2.
Der Lehrer.

[219] Der Lehrer im Dorfe war ein heller Kopf, dabei aber heftig; seine Neigung und sein Haupttalent war die Musik. Er hatte wenig Einfluß auf Ivo, wie dieß ein einzelner Mann bei hundertzwanzig Kindern auch sonst nicht wohl haben konnte. Der beste Lehrer Ivo's, wer sollte es denken! war der Nazi, der nicht schreiben und kaum lesen konnte.

Man nennt bei uns die Dienstboten »Ehhalten«, was ihre Bedeutung gar schön bezeichnet, und wie man sie schon in der Stadt das Unterschicksal des Familienlebens nennen kann, so sind sie das noch weit mehr im Dorfe, wo das ganze Leben des Hauses ein in Arbeit und Genuß gemeinsames ist. Weil nun in einer guten Haushaltung die Eltern und das Gesinde friedlich zusammenleben, kann man um so gefahrloser die Kinder den Einflüssen des Gesindes überlassen, da man sie genau kennt.[219]

Bei dem Nazi aber war gewiß nichts zu gefährden. Auf der Krippe und im Heuschober errichtete Nazi seinen Lehrstuhl, antwortete auf die eifrigen Fragen seines Zöglings oder erzählte ihm wunderbare Geschichten.

Nazi war am liebsten mit den Thieren zusammen, und wenn er auch mit ihnen reden konnte, und wenn besonders das Falb Menschenverstand hatte, man konnte doch keine rechte Antwort bekommen, so viel man auch redete; der Ivo aber konnte doch wenigstens einmal die Hände zusammenschlagen und »Ei Herr Jerem« rufen. So hatte Nazi den Knaben gern bei sich. Wie ein Füllen neben dem im Wagen eingespannten Pferde los und ledig einherrennt und allerlei Sprünge macht, so sprang Ivo immer neben dem Nazi einher, wo er auch hingehen mochte.

Wenn dann wieder die beiden auf dem Stroh saßen und Nazi die Geschichte vom Mockle1-Peter, vom Wacholdermännchen, oder von dem verwunschenen Fräulein von Isenburg erzählte, da bildeten die dumpfen Töne der fressenden Thiere eine schauerliche Begleitung zu der Rede Nazi's. Besonders die Geschichte vom Mockle-Peter, der den jungen Tannen, die noch bluteten, muthwillig die Kronen abriß und der als Baummörder in der Egelsthaler Halde geistet2,[220] so wie die Geschichte vom Wacholdermännchen, das ein graues und ein schwarzes Aug' hat, die jedes Jahr mit ihrer Farbe abwechseln, diese Geschichten mußte Nazi oft erzählen; denn die Kinder sind noch nicht so verwöhnt, daß sie immer was Neues haben wollen.

Bei diesen Wiederholungen hatte indes Nazi einen schweren Stand, denn sobald er etwas nicht mehr genau wußte oder anders erzählen wollte, fiel Ivo ein: »ei das ist ja nicht so.« Dann hob ihn Nazi auf den Schooß und sagte: »du hast recht, ich kann mich nicht mehr so recht darauf besinnen. Narrle, es gehen mir noch viele andere Sachen im Kopf herum,« und dann erzählte Ivo mit großem Eifer den weitern Verlauf, so daß Nazi von der Gelehrigkeit seines Schülers entzückt war.

Oft aber sprachen auch die beiden über allerlei Lebensverhältnisse, von denen die Stadtkinder erst spät Einsicht und Kunde erhalten: von Reichtum und Armuth, Treue und Falschheit, Handel und dergleichen; denn das Leben im Dorfe ist stets ein offenkundiges, das Innere des Hauses ist Allen bekannt, groß und klein.

Einst ging Ivo mit seinem Vater vom Zimmerplatze nach Hause.

»Vater,« sagte er, »warum hat denn unser Heiland die Bäum' nicht viereckig gemacht, da braucht' man's ja auch nicht zu behauen?«[221]

»Warum? dummer Jung', da bräucht' man ja auch keine Zimmerleut' und hätt' auch keine Spän'.«

Ivo war still, und der Vater dachte darüber nach, daß der Bub doch eigentlich gar »gut gekopft« sei, und daß es unrecht sei, ihn so barsch anzufahren; er sagte daher nach einer Weile:

»Ivo, so Sachen fragt man in der Schul' den Lehrer oder den Herrn Pfarrer. Merk' dir das.«

Das war brav von Valentin. Nur wenige Eltern sind so gewissenhaft und so klug, diesen allein richtigen Ausweg aus ihrer etwaigen Unwissenheit zu ergreifen.

