Sie wünscht alles zu sein ihrem Jesu

[184] 1

Ach, wer gibt mir noch auf Erden

Engelssitten und Geberden?

Daß ich meinem Bräutigam,

Der von königlichem Stamm,

Wohl geschmücket in die Höh,

Wenn er kommt, entgegen geh.


2

Meine Seele wünscht, vor allen

Ihrem Jesu zu gefallen,

Und darum begehrt sie ihr

Aller Dinge Pracht und Zier,

Daß sie ihme möcht allein

Aller Schönheit Ausbund sein.
[184]

3

Wenn sie schauet in den Maien,

Daß die Wiesen sich verneuen

Und so fein und wunderschön

Die beblümten Felder stehn,

So verlangt sie ihm zu sein

Eine Welt voll Blümelein.


4

Ach, ach, spricht sie, möcht ich werden

Wie die bunte Frühlingserden!

Möchte doch mein Herz allein

Hunderttausend Rosen sein

Und die Brust wie Lilien weiß,

Das vor allem hat den Preis.


5

Oder wär ich wie Narcissen

Bei den stillen Wasserflüssen!

Oder wie ein Hyazinth,

Den man himmelfarben findt!

Und wie niedrige Violn,

Die man muß im Grase holn.


6

Oder wär ich wie ein Garten

Voll Gewürze bester Arten!

Daß mein Jesus für und für

Sich ergötzen könnt in mir

Und mit Lust stets bei mir sein,

Wie in einem ewgen Mai‘n.


7

Ofte wünsch ich aller Dingen

Wie ein edler Brunn zu springen.

Ofte wünsch ich, daß ich wär

Eine See und ganzes Meer,

Voller Gottes Süßigkeit,

Ihme zur Ergötzlichkeit.
[185]

8

Ach, wer wird mein Herz bereiten,

Daß es sei zu allen Zeiten

Wie die Sänfte Salomons

Und die Wonne seines Throns,

Wie sein Bett, um dessen Pracht

Sechzig Starke halten Wacht.


9

Oder daß ich ihn erfreue

Wie Jerusalem, das neue.

Oder wie ein Paradeis,

Das von keiner Unruh weiß.

Oder wie ein schöner Saal,

Den man lobet überall.


10

Oder wie ein Flammenwagen,

Den die Seraphine tragen.

Oder wie ein güldner Schrein,

Oder wie Karfunkelstein.

Oder wie die Perlen sind,

Welche man im Aufgang findt.


11

Endlich wünsch ich mir, zu haben

Solche Heiligkeit und Gaben

Wie die Jungfrau und die Braut,

Die dem Joseph war vertraut,

Daß das ewge Wort in mir

Jesus würde, wie in ihr.


12

O du Geist der großen Güte,

Überschatte mein Gemüte,

Denn auch ich bin deine Magd,

Die von Herzen zu dir sagt:

Mir gescheh nach deinem Wort

Immer und in jedem Ort.
[186]

13

Komm doch, Jesu, mein Verlangen,

Laß mich meine Seel umfangen,

Daß sie dich gebär in ihr

Und frohlockend über dir

Sich erfreue nach der Zeit

In der süßen Ewigkeit.

Quelle:
Angelus Silesius: Sämtliche poetische Werke in drei Bänden. Band 2, München 1952, S. 184-187.
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