112. Das Bruderthal.

[100] Eine halbe Stunde von Kuhbach stand ehemals, im abgelegenen Bergwald, eine Kapelle und darin ein Gnadenbild Maria's mit dem Heiland auf dem Schooße. Bei[100] der Kapelle war die Hütte eines Einsiedlers, und unweit davon eine klare Quelle. Dieser Ort, das Bruderthal genannt, gehörte dem Kloster Schuttern, zu dem ein anderthalbstündiger Weg führte, der noch jetzt der Bruderpfad heißt. Auf demselben ging einer der Einsiedler jeden Sonn- und Feier-Tag nach Schuttern in die Frühmesse, und wenn es noch dunkel war, lief eine von einem hellen Schein umstrahlte Hirschkuh vor ihm her und leuchtete ihm bis zu Tagesanbruch.

Daß das Wasser der Quelle Augenkrankheiten heile, hörte ein katholischer Knecht in Lahr, welcher an einem solchen Uebel litt. Er sagte es seinem Herrn, einem lutherischen Kaufmann, und bat ihn um Erlaubniß, in das Bruderthal zu wallfahren. »Gehe hin, Dummkopf, und wasche deine Augen und auch die meines blinden Schimmels, den du mitnehmen kannst!« erwiederte spottend der Kaufmann. Hierdurch nicht irre gemacht, ging der Knecht noch am nämlichen Tag mit dem Pferd an den Gnadenort, wo ihm eine arme Frau die Quelle zeigte. Mit dieser wusch er sich und dem Schimmel mehrmals die Augen und bat dann die Frau, die Pilgerfahrt für ihn, der dazu keine Zeit habe, noch zweimal zu machen, was sie auch, gegen einen kleinen Lohn, übernahm. Auf dem Heimweg ward das Pferd sehend, und als dies der Knecht zu Hause voll Freude meldete, sprach sein Herr: »Ja, ja, der Schimmel sieht, ich aber bin dafür blind.« Er hatte nämlich, zur Strafe für seinen Spott, plötzlich und auf immer das Augenlicht verloren. Als die Frau die zwei Wallfahrten für den Knecht gethan hatte, war derselbe von seinem Uebel völlig befreit.

Nach der Aufhebung des Klosters Schuttern stellte der dortige Pfarrer die Andacht im Bruderthal ein, wo[101] längst kein Einsiedler mehr wohnte. Das Gnadenbild ward nach Kuhbach, auf den Speicher des Schulmeisters, gebracht, aber es wollte daselbst nicht bleiben und gab dies dadurch zu erkennen, daß es jeden Morgen an der Treppe stand. Da verkaufte man es nach Mühlenbach, wo es in der Kirche einen würdigen Platz erhielt.

Der Verfall der Kapelle wurde dadurch beschleunigt, daß die Leute aus der Nachbarschaft davon Steine zum Bauen holten. Einst hatten die Kuhbacher wieder viele auf einen Wagen geladen, unter denen ein viereckiger Stein mit einem ausgehauenen Christuskopf war. Denselben wollte aber keiner der angespannten acht Ochsen fortführen, und erst als er abgeladen und wieder in die Kapelle gethan war, gingen sie von der Stelle. Da auf diesen Vorgang die Pilgerfahrten sich erneuerten, ließ der Amtmann nachts den Stein nach Seelbach holen, (was ohne Schwierigkeit mit einem Pferde geschah) und ihn in dem Keller des Amthauses unter Schloß und Riegel legen.

Nachdem der Pfarrer von Schuttern die Wallfahrt, wie erwähnt, aufgehoben hatte, war er in eine langwierige Krankheit gefallen, die kein Arzt erkennen und heilen konnte. Schon dem Tod entgegensehend, erhielt er von einem frommen Mann den Rath: die Andacht wieder zu erlauben, wegen deren Abstellung er wahrscheinlich mit der Krankheit heimgesucht worden sei. Er befolgte diesen Rath, ließ auch die Ueberbleibsel der Kapelle mit einem hölzernen Dach versehen und stellte sie unter den Schutz des Waldhüters. Da ward er von Stunde an besser und endlich wieder vollkommen gesund.

Schnell nahm nun die Andacht zu, und um sie noch mehr zu heben, wurde beschlossen, die Kapelle an die[102] Straße zu verlegen. Man brach sie demnach ab und führte das Holz auf den neuen Bauplatz. Aber dreimal trugen die Engel es nachts von da an die vorige Stelle, worauf hier die Kapelle aufgeführt, und ein Standbild Maria's mit ihrem Kind auf dem Arme darin aufgestellt ward. Auch den Stein mit dem Christuskopf gab die Wittwe des Seelbacher Amtmanns zurück, da mit ihm stetes Unglück in ihr Haus gekommen war. Er ist jetzt außen an der Kapelle eingemauert, welche wieder, wie vormals, mit manchfaltigen Wundern leuchtet.

Quelle:
Bernhard Baader: Volkssagen aus dem Lande Baden und den angrenzenden Gegenden. Band 1, Karlsruhe 1851, S. 100-103.
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