Sie vergleicht ihren Jesum einer Nachtigall

[254] 1

Nachtigall, wenn dein Gesang

Mit so angenehmem Klang

Durch den Wald erschallet,

So gedenk ich ans Getön,

Das aus Jesu Mund so schön

Mir zu Trost erhallet.
[254]

2

Ich gedenke, wie er sich

So verliebt und inniglich

Auf das Kreuz geschwungen

Und mir sieben Liedelein

In der größten Hitz und Pein

Lieblich hat gesungen.


3

Erstlich sang er, daß mir Gott

Sollte seine Pein und Tod

Ewiglich verzeihen

Und, weil ich aus Unverstand

Ihm dies Leiden zugewandt,

Mir Genad verleihen.


4

Drauf fing er ganz lieblich an:

Heute werd ich dir die Bahn

Voller Rosen streuen.

Heut wirst du im Paradeis

Gott und mir zu ewgem Preis

Dich mit mir erfreuen.


5

Drittens sang er: daß die Brust

Seiner Mutter mir die Kost

Sollt als Sohne geben.

Und ich sollt auch als ein Sohn

Diesem, seiner Weisheit Thron,

Stets gehorsam leben.


6

Drauf schrie er sehr klägelich:

Gott, mein Gott, wie läßt du mich[255]

So verlassen leiden.

Daß mir sollte kundbar sein,

Wie er alle diese Pein

Litt ohn Trost und Freuden.


7

Weiter sang er tröstlich fort

Und ließ mich das goldne Wort,

Daß ihn dürste, hören.

Daß ihn dürstete nach mir

Vor so inniger Begier,

Wollt er mich da lehren.


8

Dann sang er: es ist vollbracht,

Satan ist mit seiner Macht

Endlich überwunden.

Deine Schulden, meine Braut,

Sind bezahlt mit meiner Haut,

Du bist losgebunden.


9

Drauf gab er matt und verwundt

Seinen Geist mit süßem Mund

In des Vaters Hände,

Daß auch ich so sollte tun

(Wenn ich selig wollte ruhn)

An dem letzten Ende.


10

Dieses hat mit wertem Schall

Meine liebste Nachtigall,

Jesus, mir gesungen.

Und aus diesem seinem Lied

Ist mir Trost, Freud, Ruh und Fried

Ewiglich entsprungen.
[256]

11

Drum erfreuet mich es bald,

Wenn ich höre durch den Wald,

Nachtigall, dich singen.

Sing, du schöne Sängerin,

Denn du machst mir Herz und Sinn

In dem Herrn aufspringen.

Quelle:
Angelus Silesius: Sämtliche poetische Werke in drei Bänden. Band 2, München 1952, S. 254-257.
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