33. Der hohe Typus*

Kluge und klare Denker sprechen heute im Ernst die Befürchtung aus, daß der Krieg dem Katholizismus die Macht geben wird.

Wir zweifeln nicht, daß allein die reaktive Kraft der Kirche den ersten Rückschlag des Kriegstaumels, der kriegerischen Wildheit der Völker, aufzufangen vermag. Wir werden in nächster Zukunft als unmittelbarste Wirkung des Krieges einen Triumph der Kirche, ihre zeitweise Erhöhung erwarten dürfen. Wir werden der Kirche sogar dankbar sein für die reaktive Hilfe und Heilung, die sie den gemarterten und aufgeregten Massen bietet. Aber wir dürfen nicht mißverständlich eine Folge des Krieges nennen, was nur eine Ausgleichsbewegung, ein Pariren des zurückgleitenden Stoßes ist.

Die erneute Tätigkeit und Aktualität, die der Kirche für diesen Moment zusteht, birgt freilich die Gefahr in sich, daß die Kirche ihre beruhigende, bergende Kraft zu einem eigenen Vorstoß, zur Befriedigung ihres weltlichen und, was noch schlimmer ist, geistigen Machtwillens ausnutzt.

Wir leugnen nicht die Gefahr, daß es dazu kommen könnte. Die katholische Kirche sieht heute mit unheimlichem, wir fürchten, nicht ganz redlichem Schweigen dem blutigen Ringen zu. Ihre apostolische Klage klingt nicht aufrichtig; sie sieht allzu begierig die Ernte, die ihr reift.

Die eine Gefahr, die die Frucht der französischen Revolution verdarb, politische Großmannssucht, droht diesmal Europa nicht, solange wir Deutsche den Sieg in der Hand halten. Aber der Vergleich von heute und damals ist, zum Trotz der ganz veränderten Zeiten, doch nicht ohne tieferen Sinn; denn was sich damals im engeren Kreise des französischen Kulturstaates abspielte, erscheint als ein paradigmatisches Vorspiel des heutigen großen europäischen Bürgerkrieges. Dem tieferen Nachdenken erklärt sich das Blutvergießen von damals und heute als opfermutige, todesfreudige Ausbruchsversuche des Europäers, der sich aus den schlechten, – nicht so sehr materiell, als seelisch schlechten Spannungsverhältnissen, befreien wollte. Was damals erst nach dem Empire auftrat, die Reaktion der Kirche, steht heute wohl unmittelbar bevor. An unserer Wachsamkeit wird es liegen, der Kirche in den Arm zu fallen, wenn sie versuchen sollte, aus der notwendigen Reaktion, die sie von der Ermüdung der Welt auffängt, einen neuen Feldzug ihrer Machtgelüste zu gewinnen. Aber es wäre des Europäers unwürdig, Furcht und Unruhe vor der Zeit zu zeigen und demagogisch Alarm in eine Menge zu tragen, die wir nur beunruhigen, aber nicht zu unsern fernen Zielen sammeln können.[168]

Die ungeheure Energiewärme, die dieser weltgeschichtliche Krieg erzeugt hat, muß sich einmal nach dem Gesetz der Erhaltung der Energie in latente Wärme abwandeln, – denn mehr, oder anderes bedeutet die Religiosität von heute nicht. Jeder Versuch, diese physikalische Logik der Geschichte zu kreuzen, müßte eine schädliche Zerstreuung der geeinten, ausruhenden Energien zur Folge haben. Lassen wir der Kirche, was der Kirche gebührt, – heute noch gebührt.

Niemand denke, daß mit solcher Zurückhaltung der Sinn und Wert des Blutopfers, das die Welt bringt, verloren ist. Die Reinigung geht vor sich; das alte Gift wird mit dem Blute ausgegossen. Aber laßt dem erschöpften Volke seinen Frieden nach dem Kriege, jeden Frieden, den es haben will.

Nur der Einzelne kämpft weiter, der Geistige, dessen Typus im Kriege gestählt ist.