Ivo fragte aber nicht den Schullehrer und nicht den Pfarrer. Er ging zu Nazi und sagte: »Weißt du auch schon, warum unser Heiland die Bäum' nicht viereckig, gerade recht zum Bauholz gemacht hat?«

»Weil man die Bäum' zu noch viel mehr Sachen als zum Bauen braucht.«

Ivo stand verwundert da, das war noch eine andere Antwort.

Dadurch, daß Ivo sich so innig an Nazi anschloß, hatte er unter seinen Altersgenossen keinen Kameraden; dafür betrachtete ihn aber auch Nazi wie seinen Vertrauten, und wenn er ihn liebkoste, sagte er: »Du gute alte Seele!« In besonders gemüthlichen Stunden erzählte er ihm dann auch viel von seinem Hellauf, dem Hunde, den er früher als[222] Schäfer gehabt hatte, und der »gescheiter war als zehn Doktor«. »Ich sag' dir's,« beteuerte Nazi, »der Hellauf hat meine verborgensten Gedanken errathen; wenn er mich nume angesehen hat, hat er gleich gewußt, was ich will. Hast du schon einmal so einen Hund genau betrachtet? Die haben oft ein Gesicht, auf dem der Kummer ausgeschüttet liegt, grad' wie wenn es sagen thät: ich möcht' flennen, weil ich nicht mit dir schwätzen kann. Wenn ich meinen Hellauf so angesehen hab', da hat er gebellt und geheult und hat dabei die Augen zugedrückt, daß es mir durch die Seel' gangen ist. Wenn ich ihm nume ein bös Wörtle geben hab', hat er den ganzen Tag keinen Bissen gefressen, es war ein Thier, es war zu gut für diese Welt.«

»Kommen die Hund' auch in Himmel?« fragte Ivo.

»Ich weiß nicht, es steht nichts davon geschrieben,« erwiderte Nazi.

Besondere Freude machte es dann Nazi, daß auch Ivo eine so innige Liebe zu den Thieren hatte; denn ganz alte einsame Leute oder Kinder, die beide mit ihrer Liebe nicht recht wissen, wohin, wenden ihre Neigung den Thieren zu. Diese machen keine Ansprüche, man hat wenig Pflichten für sie, und besonders erfährt man von ihnen nie Widerspruch, welchen sowohl die alten als auch die jungen Kinder nicht leiden mögen.[223]

»So eine Sau ist doch ein arm's Thierle,« sagte Ivo einmal, »die ist doch nur auf der Welt, um gemetzget zu werden; die andern Thiere kann man doch auch noch lebig gebrauchen.« Nazi nickte vergnügt mit dem Kopfe. Nach einer Weile sagte er: »Es kann wohl sein, daß dessenthalben auch so eine Sau am ärgsten schreit und heult, wenn man's metzget.«

Durch mancherlei Fragen, Bemerkungen und Reden galt Ivo im ganzen Dorf als ein »unterhaltsamer, aufgeweckter Bub«. Niemand ahnte seinen Wecker. Der Schullehrer aber war unzufrieden mit ihm, weil er nie, wie es die Schulordnung verlangt, ruhig nach Hause ging, sondern stets tollte und schrie wie besessen. Die armen Kinder! sie müssen stundenlang in sich zusammengepreßt sitzen; wenn es dann endlich fortgeht, können sie nicht anders, sie müssen sich aufrütteln und frei in die Luft hinein jubeln. Darum ist es oft um elf Uhr, als ob das wilde Heer käme.

Niemand zweifelte, daß der Ivo einst ein tüchtiger Pfarrer würde, er war sonst fromm und gesittet. Der Valentin berühmte sich einst im Adler, sein Ivo werde des Hansjörgs Peter und des Johannesle's Constantin noch weit überholen.

Dazu hatte es indes noch Zeit.

1

Tannzapfen.

2

Als Geist umgeht.

Quelle:
Berthold Auerbach: Gesammelte Schriften, 2. Gesammtausgabe, Band 1, Stuttgart 1863, S. 219-225.
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