Die Nachkommen des Pontius Pilatus

[220] Die Eltern hatten das Begerhaus auf einige Wochen verlassen. Sie waren mit dem Schwesterchen ins Bad gezogen, hatten mich jedoch nicht mitgenommen, damit der Unterricht beim Pastor nicht gleich wieder ins Wasser fiele. Ich blieb in Kost und Wohnung bei den Besitzern des Weinbergs, zwei steinalten Fräuleins von Poncet, die mit einem greisen Bedienten und einer ebenfalls alternden Pflegetochter Winter und Sommer auf ihrer ländlichen Besitzung hausten.

Alle vier zusammen mochten diese würdigen Menschen etwa dreihundert Jahre alt sein; aber auch in heraldischer Beziehung gehörte die Familie zu den ältesten. Die Poncets stammten angeblich aus altrömisch konsularischem Geschlecht, führten einen Legionsadler im Wappen und ihren Stammbaum zurück bis auf Pontius Pilatus. Gewiß schien, daß sie seit unvordenklichen Zeiten in der Gegend von Marseille, dem traditionellen Verbannungsorte ihres berühmten Ahnherrn, ansässig gewesen. Später ihres Kalvinismus wegen landesflüchtig, hatten sie sich nach Genf gewandt, und von dort war schließlich der Vater meiner lieben alten Fräuleins als Uhrmacher und Juwelier in Dresden eingewandert. Er muß ein ausgezeichneter Mann gewesen sein, wenigstens wußte er die Aufmerksamkeit des Hofes in so hohem Grade auf sich zu ziehen, daß der damalige Kurfürst und König von Polen, August III., ihm nicht nur die Aufsicht über das Grüne Gewölbe anvertraute, sondern ihn auch zum Geheimrat machte und mit einem adligen Gut in Polen belehnte.[220]

So war Herr von Poncet zu Ansehen und Reichtum gelangt; aber das Glück hielt ihm nicht stand. Unfälle verschiedener Art, die polnischen Kriege, vor allem die Krankheit jener Zeit, das trügerische Forschen nach dem Stein der Weisen, dem er mit Leidenschaft oblag, hatten ihn nachgerade so heruntergebracht, daß er als armer Mann gestorben war. Der sehr verschuldete Weinberg, auf welchem jetzt die letzten Reste der Familie ihrem Ende entgegenwelkten, war alles, was er den Seinigen hinterlassen hatte.

Das Haus, das meine Pflegemütter bewohnten, lag etwa vierhundert Schritte abwärts vom Begerhäuschen. Es war von dem alten Geheimrat für die Bedürfnisse einer zahlreichen und vornehmen Familie hergestellt und fand sich noch jetzt mit einer Fülle altmodischer und kostbarer Möbel ausgestattet. Die Ahnenbilder an den Wänden in verschnörkelten Goldrahmen, die Schränke und Tische von Nußbaum mit zierlich eingelegter Arbeit, die großen venezianischen Spiegel, in facettiertes Glas gefaßt, und anderer kostbarer Hausrat gaben Zeugnis von dem ehemaligen Wohlstand der Familie.

Mir gefiel es gar wohl unter diesen alten Sachen und Menschen, die mir keinerlei Zwang antaten. Ich durchstöberte nach Belieben Keller und Bodenräume, besorgte die Kirschbäume nach Herzenslust und verschmierte Küche und Geschirr mit Kleister, Kohle, Salpeter, Schwefel und Schießpulver, um Feuerwerke zu bereiten, mit denen ich die Hausgenossen erfreuen wollte. Noch heute begreife ich die Herablassung der alten Damen nicht, mit der sie mir eines Abends in Mänteln und Kapuzen vor die Haustüre folgten, um die mageren Funken zu bewundern, die ich sprühen ließ.

Den Beschluß des Vergnügens sollte das Abbrennen einer großen Pulverschlange machen. Da aber die Masse, die schon einige Zeit auf der feuchten Erde gelegen, nicht gleich Feuer fangen wollte, so ließ ich aus meinem Pulverhorn noch etwas trockenes Pulver auf den glimmenden Zunder laufen. Ein bedeutender Knall! Ich ward von unsichtbaren Händen mit solcher Vehemenz zu Boden geschleudert, daß mir Hören und Sehen verging.

