnte, und zog sie zurück, als sie bereits zur Erde gefallen und in Gefahr war, von den Rädern des Wagens zermalmt zu werden. Das konnte sie mir nie wieder vergessen, so gering auch im Grunde mein Verdienst bei der Sache war.

Die Verhältnisse im Hause meines Stiefvaters[123] hatten sich indeß so gestaltet, daß ich, die ich mich gesund und kräftig fühlte, auch wohl unterrichtet war, nicht länger in demselben bleiben konnte, ohne einem Manne zur Last zu fallen, der schon so viel für mich gethan hatte, indem er Tausende an meinen Unterricht verwendete. Mein Stiefvater hatte durch die Zeit-Umstände sein einst so großes Vermögen eingebüßt, und ich wollte ihm nicht länger zur Last sein, weshalb ich mir eine Stelle als Erzieherin suchte und sie in einem Provinzial-Städtchen fand.

Marianne, die kränker und schwächer denn je war, blieb zurück. Ihren Schmerz über die Trennung von mir wage ich nicht zu beschreiben. »Ich kann Dich nicht lassen,« rief sie, mich immer wieder umschlingend, als schon der Wagen vor der Thür stand, die mich meinem neuen Bestimmungsorte zuführen sollte, »mir ist immer, als sollte ich Dich nicht wieder sehen!«

Ich riß mich endlich von ihr los und sie warf mir einen letzten Blick in den Wagen nach, in dem ihre ganze liebevolle Seele lag – ach! es war der letzte, den ich von ihr empfing! Nie wieder sollte dieses schöne, seelenvolle Auge auf mich blicken, nie sollte ich den sanften Ton der Stimme wieder hören, die mich so oft zum Guten ermahnt hatte,[124] die mir so liebevoll zuredete, wenn die Heftigkeit meines Charakters mich zu Unbesonnenheiten hinreißen wollte!

Ein Jahr war indeß seit unserer Trennung verflossen, und noch waren Mariannens trübe Ahnungen nicht in Erfüllung gegangen. Sie schrieb mir oft und viel und klagte nie über ihre Gesundheit. Da blieben auf einmal ihre Briefe aus, und statt derselben erhielt ich einen von der Mutter, die mir schrieb, daß Marianne bedenklich erkrankt sei und der Arzt für ihr Leben fürchtete. Diese Nachricht versetzte mich in Verzweiflung und ich würde auf der Stelle nach Hamburg zurückgekehrt sein, wenn mir meine Pflichten dies erlaubt hätten. Der Zufall wollte nämlich, daß die beiden Leute, deren einzige Tochter ich erzog, eine kleine Reise machten, als ich diesen Brief empfing, und mir so nicht nur die Sorgfalt für das mir anvertraute Kind oblag, sondern zugleich auch die für das sehr große Hauswesen, das man mir übergeben hatte.

Groß war daher meine Freude und Beruhigung, als mir der nächste Posttag – es war an einem Freitage – einen Brief von Mariannens eigener Hand brachte. Er enthielt zwar nur einige wenige Zeilen, die sie noch im Bett geschrieben[125] hatte, aber sie gaben mir die feste Zusicherung, daß es weit besser um sie stehe, und sie zu genesen hoffe.

Dieser süßen Hoffnung gab auch ich mich hin. So kam der nächste Dienstag heran. Es war am 20. März und die Sonne schien schon hell und warm von einem hohen, tiefblauen Himmel herab; sie erhellte mit ihren goldenen Strahlen auf eine anmuthige Weise den Arbeitstisch, neben dem ich mit meiner Elevin saß. Da schlug die im Zimmer befindliche Uhr elf; Minna, so hieß das liebe Kind, legte das Schreibzeug bei Seite und nahm aus dem Bücherschranke die »Minona« von Glatz hervor, weil um 11 Uhr unsre Lesestunde, nach der Tabelle, anging. Sie schlug eine Geschichte darin auf und begann zu lesen; sie war sehr traurig und es kam nicht nur eine Sterbescene, sondern auch das Lied darin vor:


»Auferstehn, ja auferstehn

Wirst du

Mein Staub nach kurzer Ruh.« u.s.w.


Kaum hatte Minna dieses Lied zu lesen begonnen, als ich mich von einer Traurigkeit ergriffen fühlte, die ich nicht zu beschreiben wage. Es war mir, als wäre die ganze Welt auf meine Brust[126] gesunken, und krampfhaft zog sich mir das Herz in derselben zusammen.

– »Ich weiß nicht, wie mir ist,« sagte ich aufstehend zu dem Kinde, das mich mit Erstaunen ansah; mit diesen Worten ging ich in meine Kammer, setzte mich auf eine Fußbank und lehnte das Haupt auf einen Stuhl; unaufhaltsam flossen meine Thränen.

