[Was ist des Menschen Zeit und Leben/ als ein Tag]

[24] Was ist des Menschen Zeit und Leben/ als ein Tag/

Der einer düstren Nacht bey nahe gleichen mag;

Der Morgen geht dahin/ eh des Verstandes Licht

Sich von der Finsternis der jungen Jahr entbricht.

Der kurtze Mittag schließt den zweifelhafften Schein

Der Ehren und des Glücks in enge Schrancken ein/

Ein früher Abend raubt unfehlbar Sonn und Licht/

Daß auch der Morgen offt und Mittag unterbricht/[24]

Auff diesen Abend folgt des Grabes schwartze Nacht.

Wohl dem/ der so den Tag des Lebens zugebracht/

Daß er die stille Nacht in süsser Ruh verschließt/

Und frölich mit der Zeit den andern Morgen grüßt/

Der einen ewigs Licht und Leben hoffen heist/

Den andern in das Reich der steten Nacht verweist.

O Licht/ von welchem ich empfangen Schein und Licht/

Mein Morgen weiß ohn dich von keinem Lichte nicht/

Mein Mittag muß ohn dich seyn düstre Mitternacht/

Mein Abend wird ohn dich in Schrecken zugebracht/

Drauff folget eine Nacht/ die mir in Ewigkeit

Mit schwerer Finsternis und trüben Schatten dräut.

Der Morgen ist nunmehr durch deine Gunst vorbey/

Darinn kein Augenblick von finstren Wercken frey/

Dieselben laß/ verbannt vor deinem Angesicht/

In stete Finsterniß/ mich weiter schrecken nicht;

Den Mittag meiner Zeit und Jahre tret ich an/

Gieb/ daß ich von dir Licht und Sonne schöpffen kan/

Daß sich mein Auge lenckt nach deiner Lehre Pol/

Biß ich den eitlen Glantz der Welt gesegnen soll/

Und von der trüben Nacht des Todes unerschreckt/

Zur frohen Ewigkeit von dir werd aufferweckt.


Quelle:
Hans Aßmann von Abschatz: Poetische Übersetzungen und Gedichte. Bern 1970, 2, S. 24-25.
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