Die riesenhafte Bewegung der Massen schuf eine Atmosphäre, in der die Funken weniger wirklicher Gedanken sich entzünden konnten. Wenn diese gelingen, kann die große Bewegung ruhig zurückfluten in ihr altes Bett und ihre Zeit in Ruhe erwarten. Ihr ungeheurer Aufwand war nicht umsonst. Was ist Aufwand! Die Natur rechnet nicht kaufmännisch, sondern schöpferisch. Um einen einzigen Gedanken zu gebä ren, müssen Welten kreißen. Denn dieser Gedanke gebiert selber wieder eine Welt.

Hoffentlich versteht man mich so weit, daß ich hier nicht auf politische Gedanken abziele und unter den schöpferischen Menschen nicht die Politiker verstehe, die meinen, mit ihrer Politik den Weltengang regulieren zu können. Diese Agenten der guten Gelegenheit machen nicht Weltgeschichte und wenn sie selbst mit Staaten Fangball spielen. Sie sind Meister des Ausgleichs. Ihre Aufgabe ist, die Massen zu formiren, zu ›uniformiren‹ und als gutes Werkzeug einem höheren Willen in die Hand zu geben. Ihre Tätigkeit ist auf die Massen gebannt und bestimmt nicht das höhere Schicksal des Menschen. Weltgeschichte ist aber nach unserem Sinn die Geschichte des erkennenden, Weltdunkel erhellenden Menschen; wir kennen nur Entwicklung des Einzeltypus, des hohen Typus, dessen Ziel heute ›Überwindung der Natur‹ heißt, ihre Entlarvung, Entwertung.

Ich sinne beständig nach, wie ich am eindringlichsten den Geist meiner Zeitgenossen auf den besonderen Sinn dieser Worte, die so schnell gesagt sind und so leicht zu wiegen scheinen, richten könnte; denn alles liegt daran, daß der Mensch der vordersten Linie, der gute Europäer, den Geist der Stunde, seiner Stunde, erkennt, damit die große Gedankenernte aus diesem Kriege nicht vertan ist.[169]

Was dieses geheime Gedankenziel ist?

Das Reißen der Ketten, die Typusvollendung, der geistige Sieg des Europäers.

Der Weg zu diesem Ziel führt steil und heimlich durch Jahrtausende. Der erfinderische Mensch, der diesen gefährlichen Weg inmitten von Hemmungen schlich, erfand sich einst den Begriff ›Natur‹ als Verlegenheitsformel, um sich im ›Außen‹ zu erkennen; er umging das schwermütige, rätselhafte Ich durch seine Projektion in die Natur. Die Naturgesetze sind nicht nur in jenem allgemeinen, schopenhauerischen Sinne anthropomorph, daß diese Gesetze immer nur Kinder unsrer Sinnesorgane sein können, sondern in jenem besonderen Sinne, daß der künstliche Außenbegriff Physik sich eines Tages restlos auflösen wird, um ganz ungeschriebene Bewußtheit, Psyche zu werden und völlig in's Menschliche zurückzukehren. Lange genug schon beharrt der Mensch bei jenem kühnsten Dualismus, um durch Ausschalten seines Selbst zum ›exakten Wissen‹ über sich zu gelangen und die trügende Natur gefangen zu nehmen, die ihm so lange Jahrtausende den Blick hinter die Welt, in den Rücken der Gottheit gewehrt hat. Die Welt›an‹schauung der alten Welt, wird zur Welt›durch‹schauung der neuen Welt.

Zu diesem freien letzten Kampf müssen die schweren Ketten, die den europäischen Menschen an seine Vergangenheit schmieden, zerrissen werden.

Dazu war der Krieg.

Der Krieg rührt wie ein Zauberer alles Schlummernde, Ungesagte, auf; er wird zum Maß aller Dinge; jedes Ding und jeder Gedanke bekommt durch ihn die Größe oder Kleinheit, die er verdient. Jetzt ist die Stunde, in der alle Werte neu gemessen werden, und die Gedanken ihre neue, freie Form bekommen.