Hier blieb ich bis es zwölf schlug; dann fühlte ich mich etwas erleichtert, aber noch nicht im Stande, den Unterricht fortzusetzen, weshalb ich Minna vorschlug, bis zur Mittagszeit einen Spaziergang mit mir zu machen, wozu das Wetter einlud und wovon ich Erheiterung für mein seltsam beklemmtes Herz hoffte.

Wir traten die Wanderung an; das Wetter war herrlich, die Luft so rein, so frisch, so erquickend; die Lerchen wirbelten von den bereits grünen Saat-Feldern empor; hie und da zeigten sich schon Pflänzchen, die fröhlich empor schossen, um den nahenden Frühling zu bekränzen; die Sonne war so warm, so golden; kurz, es war einer jener schönen, ahnungsvollen Tage, die man so liebend und so gern in der Erinnerung bewahrt; aber auf meine, sonst für alles Dieses so empfängliche Seele machte dies keinen Eindruck und sie[127] blieb bedrückt und verstimmt, wie zuvor; ja selbst das fröhliche Geplauder des Kindes, das ich sonst so gern hörte, belästigte mich, indem es mich in meinen finstern Träumen störte.

So war es zwei Uhr geworden und wir mußten zum Mittags-Essen zurückkehren. Kaum war ich in das Haus getreten, so kam mir Madame S., die Mutter meines Zöglings, mit der Nachricht entgegen, daß ein Bote zu Pferde für mich aus Hamburg da sei und mir einen Brief abzugeben habe. Ein heftiges Zittern ergriff mich bei dieser Anzeige und ich fühlte mich einer Ohnmacht nahe.

Meine Befürchtungen waren nur zu sehr begründet: Marianne lag, als der von meinem Stiefvater mit einem Boten gesandte Brief abging, im Todeskampfe, und man meldete mir, daß sie, die ihren Tod wisse, nicht sterben könne, bevor sie mich noch einmal gesehen habe. Nach einer Stunde saß ich im Wagen, und früh am andern Morgen, mit dem ersten Strahl des Tages, erblickte ich das elterliche Haus.

Ich kam zu spät – sie war nicht mehr! Vergebens hatte sie ihre rechte Schwester, die an ihrem Sterbebette saß, aufgefordert, ihr meinen Namen zuzurufen, wenn sie »einschlafen« wolle,[128] damit sie noch so lange am Leben bleibe, bis sie mich gesehen und gesprochen, denn sie habe gehört, daß Sterbende auf diese Weise das schon entschwindende Dasein noch auf eine Weile festhalten könnten. Die Schwester hatte diesem Befehle Folge geleistet und sie mehre Male aufgerufen, wenn sie die todtmüden Augen schließen wollte; dann hatte sie gesagt:

– »Du hast Recht – ich kann noch nicht sterben, ich muß Sie ja noch erst sehen, Ihr ein ewiges Lebewohl sagen!«

So war es bis zum Dienstag Morgen elf Uhr geblieben; dann sagte sie:

– »Jetzt kann ich nicht mehr – ich bin zu müde! Grüße Sie tausend Mal und sage Ihr, wie ich Sie geliebt habe, bis in den Tod! – Und nun lies mir das schöne Lied vom ›Auferstehen‹ – dabei will ich einschlafen.«

Man hatte dies gethan – und unter diesem Liede, und in eben der Stunde von 11 bis 12, war sie hinübergeschlummert!

Das nachstehende Sonnet bezeichnet sowohl dieses Ereigniß, als meine damaligen Gefühle; ich dichtete es neben ihrer theuren Leiche:
[129]

Als ich Sie schon gestorben fand.

Als Dir erschien die bittre Todesstunde,

Da riefst Du mir, die ich Dir ferne weilte,

So sehnend, daß mein Herz sich spaltend theilte,

Und schon mir Ahnung schlug die blut'ge Wunde.

Mit welchem finstern Geist war Tod im Bunde!

Ich hört' ihn nicht, so angsterfüllt ich eilte,

Den Liebessegen, den Dein Mund ertheilte,

Und Fremde gaben mir davon nur Kunde.

Nur die erstarrten Lippen konnt' ich küssen,

Mein Herz erleichtern nur mit Thränengüssen,

Die ach! auf Deine unbeseelte Hülle flossen!

Fest blieb Dein theures Auge zugeschlossen.

Bald hätt' ich so beim Tod' Mitleid erreget,

Daß er zu Dir mich in den Sarg geleget.


Wie wollen nun Die, welche die Ahnungen verspotten, es sich erklären, daß eben das Lied, in eben der Stunde von mir gehört, in der Sie es sich sterbend vorlesen ließ, einen so schrecklichen Eindruck auf mich machte, die ich von dem mir bevorstehenden schmerzlichen Verluste nichts wußte?[130]

Quelle:
Schoppe, Amalia: Erinnerungen aus meinem Leben, in kleinen Bildern. Altona 1838, S. 119-131.
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