2. Die blauen Berge.

[42] Unfern vom Gebirge lebte eine stille, fromme Gemeinde. Die Menschen nährten sich von den Früchten der Erde, die sie bauten, und von der Milch der Thiere, deren sie pflegten; und was sie aßen und tranken, das geschah in Zufriedenheit und mit Danksagung. Jeden Morgen besonders zogen sie hinaus ins Freie; und, mit dem Antlitz gen Osten gewandt, beteten sie zu dem unsichtbaren Gott, der ihnen aus den schönen, blauen Bergen die Sonne herauf führte, und die Wasserströme darnieder stürzen ließ, um ihre Aecker und Weiden zu tränken, und dessen Wetterstürme donnerten und leuchteten voll majestätischer Pracht.

Es war aber ein Mann in der Gemeinde, den es gelüstete, sich näher umzusehen in den Bergen, und die Geheimnisse des Sonnenscheines, und der Wasserströme, und der Winde und Wetter zu erforschen. Und er ging eines Tages fort, und that, wie ihm sein Geist zu gebieten schien. Nach einiger Zeit kehrte er wieder zurück, und er sprach vor der versammelten Gemeinde: Was ihr, liebe Leute, bisher von den blauen Bergen dort und dem Gotte oben gemeint und geglaubt habt, dem ist nicht also, und ihr seid in großem Irrthum. Ich habe Alles in der Nähe besehen, und ganz anders befunden. Die Berge, die euch so schön blau her scheinen, sind eitel schroffiges, unfruchtbares Gestein; und die Gewässer, die aus ihren Schluchten herabschießen, sind wilde, verheerende Gießbäche, und die Winde und Wetter sind natürliche Lufterscheinungen, die[42] sich von selbst erzeugen und wieder zerstören. Und die Sonne, die geht weit, weit hinter jenem Gebirge auf; und von einem Gott, wie man gefabelt, ist nirgends nichts zu sehen in den blauen Bergen.

Die Gemeinde stutzte ob der Rede des Mannes, den sie als einen Wissenden verehrten. Und einige sagten voll Unmuth: So haben uns denn unsere Väter bethört, daß wir Mährlein glaubten als wahrhaftige Dinge! Und sie gingen seit der Zeit nicht mehr hinaus, daß sie zu Gott beteten, der die Wunder verrichtete in den blauen Bergen; und sie arbeiteten von nun an verdrossen und lebten unter einander in Unfrieden. Viele unter ihnen aber gingen nun selbst in die Berge, um zu schauen, was zu glauben wäre; und sie müdeten sich vergebens ab im Auf- und Niedersteigen, und manche fielen in die Abgründe oder verirrten sich in dem weiten Gebirge, wo sie vor Hunger umkamen. Nur ein alter Mann in der Gemeinde achtete nicht der Rede des Wissenden, sondern glaubte an das, was seine Väter ihm gesagt von den blauen Bergen und dem Gotte, der darin wohne; und er ging täglich, nachwie vorher, hinaus ins Freie und betete da, mit dem Antlitz gen Osten gewandt, zu dem Unsichtbaren, der ihm die Sonne heraufführte, und die Wasserströme niederstürzen ließ, und dessen Wetterstürme donnerten und leuchteten in den blauen Bergen. Und wenn er also gebetet hatte voll der Andacht und des Glaubens, da ging er jederzeit gestärkt an sein Tagwerk, und die Arbeit seiner Hände war gesegnet und jeder Wunsch seines Herzens gestillt.

Quelle:
Ludwig Aurbacher: Ein Volksbüchlein. Band 1, Leipzig [um 1878/79], S. 42-43.
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