Sie singt ihm das Lied der Jungfrauen Mariae

[176] 1

Meine Seel macht groß den Herrn,

Preist und rühmt ihn weit und fern,

Und mein Geist springt auf vor Freuden

Ob dem Heiland meiner Leiden.


2

Weil er die Demütigkeit

Seiner Magd hat benedeit,

Schau, nun wird mich selig preisen

Alls Geschlecht auf allen Kreisen.


3

Denn er hat mir groß getan,

Dessen Macht man betet an,

Dessen Name heilig nennet,

Wer ihn nur von ferne kennet.


4

Seines Herzens Gütigkeit

Läßt er spüren weit und breit

Über alle, die ihn ehren

Und mit Furcht sein Wort anhören.
[176]

5

Seines Armes Stärk und Macht

Hat er nun recht angebracht,

Hat zerstreut die stolzen Sinnen,

Daß sie sich nicht rühmen können.


6

Was sich selbst setzt auf den Thron,

Stürzet er und stößt davon.

Aber was in Demut lebet,

Nimmt er auf, hälts und erhebet.


7

Er erfüllt und machet satt

Alles, was nur Hunger hat,

Läßt hergegen leer gehen,

Die sich dünken wohl zu stehen.


8

Er vergißt zur rechten Zeit

Nimmer der Barmherzigkeit,

Denn er hat vom Tal bis oben

Israel, sein Kind, erhoben.


9

Wie er unsrer Väter Schar,

Abraham und allen gar,

Daß es nie soll sein gebrochen,

Bis auf ewig hat versprochen.


10

Ehr sei Vater, Sohn und Geist,

Allen dreien gleich erweist,

Wie es war und jetzt ist eben

Und wird sein im ewgen Leben.

Quelle:
Angelus Silesius: Sämtliche poetische Werke in drei Bänden. Band 2, München 1952, S. 176-177.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Lessing, Gotthold Ephraim

Miß Sara Sampson. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen

Miß Sara Sampson. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen

Die tugendhafte Sara Sampson macht die Bekanntschaft des Lebemannes Mellefont, der sie entführt und sie heiraten will. Sara gerät in schwere Gewissenskonflikte und schließlich wird sie Opfer der intriganten Marwood, der Ex-Geliebten Mellefonts. Das erste deutsche bürgerliche Trauerspiel ist bereits bei seiner Uraufführung 1755 in Frankfurt an der Oder ein großer Publikumserfolg.

78 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.

434 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon