Sie beklagt sich, daß er sich vor ihr verborgen

[142] 1

Wo ist der Liebste hingegangen,

Der meine Seele hält gefangen,

Der mir mein Herz genommen hat?

Wo ist die Sonne der Betrübten,

Wo ist der Leitstern der Verliebten,

Der mich getröstet früh und spat?


2

Ich geh vom Abend bis zum Morgen

In großem Kummer, großen Sorgen

Daß ich nicht seh sein Angesicht.

Ich ängste mich in meinem Herzen,

Ich leide Pein und große Schmerzen,

Daß mir mein liebster Schatz gebricht.
[142]

3

Wer gibt mir, daß ich ihn geschwinde,

Wie ich begehr, erblick und finde

Und unzertrennlich bei ihm sei?

Wer will mir, um mich zu erheben,

Der Morgenröte Flügel geben,

Daß ich ihn suche frisch und frei?


4

Ist er im Haus der Ewigkeiten,

Mir eine Wohnung zu bereiten,

So mach ers bald und säum sich nicht.

Ich werde sonst vor Leid verderben

Und gleich wie ein Verliebter sterben,

Wo es in kurzem nicht geschicht.


Quelle:
Angelus Silesius: Sämtliche poetische Werke in drei Bänden. Band 2, München 1952, S. 142-143.
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