Lyrik

[38] ist ein spontanes Sommervergnügen. Im Sommer wird viel gelyrikt. Die Sonne (Wonne), die Blumen (Muhmen), die Schmetterlinge (Götterdinge), die hellen Hosen (Gesellen kosen), die saure Millich (saure willig), die Mücken (Entzücken) u.s.w. verführen fortwährend zum Dichten. Man bleibe ihm ferne und überlasse es anderen, zu beweisen, daß sie keine Dichter sind.

Trifft man einen Jüngling, der lyrische Gedichte an Zeitungen schickt, so unterschätze man sein Talent nicht, Frankomarken wegzuwerfen.

Will er die Gedichte vorlesen so sage man, man komme gleich wieder, gehe dann aber auch gewiß fort.

Hat man eine Dichterin vor sich, so bitte man sie, einen Knopf am Handschuh festzunähen, um sich davon zu überzeugen, daß sie auch dies nicht kann.

Ist der junge Dichter ein realistischer, so schreibe man einige Beileidszeiten an seinen Vater oder Vormund. Seine Gedichte, von denen man noch kein einziges kennt, kennt man bereits von anderen jungen Dichtern und braucht sie deshalb nicht zu hören oder zu lesen.

Wird man mit einem Band moderner Dichtungen[38] beschenkt, so nehme man ihn mit Dank an und lasse ihn, wenn man Kinder hat, nicht frei herumliegen. Kinder und Buch könnten verdorben werden, erstere aber schlimmer.

Bekommt man selbst das Dichten, so bekämpfe man es, um unbescholten zu bleiben. Thut man dies nicht, so wird man es bereuen, wenn es zu spät ist. Denn dann kann man es sich nicht wieder abgewöhnen, wie das Trinken, obschon es schon vorgekommen ist, daß Trinker von diesem Laster befreit worden sind. Aber der Lyriker dichtet unheilbar.

Beneidet man einen Dichter, so treibe man den Neid nicht so weit, daß man ihm nachdichtet. Man kann es vielleicht nicht so schlecht.

Will man sich bei Männern von Geschmack beliebt machen, so kaufe man sich ein gebundenes Exemplar des Reimlexikons und benütze es nicht.

Hat man eine größere Menge moderner Gedichte verfaßt und will sie unter dem Titel »Flügelroßkastanien«, »Buch der Liederlichkeit« oder einem andern an einen Verleger schicken, so versäume man nicht, einen höheren Wert des Inhalts anzugeben. Vielleicht geht das Paket verloren, und man bekommt den angegebenen Wert von der Post ersetzt. Es ist in vielen Fällen für den Dichter ein großer Gewinn, wenn seine Gedichte verloren gehen.

Einer großen Beliebtheit, vorzugsweise wegen der Übertragung der Kosten auf die Eingeladenen, erfreut sich das


Quelle:
Stettenheim, Julius: Der moderne Knigge. Berlin 1905, Bd. II, S. 38-39.
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