Das Leiden des Herren

[134] Fliegendes Blat.


Christus, der Herr im Garten ging,

Sein bittres Leiden bald anfing,

Da trauert Laub und grünes Gras,

Weil Judas seiner bald vergas.


Sehr fälschlich er ihn hinterging,

Ein schnödes Geld dafür empfing,

Verkaufte seinen Gott und Herrn,

Das sahen die Juden herzlich gern.


Sie gingen in den Garten hin,

Mit zornigem und bösem Sinn,

Mit Spieß und Stangen die lose Rott,

Gefangen nahmen unsern Gott.


Sie führten ihn ins Richters Haus,

Mit scharfen Striemen wieder raus,

Gegeiselt und mit Dorn gekrönt,

Ach Jesu! wurdest du verhöhnt.


Ein scharfes Urtheil sprachen sie,

Indem der ganze Haufe schrie:

»Nur weg, nur weg, nach Golgatha,

Und schlagt ihn an das Kreuze da.«


Er trägt das Kreuz, er trägt die Welt,

Er ist dazu von Gott bestellt,

Er trägt es mit gelaßnem Muth,

Es strömet von ihm Schweis und Blut.[134]


Erschöpfet will er ruhen aus,

Vor eines reichen Juden Haus,

Der Jude stieß ihn spottend weg,

Er blickt ihn an, geht seinen Weg.


Herr Jesus schwieg, doch Gott der bannt

Den Juden, daß er zieht durchs Land,

Und kann nicht sterben nimmermehr,

Und wandert immer hin und her.


Ans Kreuz sie hingen Jesum bald,

Maria ward das Herze kalt:

»O weh, o weh! mein liebstes Herz,

Ich sterb zugleich von gleichem Schmerz.«


Maria unterm Kreuze stund,

Sie war betrübt von Herzens-Grund,

Von Herzen war sie sehr betrübt

Um Jesum, den sie herzlich liebt.


»Johannes, liebster Jünger mein,

Laß dir mein' Mutter befohlen seyn,

Nimm sie zur Hand, führ sie von dann,

Daß sie nicht schau mein Marter an.«


»Ja, Herr, das will ich gerne thun,

Ich will sie führen allzuschön,

Ich will sie trösten wohl und gut,

Wie ein Kind seiner Mutter thut.«


Da kam ein Jud und Höllenbrand,

Ein Speer führt er in seiner Hand,

Gab damit Jesu einen Stoß,

Daß Blut und Wasser daraus floß.[135]


Nun bück dich Baum, nun bück dich Ast,

Jesus hat weder Ruh noch Rast;

Ach traure Laub und grünes Gras,

Laßt euch zu Herzen gehen das!


Die hohen Berge neigten sich,

Die starken Felsen rissen sich,

Die Sonn verlor auch ihren Schein,

Die Vöglein ließen ihr Rufen und Schreyn.


Die Wolken schrien Weh und Ach!

Die Felsen gaben einen Krach,

Den Todten öffnete sich die Thür,

Und gingen aus den Gräbern für.


Quelle:
Achim von Arnim und Clemens Brentano: Des Knaben Wunderhorn. Band 1, Stuttgart u.a. 1979, S. 134-136.
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