Der Europäer, auch der Edelste und Feinste, würgte seit langem wie ein Erstickender an seiner Vergangenheit. Alles zerfiel ihm, dem bestwollenden Europäer, in Stückwerk, alles blieb immer ›beim Alten‹, trotz des ›Fortschritts‹. Man lief und lief mit langen Schritten ereignisreich wie im Traum und blieb doch immer an der alten Stelle.

Da kam die Idee des großen Krieges über den Europäer, diese furchtbare einzige Idee, die von nun an seine schweren Träume beherrschte. Immer vertrauter wurde sie ihm. Er baute unablässig an ihr; sie wurde seine Dichtung. Noch nie ist eine Tat mit größerem Eifer vorbereitet und durchdacht worden. Nie war die Einmütigkeit der Europäer geschlossener als in der Idee dieses Krieges. Nie noch war eine Tat so völlig unabwendbar wie diese geworden, durch den selbstmörderischen Willen aller, sie zu tun.[170]

Wenn sich heute keine Männer finden, die den Krieg in diesem tieferen Willenssinn verstehen, war die ganze Riesengeste, der Elementekampf umsonst, und wir sind ärmer, als zuvor. Doch liegt es im Gesetz jeglicher großen Entwicklung, daß die Masse den hohen Verlauf ihrer Typusvollendung nicht erraten darf, um die reine Entwicklung nicht zu hemmen. Der gemeine Europäer sieht die exakten Wissenschaften nur unter dem Gesichtspunkte des Positivismus und der Nützlichkeit an. Dieser uralte Deckbegriff des Nutzens umschließt vollständig das Denken der Menge und grenzt es hart von den höheren Wahrheiten ab. Die angewandten Naturwissenschaften sind der harmlose Zeitvertreib der Menge, ihr ›Fortschritt‹. Sie merkt nicht, daß sie dabei immer stehen bleibt, denn jeden sogenannten Fortschritt tauscht sie gegen den Verlust einer alten intuitiven Fähigkeit ein.

In Wirklichkeit bedeuten die Wissenschaften etwas ganz anderes: die Entgötterung der Welt, den Menschen an der Stelle Gottes.

Alles Geschehen auf dieser Welt trägt dies Doppelgesicht; es giebt nichts Doppelzüngigeres als die Geschichte. Ja, es giebt keinen großen Begriff, der nicht zwiefach wäre und nicht nach unten läge, um einer höheren Wahrheit willen.

Je größer ein Ereignis ist, wie dieser größte aller Kriege, um so riesiger ist die Folie, die die Menge braucht, um sich in das Ereignis zu fügen, und um so heimlicher und geistiger ist sein inneres Ziel.


Wir sind daher weit entfernt, die für jeden Kurzsichtigen desperate Haltung der deutschen Kunst und Literatur während und voraussichtlich auch nach dem Kriege, sowie dessen unzweifelhaften religiösen Rückschlag, tragisch zu nehmen und als besonders schlechtes Omen zu deuten. Gewiß ist es wenig erhebend, wenn uns im Felde Stehenden Bilder und Heimatklänge erreichen, die wie eine Parodie auf unsre soldatische Kühle und Mannbarkeit wirken. Aber wir haben im Felde viel gelernt. Die radikale Mischung aller Bevölkerungs- und Bildungsschichten im Einerlei des Feldgrau, die große Männerversammlung des Krieges hat unser Gefühl für die wahren Schichten, auf denen ein Volksganzes aufgebaut ist, sehr geschärft. Das Volk hat einen sicheren Instinkt für seine Lage; es orientiert sich meisterhaft am Weltbilde und schneidet sich mit sicherer Hand die Bilder heraus, die ihm etwas sagen; es läßt sich in seinem Patriotismus ebensowenig irre machen, als in seiner Musik und seinem Bildungsstolz. Es glaubt der Kirche nicht mehr, als ›nötig‹ ist. Die Volksseele sollen wir so wenig betrüben, als ein Kind, – das lernt man im Kriege. Wir lernen, mit unsern Problemen nicht im Lande umherzurennen und billige[171] Lösungen anzupreisen, sondern feine und gefährliche Pfeile nur auf feine und ferne Ziele abzudrücken.

