Sechstes Kapitel.

[21] In der folgenden Nacht kamen die Gläubigen, um in aller Stille die Leichname der Heiligen hinweg zu tragen und zu begraben. Und ein frommer Mann nahm auch Ahasverum auf seine Schulter, und trug ihn von dannen in eine der unterirdischen Grüfte von Rom, wo die Gläubigen ihre Todten begruben, und bei den Gräbern der Märtyrer ihren Gottesdienst hielten. Und das versammelte Volk stimmte heilige Gesänge an, und sie lobten Gott und den er zum Heile der Welt gesandt, Jesum Christum, und sie priesen selig Alle, die für seinen Namen gestorben und die Krone der Zeugschaft erhalten haben. Unter den Gebeten und Lobgesängen erwachte Ahasverus; er richtete[21] sich auf unter den Todten, die umher lagen, und er rief mit herzzerschneidendem Jammer: »Ja wol selig die, welche gestorben sind in dem Herrn. Aber ach, mich Unglücklichen verfolgt das Leben, denn es ist sein Fluch!« Die Gläubigen erbebten vor seiner Stimme, und jener fromme Mann, der ihn dahin getragen – es war der Priester der Gemeine, und sein Angesicht leuchtete, wie das Angesicht eines Engels – der trat zu ihm und tröstete ihn, und fragte ihn, als ob er ihn kennete: »Ahasvere, glaubst du an Christum?« Ahasverus verbarg sein Antlitz, und antwortete mit dumpfer Stimme: »Ich glaube und – zittere.« Der fromme Priester aber ließ nicht ab, ihn zu trösten, und er sagte: »Ahasvere, hast du eine schwere Sünde begangen an dem Herrn, so verzweifle nicht an seiner Gnade. Er hat verziehen der Sünderin Magdalena, und dem Jünger, der ihn verläugnet. Und als er auf Golgatha am Kreuze sterbend hing, betete er noch für seine Peiniger, sagend: Herr, verzeih ihnen, denn sie wissen nicht, was sie thun. Und zu dem Mörder, der neben ihm am Kreuze hing, und der vertrauend an ihn glaubte, sagte er: Heute wirst du noch mit mir im Paradiese sein!« Ahasverus aber sagte: »So hat er denn Allen verziehen, nur mir nicht; auf mir allein noch ruht sein Fluch, seine Strafe; drum so muß ja meine Schuld größer sein, als die Schuld Aller, und für mich ist kein Erbarmen, kein Tod, bis daß er kommen wird.« Bei diesen Worten verließ er die Versammlung der Gläubigen, und verschwand aus Rom und floh alle Gegenden, wo das Kreuz gepredigt wurde.

Quelle:
Ludwig Aurbacher: Ein Volksbüchlein. Band 1, Leipzig [um 1878/79], S. 21-22.
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