Die erschrockenen Zuschauer waren herbeigeeilt, mich toten Leichnam aufzuheben; aber siehe da, ich atmete, die Besinnung kehrte bald zurück, und kein Finger tat mir weh. Die Festigkeit des aus einer Kokosnuß bestehenden Pulverhornes hatte mich gerettet, es war nicht gesprungen, nur der aufgeleimte Abguß war abgeflogen. Anderen Tages fand ich beide Teile unversehrt im Weinberg wieder, und zwar zu meiner großen Befriedigung, da besagte Pulvernuß als eigene Arbeit des Harmschen Großvaters sehr wertgehalten wurde. Mein Vater hatte[221] sie mir nebst einer alten Sattelpistole hinterlassen, um die Sperlinge damit aus den Kirschen zu schrecken; aber damit war's nun aus, wie auch mit allem Feuerwerkern, da das Pulver natürlich bis auf das letzte Korn verpufft war.

Die guten alten Fräuleins ließen mich den Schreck, den ich ihnen verursacht hatte, in keiner Art entgelten. Sie sagten mir kein böses Wort, bedauerten mich vielmehr nur wegen meines Un- und Umfalles, wie denn eine ganz ungemeine Herzensgüte der hervorstechendste Zug in den Charakteren der sonst sehr verschiedenen Schwestern war. Die älteste, Fräulein Fritze, trug, obgleich tief in den Achtzigern, immer noch die Spuren großer Schönheit. Außerdem war sie ziemlich stark, ziemlich nachlässig in Anzug und Manieren, ziemlich hinfällig und sehr pflegebedürftig. Gewöhnlich saß sie still in ihrem Lehnstuhl, den Klemmer auf der Nase, las Ritterromane oder schlief. Gelegentlich konnte sie freilich auch recht gesprächig werden; dann duzte sie jedermann wie ein Lateiner oder Tiroler und war überraschend derb. Ihre Gäste forderte sie zum Fressen und zum Saufen auf, nannte den sehr förmlichen Herrn Pastor »lieber Junge!« und die fünfzigjährige Pflegetochter »Wettermädel!« Von sich selbst pflegte sie, eine Prise nehmend, nicht ungern zu bekennen, daß sie in ihrem ganzen Leben nicht das geringste gelernt habe und doch nicht dümmer sei als andere Schafsköpfe auch.

Als ganz besonderer Liebling ihrer schwachen Eltern war das gute Mädchen möglichst mit dem verschont geblieben, was man Erziehung nennt. Man hatte sie tun lassen, was ihr beliebte, und es beliebte ihr, den Kopf nicht anzustrengen. Anstatt ihren Lehrern standzuhalten, hatte Fräulein Fritze es stets vorgezogen, sich in Küch' und Keller umzutreiben, hatte die Betten gemacht, am Waschtroge gestanden und den Mägden scheuern geholfen. Mit besonderer Passion aber hatte sie sich vergnügt, des Morgens in der Frühe, wenn alles noch schlief, die Gasse vor der Haustüre zu kehren, bei welcher Beschäftigung sie von einem in der Nähe wohnenden königlichen Pagen, dem jungen Grafen Marcolini, bemerkt worden war. Diesem hatte das wunderhübsche Mädchen wohlgefallen, er hatte sich zu ihr gesellt, hatte ihr den Kehricht weggeräumt, mit ihr gelacht, sich von ihr schelten lassen und[222] schließlich damit geendet, ihr einen Kuß zu rauben, wofür sie ihm ihrerseits eine schallende Ohrfeige versetzte, die ihr noch in ihrem hohen Alter wohltat.

