Viertes Kapitel.

[18] In Jerusalem, der heiligen Stadt, war Elend, Jammer und Noth, wie's nie erhört worden war, und nie wird erhört werden. Denn sie war verworfen von dem Herrn, seit sie des Gerechten Blut vergossen. Die Heiden umlagerten sie bereits schon zwei Jahre lang, und drängten sie immer mehr, und warfen ihre Mauern darnieder, und tödteten ihr Volk, das auserwählte, das der Herrn verworfen. Und es war Wehgeschrei und lautes Jammern in den Häusern und auf den Gassen; und der Hunger wüthete so sehr in ihren Eingeweiden, daß die Mutter ihr eigenes Kind schlachtete und es aufzehrte... Ahasverus sah den Jammer, aber er rührte sein Herz nicht. Er sah Tausende zu seiner Linken hinsinken, und Tausende zu seiner Rechten, aber er schritt über die Erschlagenen hin, und zwischen die Schwerter der Feinde, wie ein Gespenst, das weder dem Leben noch dem Tode angehört. Er suchte den Tod, und fand ihn nicht; er suchte sich vom Leben zu befreien, und er konnte es nicht von sich schleudern; denn wie eine Schlange umwand es ihn, und er fühlte es nur an dem Schmerz seiner giftigen Bisse. Als nun die Zeit der Rache vollendet war, und die Heiden bis in das Innerste der Stadt gedrungen und an das Allerheiligste, den Tempel, Feuer angelegt, das ihn verzehrte; und als nun Ahasverus auf den Trümmern der eingeäscherten Stadt stand und zwischen Leichenhügeln seiner erschlagenen Brüder, da raufte er sich die Haare aus und er jammerte und fluchte, daß er allein nur übrig bleiben mußte in der allgemeinen Verwüstung, und daß er nicht sterben könne... Und wie die heidnischen Kriegsknechte ihn nun ergriffen und banden, ließ er sich ohne Widerstand abführen; und so ward er denn nebst einigen Tausenden, die vom Gemetzel verschont geblieben, gefangen nach Rom geschleppt.

Quelle:
Ludwig Aurbacher: Ein Volksbüchlein. Band 1, Leipzig [um 1878/79], S. 18-19.
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