Klage

[14] 1798.


Was wehst du, süße Himmelsluft,

Um meine frischen Locken?

Was streut ihr, Zweige, Balsamduft

In weißen Blütenflocken?

Was flötest du, o Nachtigall,

Der Minne Freud' mit süßem Schall?

Was klingt in frohen Wellen

Ihr, kleine Murmelquellen?


Die Rose blüht, das Wasser rauscht

Im Frühlingsklange hinnen,

Die Jugend spielt am Bach und lauscht

Mit süßbetörten Sinnen –

O holde Jugend, bald verbleicht

Die Blum' am Bache, bald entfleucht

Der Liebe Zauberkehle

Den Büschen, Philomele.
[14]

Der Pflüger mit dem Lerchensang

Begrüßt den Tau der Frühe,

Der Schnitter geht im Sensenklang

Gebückt den Tag der Mühe;

Dann schwellt ihm die beklommne Brust

Erinnrung der entflohnen Lust,

Er fühlt des Lebens Narben

Und weint auf seine Garben.


Des Lebens Schöne ist ein Traum.

So klingt der Weisen Klage:

Er spielet um der Wiege Flaum

Mit goldnem Flügelschlage,

Wird dann zum heißen Mittagswind,

Daß Schweiß uns von der Stirne rinnt,

Und stürmt zuletzt in Flocken

Um unsre grauen Locken.


Doch manche holde Blume sinkt

Auch in dem Lenz der Tage,

Des grausen Schnitters Sense blinkt

Mit jedem Glockenschlage,

Sie mäht den Jüngling und den Greis,

Die Jungfrau mit dem Myrtenreis

Und bleicht die zarten Züge

Des Kindleins in der Wiege.

Quelle:
Ernst Moritz Arndt: Werke. Teil 1: Gedichte, Berlin u.a. 1912, S. 14-15.
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