Inzwischen beruhigte dies den Grafen nicht, und da er sein Mädchen des Morgens nicht mehr auf der Straße fand, so wußte er sich im Hause einzuführen, wo er endlich förmlich um sie anhielt. War er auch mittellos zurzeit, so konnte ja noch alles aus ihm werden, was er zu seinen Gunsten anzuführen nicht verfehlte. Aber trotz dieser bestechenden Aussichten hatte der Geheimrat von Poncet doch nichts anderes zu erwidern, als daß es ihm ganz gleich sei, ob er seine Tochter in die Elbe würfe oder an den Hals eines Habenichts von Pagen, und wenig fehlte, daß er dem unzeitigen Bewerber zur Treppe hinuntergeleuchtet hätte.

Dieser war dermaßen beleidigt, daß er von nun an nicht allein das Poncetsche Haus mit keinem Fuße mehr betrat, sondern nicht einmal mehr zum Fenster hinaussah, wenn Fräulein Fritze vorbeiging. Er wuchs aber rasch in der Gunst des Königs, stieg von einer Würde zur anderen, bis er endlich allmächtiger Minister war und König und Land beherrschte. In gleichem Verhältnis sank Poncets Stern immer tiefer durch Dämmerung zur Nacht, und zwar, wie die Familie vielleicht mit Unrecht annahm, nicht ohne feindliches Bemühen des zurückgewiesenen Freiers. Es kam so weit, daß Fräulein Fritze es für ein Glück erachten mußte, an einen Landgeistlichen mit Namen Scholz verheiratet zu werden. Sie hätte somit füglich Frau Pastorin heißen mögen; aber schon so lange war sie Witwe, daß man sich ihres Mannes gar nicht mehr erinnerte. So passierte sie dennoch immer noch als Fräulein Poncet und nahm's nicht übel, wenn man sie so nannte, ebensowenig als dies die Pflegetochter Fräulein Male tat, welche auf den Familiennamen wahrscheinlich gar keinen Anspruch hatte.

Von ganz verschiedenem Gepräge war die etwas jüngere, noch in den Siebzigern stehende Schwester, Fräulein Lore. Sie hatte eine leichte, zierliche Gestalt, ein feines Benehmen und war die personifizierte Sauberkeit in Kleidung, Worten und Werken. Immer heiter, fleißig und geschäftig, führte sie das Hauswesen, teilte sich mit Male in den Dienst der oft sehr wunderlichen Schwester und bediente sogar den uralten Bedienten, der als väterliches Erbteil in Ehren gehalten wurde, aber niemanden mehr bedienen konnte. Fräulein Lore hatte den Unterricht im väterlichen Hause besser benutzt als ihre ältere Schwester. Sie war mehrerer Sprachen mächtig und wohlbewandert in verschiedenen Wissenschaften. Durch Selbststudium wie durch häufigen Verkehr mit Ärzten, die sie vor anderen Gelehrten schätzte und, wo sie ihrer habhaft[223] werden konnte, nach Kräften auszubeuten pflegte, hatte sie sich schon als junges Mädchen eine Menge medizinischer Kenntnisse erworben, die sie bis ins hohe Alter zu erweitern strebte. Aus Kräutern, die sie selbst sammelte, bereitete sie Salben, Latwergen, Tränkchen und Essenzen und gab sich mit warmer Menschenliebe einer ausgebreiteten und völlig uneigennützigen Praxis hin, zu welcher sie sich durch das Vertrauen der armen Winzerbevölkerung, in der sie lebte, berechtigt und berufen fühlte. Quacksalbern würde man es heute nennen und ohne weitere Rücksicht auf den Ausfall vielleicht verbieten. Fräulein Lore blieb indessen unangefochten und hatte so treffliche Erfolge, daß die in schweren Fällen von ihr selbst herbeigerufenen Ärzte ihr das kluge Verfahren dankten, mit dem sie in der Regel schon vorgearbeitet hatte. Aber nicht nur bei leiblichen Unfällen – sie wurde überall zu Rate gezogen, wo Rat und Hilfe not taten; sie war die gute alte Fee der ganzen Gegend, unendlich verehrt von allen, die sie kannten, und schwerlich gab es einen Menschen in den Loschwitzer Bergen, der das gute Fräulein Poncet nicht gekannt hätte.

Quelle:
Kügelgen, Wilhem von: Jugenderinnerungen eines alten Mannes. Leipzig 1959, S. 220-224.
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