Die Menge lernt willig und begierig. Wie gern und mühelos tauscht sie europäisches Wissen gegen mittelalterlichen Glauben ein; aber wie sie dieses Wissen umsetzt, auf ihr eigenes Leben und auf die Welt anwendet, das überlaßt ihr selbst. Wir sollen zu der Menge nicht aus unsrer Schule schwatzen. Je enger wir den Kreis begrenzen, dem wir uns mitteilen, je behüteter das geheime Ziel ist, desto sicherer reift die Frucht unsrer Gedanken und Hoffnungen, von keinem vorweisen, hastigen Unverstand belastet.

Die Menge folgt langsam und von selbst, ja meist schneller, als wir ahnen. Wie schnell und vorschnell, viel zu schnell hat das französische Volk Voltaire begriffen; völkischer Unverstand überstürzte die Entwicklung und verdarb vieles, fast alles.

Voltaire ist wohl nicht schweigsam genug gewesen.

Kant war der große Schweiger seiner Zeit. – Seine ehernen Gedanken schweben noch immer über dem deutschen Volk einer Zukunftsferne zu.

Nietzsche war offener, aber er verstand es, die Menge abzuschrecken und die große Distanz zu halten.

Das Volk hat heute seinen guten Glauben an seinen großen Krieg und Sieg. Das Schicksal bewahre es vor finstern Demagogen, Monisten, Modernisten und Stilisten. Sie verderben die gute Zukunft der Deutschen, die Zukunft des guten Europäers.

Die Menge soll nicht ahnen, welchem Ziele die exakten Wissenschaften zusteuern; daß sie tötlich sind allem, was ihr heute noch heilig und bekannt und nötig ist. Das Wissen, das uns jeden Tag um Wüstenstrecken vorwärts reißt, das alles auflöst, was ehedem fest war, ist ein gefährliches Geheimnis der Wenigen. Der Mensch, der vorderste Mensch wird plötzlich frei und beginnt zu schweben und seine Richtung und Begrenztheit selber zu bestimmen. Die Natur, die früher Ziel, Bild und Vorbild, Wand und Grenze der Welt war, wird dem Europäer zur Formel, zum Werkzeug. Wenn wir heute auf der festen Erde gehen, ist es ein andres Gehen.

Was wir heute tun sollen?

Wir müssen wie der reiche Jüngling alles verlassen, alle alten Erb- und Reichtümer verschenken, wenn wir dem einen fernen Ziel, der Typusvollendung und Freiheit des Europäers zustreben wollen.

Von nun an wird zwischen dem Heute und Gestern stets der verzehrende Brand des Krieges wie eine Weltscheide stehen. Er hat den Sinn, den guten Willen des alten, alternden Europa ad absurdum geführt; der grausige Hohn[172] dieses Jahres hat dem gutgläubigen Profetentum der europäischen Revisionisten und Reformler ein rasches, ungnädiges Ende bereitet und uns für immer vom alten Europa getrennt. Wir stehen auf der andern Seite, wir Wenigen, die Jünglinge, die der Rachen des Krieges an den fernen Strand gespien hat wie den murrenden Jonas. Laßt uns fortgehen, vorwärtsgehen, ohne zurückzublicken, daß wir kein Ärgernis geben und kein Ärgernis im Herzen mit uns nehmen über die, die der Krieg erschöpft hat, daß sie wie Kinder am Wege weinend stehen und nach Hause wollen, Frieden wollen, nichts wollen. Uns hat der große Krieg erfrischt und befreit.[173]


* ›Der hohe Typus‹ (Wende 1914/15)

Nach handschriftlicher Kopie von Maria Marc in Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum

Unveröffentlicht

Manuskript verschollen


Quelle:
Franz Marc: Schriften. Köln: DuMont, 1978.
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