Zehntes Kapitel.

[26] Die Wüste von Thebais war zur damaligen Zeit bewohnt von vielen Tausenden frommer Eremiten, welche hier, in gänzlicher Entfernung von der Welt und ihren Freuden, Gott dienten im Gebet und in Betrachtung. Dahin kam Ahasverus, und da sein Inneres reiner und stiller geworden war, so fand er sogleich Behagen in dieser äußern Umgebung. Denn er sah, wie diese gottesfürchtigen Männer auf der Welt lebten, ohne in der Welt zu leben; daß sie das Leben selbst nur als eine schwere Bürde ansahen, die ihnen Gott zu tragen auferlegt, bis daß Er komme – als eine immerwährende Vorbereitung zum Tode, ja als den Tod selbst, um des höhern, des ewigen Lebens sich würdig zu machen; und daß sie endlich dessen ungeachtet mit Geduld in diesem Elend ausharrten, und voll Hoffnung lebten auf die Zukunft des Herrn. Das Beispiel dieser frommen Männer, ihre stille Lebensweise und ihre einfältige Denkungsart wirkten wohlthätig auf ihn ein, und er wurde von Jahr zu Jahr ergebener in sein Schicksal. Er diente den Brüdern, die weit und breit zerstreut lebten in abgesonderten Hütten, besonders den Altvätern, die der Aufsicht pflegten über die jüngern Brüder, und befliß sich in allen Dingen der treuesten Ausrichtung. Doch ließ er sich nie mit Je mand in eine Unterredung ein; auch ihre Versammlungen vermied er, und nahm keinen Theil an ihrem Gottesdienste. Er verhehlte den Obern nicht, die ihn deshalb zur Rede stellten, daß er ein Jude sei, und daß er keine Gemeinschaft haben könne mit den Christen. Denn, obwol Ahasverus allmählich durch die Gnade Gottes, die ihn bei so vielfältigen wunderbaren Ereignissen ergriffen und getrieben hatte, von seinem trotzigen Stolze geheilt und zur Erkenntniß seiner selbst, zur Demuth geführt worden war, so fehlte es ihm doch noch am Glauben – an dem lebendigen Glauben an Jesum Christum, in dem allein das wahre Heil, der wahre Friede zu finden ist.

Quelle:
Ludwig Aurbacher: Ein Volksbüchlein. Band 1, Leipzig [um 1878/79], S. 26-27.
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