Sie beklagt sich wegen ihrer langen Pilgramschaft

[145] 1

Wer macht mich denn noch quitt und frei,

Daß ich bei Jesu sei?

Daß ich sehe meine Sonne,

Daß ich schmecke meine Kost,

Daß ich fühle meine Wonne,

Daß ich höre meine Lust,

Daß ich rieche den Geruch,

Der verjaget allen Fluch!


2

Ich wall auf Erden hin und her,

Gleich wie ein Schiff im Meer.

Mich verlanget einzulaufen

In den sichern Seelenport,

Da man Friede findt mit Haufen

Und sich fürcht vor keinem Mord.

Mich verlangt mit großer Pein,

Jesu Christ, bei dir zu sein.


3

Ich wende mich zwar für und für,

Mein Leitstern, Herr zu dir;

Aber ach, was hilft mein Wenden

Und was minderts meine Pein,

Wenn ich noch nicht soll vollenden

Meine Fahrt und bei dir sein!

Ach, daß ich doch bin behaft

Mit so langer Pilgramschaft!
[146]

4

Es tröstet mich zwar deine Treu,

Die alle Morgen neu;

Aber dennoch hat die Seele

Nicht vollkommne Fröhlichkeit,

Weil ihr in der Trauerhöhle

Mangelt deine Herrlichkeit,

Weil sie einzig und allein

Wünschet bei dir selbst zu sein.


5

So hilf mir doch genädig fort,

Mein Leitstern und mein Port.

Komm und mach es nicht mehr lange,

Denn ich seufze wie die Braut,

Der nach ihrem Bräutgam bange,

Welchem sie sich hat vertraut.

Hole mich erfreulich ein,

Laß mich ewig bei dir sein.


Quelle:
Angelus Silesius: Sämtliche poetische Werke in drei Bänden. Band 2, München 1952, S. 145-147.
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